«Die Araber haben ein Recht auf Demokratie»

Sein Tod sorgte für weltweites Entsetzen: Vergangenen Oktober wurde der Journalist Jamal Khashoggi ermordet. Im April davor hielt er einen seiner letzten Vorträge.

Von Jamal Khashoggi, 05.01.2019

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Vorwort der Redaktion

Der saudische Journalist und Regime­kritiker Jamal Khashoggi wurde am 2. Oktober 2018 im Konsulat seines Heimatlandes in Istanbul ermordet. Mittlerweile hat in Riad der Prozess gegen elf Verdächtige begonnen, in fünf Fällen fordert die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe.

Wir geben hier einen der letzten Vorträge von Khashoggi wieder. Der Text erschien in deutscher Erstveröffentlichung in der Dezember­ausgabe der «Blätter für deutsche und internationale Politik» und basiert auf einer Rede, die Jamal Khashoggi am 26. April 2018 auf einer Konferenz des Center for Middle East Studies der Universität Denver und des Center for the Study of Islam and Democracy in Washington gehalten hat. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Steffen Vogel.


Ich komme aus Saudiarabien, wo Demokratie und Islam sehr relevante Themen sind. In der Vergangenheit war es so: Wollte ein saudischer Regierungs­vertreter die Debatte über die Demokratie abwürgen, stellte er stets infrage, ob sie mit dem Islam vereinbar sei. Aber das hat sich mit dem Arabischen Frühling endgültig erledigt. Seinerzeit unterstützten die Menschen in der arabischen Welt die Proteste für einen demokratischen politischen Wandel. Das galt vor allem für die Jugend, aber sogar für die Islamisten, einschliesslich einiger Salafisten, die zuvor der Demokratie immer kritisch gegenüber­gestanden hatten. Andere Salafisten behielten diese Haltung allerdings bei. Sie betrachten die Demokratie nach wie vor als kufr oder unislamisch, weil sie in ihr eine Zurück­weisung religiöser Werte sehen.

Jamal Khashoggi

Wie andere bedrohte und ermordete Journalistinnen und Journalisten wurde Jamal Khashoggi vom Magazin «Time» zu den «Menschen des Jahres» gewählt.

Insgesamt jedoch zeigten die langen Schlangen, die sich 2012 vor den Wahl­lokalen in Tunesien und Ägypten bildeten, klar, dass die Menschen in der arabischen Welt bereit für den Wandel waren. Sie nahmen enthusiastisch an demokratischen Wahlen teil, und das schloss islamistische Parteien ein, die oft im Fokus standen, wenn es um die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ging. Diese Bilder aus Ägypten und Tunesien – von Männern und Frauen, Jungen und Alten, die zu den Urnen strömen – sollten wir jenen Schein­wahlen entgegenhalten, die wir heute in Ägypten und anderen Teilen der arabischen Welt sehen. Denn diese Bilder liefern uns ein Argument gegen all jene, die behaupten, «die Araber sind noch nicht bereit für die Demokratie».

Saudiarabien ringt heute mit verschiedenen Aspekten der Moderne: mit Kinos, Kunst und Unter­haltung, mit der Begegnung der Geschlechter, mit der Öffnung zur Welt und mit der Zurückweisung des Radikalismus. Der feste Griff des religiösen Establishments um das gesellschaftliche Leben löst sich schrittweise. Aber während sich die saudische Führung in all diesen Fragen modern zeigt, hat sie immer noch kein Interesse an der Demokratie. Sie bringt allerdings auch nicht mehr die alte, lahme Entschuldigung vor, die Demokratie sei nicht mit dem Islam vereinbar. Vielmehr sagt sie – wie Kronprinz Muhammad bin Salman im Frühjahr gegenüber «The Atlantic» –, die absolute Monarchie sei unsere bevorzugte Regierungsform.

Tatsächlich leben wir im Zeitalter des Autoritarismus. Manche Menschen halten ihn für das überlegene politische System. Sie argumentieren, Gesellschaften brauchten einen über­ragenden Anführer und die Demokratie würde diesen Anführer daran hindern, sein Volk in eine bessere Zukunft zu leiten. Wenn Sie heute in Riad, Kairo oder Amman mit Intellektuellen zu Abend essen, die einst als Liberale galten, die Freiheit, politischen Wandel und Demokratie unterstützten, werden sie sehr wahrscheinlich Folgendes zu hören bekommen: «Die Araber sind noch nicht bereit für die Demokratie.» Und wenn Sie dieses Argument zurückweisen, wird man Ihnen erklären: «Selbst wenn die Araber schon bereit für die Demokratie sind, so verstehen sie es doch nicht, davon Gebrauch zu machen. Sie treffen immer die falsche Wahl.» Ein verwandtes Argument lautet: «Die Islamisten und die Muslim­bruderschaft haben den Arabischen Frühling usurpiert.» In meinem Land ist folgende Variante geläufig: «Die Saudis wissen nicht, wie man wählt. Wenn wir eine Demokratie hätten, würden sie bei Abstimmungen nicht ihrem Gewissen folgen, sondern ihren Stammes­loyalitäten.»

Die Idee vom wohlwollenden Diktator

Überall in der arabischen Welt ist das Argument populär, dass wir starke Führer brauchen. Man hört es in Ägypten von einem Geschäfts­mann, der das herrschende Regime unterstützt. Man hört es von dubiosen Jordaniern, vielleicht sogar von dubiosen Tunesiern, die zurück zur alten Ordnung wollen. Selbst ein saudischer Freund von mir, der im Ausland aufgewachsen ist, verteidigt offen den Begriff der «wohlwollenden Autokratie». Er würde ihren Wert sogar in einer amerikanischen Tages­zeitung verteidigen und glaubt, dies sei für Saudiarabien die beste Wahl.

Das ist die alte Vorstellung vom mustabidu al-adl, dem gerechten Diktator, die eigentlich mit dem Aufstieg Abd al-Rahman al-Kawakibis gestorben war. Kawakibi war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein arabisch-muslimischer Reformer syrischen Ursprungs. Die arabischen und muslimischen Intellektuellen, die ihm folgten, unterstützten die Demokratie oder zumindest eine Form von ihr. Bedauerlicherweise erlebt jedoch die Idee eines wohlwollenden Autokraten, des gerechten Diktators, ein Revival in der arabischen Welt. Ein Chor anti­demokratischer – arabischer wie nicht arabischer – Stimmen erhebt sich in Medien und Lobby­organisationen gegen die Demokratie. Auf der internationalen Buchmesse in Riad im März, an der ich nicht teilnehmen konnte, soll ein Buch mit dem vielsagenden Titel «Gegen den Arabischen Frühling» ausgelegen haben.

In der arabischen Welt gerät die Demokratie aber auch durch radikale Islamisten unter Beschuss. Sie erleben seit einiger Zeit ein Comeback: in Form des sogenannten Islamischen Staats oder in Form der Salafisten, die in Libyen an der Seite von Khalifa Hifter kämpfen (er diente als General in Muammar al-Ghadhafis Armee und wird nun von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten unterstützt). Die radikalen Islamisten predigen in ihren Moscheen gegen die Demokratie – bekämpfen sie aber auch durch Gewaltakte. Wir müssen daher jenen Menschen in der arabischen Welt Mut machen, die entweder die Hoffnung in die Demokratie verloren haben, weil sie ihre Schwächen wahrnehmen, oder weil sie der konzentrierten Propaganda staatlicher TV-Netzwerke und der mit ihnen verbundenen Intellektuellen zum Opfer gefallen sind.

Macht teilen, Kriege beenden

Wenn ich von «Demokratie» spreche, verwende ich einen weiten Begriff, der Überschneidungen mit Freiheit, Gewalten­teilung, Rechenschafts­pflicht und Transparenz aufweist. Diese Ziele wollen wir in der arabischen Welt in Form von guter Regierungs­führung, Gleichheit und Gerechtigkeit erreichen.

Es gibt darüber hinaus einen weiteren Grund, warum wir in der arabischen Welt jetzt die Demokratie benötigen: um die Massengewalt zu beenden. Heute gibt es zwei Arten von arabischen Ländern: Einige wie Saudiarabien, Jordanien und Marokko brauchen die Demokratie, weil sie gute Regierungs­führung und Gewalten­teilung mit sich bringt.

Aber für vom Krieg zerrissene Länder wie Libyen, Syrien und den Jemen würde die Demokratie vor allem eine Form der Macht­teilung bedeuten. Das könnte nach den Prinzipien der Afghanistan-Vereinbarung geschehen: Man bringt alle Fraktionen in einen grossen Raum und zwingt sie, sich auf eine Teilung der Macht zu einigen. Denn die Kriege in diesen Ländern dauern vor allem deshalb noch an, weil es keinen Mechanismus zur Macht­teilung gibt.

Libyen, Syrien und der Jemen haben keinen unmittelbaren Bedarf an guter Regierungs­führung, sondern an einem Mechanismus, der das Töten beendet. Die Frage nach guter Regierungs­führung wird sich danach unweigerlich stellen. Denn in anderen Ländern, die nicht in inneren Konflikten versunken sind, besteht eine grosse Hoffnung für die Demokratie. Dazu zählt etwa Tunesien, das damit ringt, ein dauerhaftes demokratisches System zu etablieren.

Dennoch sind auch viele meiner tunesischen Freunde, trotz aller erzielten Fortschritte in ihrem Land, um die Demokratie besorgt. Gleichzeitig wollen sie nicht den Eindruck erwecken, der restlichen arabischen Welt Lektionen zu erteilen. Sie wollen einfach in Ruhe gelassen werden. Ich denke aber, dass die Tunesier dennoch eine wichtige Verantwortung haben. Nachrichten­sender, die Freiheit und politischen Wandel im Mittleren Osten unterstützen, sollten selbst über die Kommunal­wahlen in Tunesien ausführlich berichten. Jeder Saudi, jeder Ägypter und jeder Syrer sollte sehen, wessen sich die Tunesier da erfreuen können. Ich hoffe, dass dies den Rest der arabischen Welt inspiriert, für sich selbst eine ähnliche Regierungs­form zu schaffen.

Die Reformen des Kronprinzen

Das Recht der Araber auf Demokratie müssen wir in unseren eigenen Ländern und in unserer eigenen Gegend verteidigen. Aber zugleich müssen wir mit ausländischen Mächten, ihren Regierungs­chefs und Parlamentariern sprechen. Sie können eine bedeutende Rolle spielen, aber bei vielen von ihnen schwindet die Hoffnung auf die Aussicht einer arabischen Demokratie. Einige von ihnen wiederholen nun die alte rassistische Aussage: «Die Araber sind noch nicht bereit für die Demokratie (weil sie Araber sind).» Die Trump-Regierung hat nicht das geringste Interesse, die Demokratie in der arabischen Welt zu unterstützen. Selbst der französische Präsident Emmanuel Macron hat angedeutet, es werde wohl wenig politischen Wandel in Ägypten oder Saudiarabien geben.

Wenn Menschen die Hoffnung auf die Demokratie verlieren, so liegt dies nicht zuletzt am Scheitern des Arabischen Frühlings: Sie haben Angst, am Ende in eine Lage zu geraten wie in Syrien. Und viele arabische Regime, ihre Fernseh­sender, ihre Autoren und Kommentatoren versuchen, die Menschen von der Demokratie abzuschrecken, indem sie diese Vorstellung aktiv nähren. Die begrenzten Reformen der arabischen Staats­chefs betreffen sowohl deren Bürger als auch ausländische Politiker. In Saudiarabien betreibt Kronprinz Muhammad ernsthafte Reformen. Viele meiner saudischen Kollegen sagen, ich sollte diese unterstützen. Das tue ich auch. Denn meine Meinung ist: Wir sollten auf dem Erreichten aufbauen.

Als Macron kürzlich neben Kronprinz Muhammad stand, vertrat er diese Ansicht, und das zu Recht. Wir müssen den Kronprinzen in seinen Reform­bemühungen unterstützen, denn wenn wir ihn im Stich lassen, wird er unter Druck von radikalen Elementen geraten, die reform­unwillig sind.

Diese begrenzten Reformen und der allgemeine politische Zustand der heutigen arabischen Welt verleihen den Argumenten der anti­demokratischen Kräfte zusätzliche Stärke. Diese bedauerliche Realität lädt noch mehr Verantwortung auf unsere Schultern, unsere Arbeit wieder aufzunehmen und unsere Anstrengungen zu verdoppeln: für die Demokratie in der arabischen Welt. Denn sie ist eine realistische Wahl für die Menschen dort – und eine Lösung für die Probleme vieler arabischer Staaten.

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