Angsteinflössend steile Abhänge für Ski-Anfänger: Gut, helfen da gerne lustige Figuren, wie hier in St. Moritz. Martin Parr/Magnum Photos/Keystone

Superjörg

Wie ich aus Liebe zu meiner Frau das Skifahren lernte, bei Snowli unter dem Joch der Jungfrau.

Von Dirk Gieselmann, 04.01.2019

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Scham und Stolz sind wie Ebbe und Flut: die Gezeiten der Seele. Sie sind einander das Gegenteil, nie treten sie zur selben Zeit auf. Und wenn doch, ist etwas in grosse Unordnung geraten, die Erde aus ihrer Bahn geworfen worden oder, beinah schlimmer noch, der Mensch selbst.

So widerfuhr es mir vor einigen Jahren unter dem Joch der Jungfrau, in einer Skischule, die Snowli hiess und von einem Riesenhasen gleichen Namens betrieben wurde. Einem Ungetüm aus Plüsch, das jeden Tag persönlich anwesend war, um die Anfänger zu motivieren. Dort empfand ich, an einem sonnigen Vormittag, zum ersten Mal Scham und Stolz im selben Augenblick, als ich, nach Dutzenden vergeblichen Versuchen, den Idiotenhügel hinuntergeglitten war, ohne zu stürzen.

Ich hatte dieses Aufeinandertreffen der Gegenteile, die Flutebbe der Seele, bis dahin für unmöglich gehalten, ebenso wie die Tatsache, dass ich je Ski fahren würde. Als ich die sehr simple, nur etwa fünfzig Meter lange Piste schliesslich doch bewältigt hatte, wurde ich beinah ohnmächtig im Rausch der Möglichkeit, unter dem tiefblauen Himmel und demselben näher denn je. Ich war 31 Jahre alt, ein lächerlicher Mensch, ein entsetzlich lächerlicher Mensch mit einem Skihelm auf dem Kopf. Ich versuchte noch, an meine Frau zu denken, der zuliebe ich hierhergekommen war. Doch Snowli war es, der mich als Erster umarmte. Ich weinte in seinen weichen Armen vor Stolz und Scham.

Wo ich aufgewachsen bin, im südwestlichen Niedersachsen, ist vieles unmöglich, vor allem aber eines: Skifahren. Es gibt dort keinen Schnee, geschweige denn Berge. Die vollkommene Abwesenheit dieser beiden Grundvoraussetzungen lässt schon das blosse Konzept, dass Menschen auf zwei Brettern einen Hang hinunterrasen, als eine exotische Kulturtechnik erscheinen.

Ich erinnere mich an den Missmut und an die Verachtung meines Vaters, wenn im Januar die Fussballbundesliga Winterpause machte und die «Sportschau» stattdessen Super-G aus Garmisch-Partenkirchen übertrug. Ihm kam es vor wie das archaische Ritual eines abgeschiedenen Bergvolks, das ihn nichts anging, schon gar nicht zur besten Sendezeit. Er schaltete dann immer ab und blickte auf die graue Mattscheibe.

Die höchste Erhebung meiner Heimat ist der Stemweder Berg, der kein Berg ist, sondern nur ein Hügel von 180 Metern über Normalnull. Er ist das kleinste Mittelgebirge Deutschlands, aber der Gipfel meiner Kindheit, die, wie ich zugeben muss, überhaupt recht flach war, nicht nur, aber vor allem, was die Geologie anbelangt.

Wenn wir, meine Eltern, meine Schwester und ich, dort bei unseren Sonntagsausflügen von einem Schauer überrascht wurden, suchten wir manchmal Unterschlupf in der Schutzhütte am Haldemer Kreuz. Ich trug eine fliederfarbene Regenjacke, einen Rucksack in der Form einer Mickymaus, darin ein Trinkpäckchen und eine Banane, und kam mir vor wie ein Alpinist, der das Dach der Welt erklommen hatte.

Unter uns lagen die Flecken der Geestniederung, Dielingen, Drohne, Arrenkamp, ein bisschen kleiner nun, als sie ohnehin schon waren. Ich aber stellte sie mir als Metropolen vor, über die wir uns erhoben hatten. In der Ferne lag der Dümmersee wie der Indische Ozean. Am Montag erzählte ich im Stuhlkreis meinen Klassenkameraden von meinem Abenteuer, als wäre ich der einzige Überlebende einer Himalaja-Expedition. Dirk hat eine blühende Fantasie, steht in meinem Zeugnis aus der zweiten Klasse.

Wie sollte ich denn wissen, dass es noch viel höher hinausgehen könnte? Dass das längst noch nicht der Gipfel war? Dass ich einmal mit einer Bayerin verheiratet sein würde, die für ihr Leben gern Ski fährt? Und dass ich, wenn ich nicht jedes Jahr im März zwei Wochen einsam und verlassen in der Hütte sitzen wollte, während sie, betörend schön, mit dubiosen Nebenbuhlern durch den Tiefschnee wedelt, im Schweisse meines Angesichts das Skifahren erst würde lernen müssen? Unter den kalten Augen eines Riesenhasen namens Snowli?

Immer auf den Stil achten: Doppel-Olympiasiegerin Rosi Mittermaier (links) macht «Tele-Ski» im Bayrischen Rundfunk. Bayerischer Rundfunk

Unser erster gemeinsamer Urlaub in den Alpen warf seine Schatten bis weit in den Herbst voraus. Was konnte ich bloss tun, um nicht wie der letzte Depp dazustehen? Ich erinnerte mich an eine Sendung mit dem Titel «Tele-Ski», in der Rosi Mittermaier und Christian Neureuther zur Musik von Max Greger gymnastische Übungen vorführten und eine Abfahrt simulierten, fand sie tatsächlich im Internet wieder und begann, in Vorbereitung auf diesen sogenannten Urlaub, der mir vielmehr vorkam wie die Erstbesteigung eines Achttausenders, jeden Morgen vor dem Bildschirm herumzuhüpfen. Ich befasste mich auch intensiv mit der Karriere des britischen Skispringers Michael Edwards, genannt «Eddie the Eagle», der in seiner Disziplin zum Helden wurde, weil er sie nicht beherrschte. Er schien mir ein geeignetes Vorbild in meiner prekären Lage. Von ihm wollte ich Stolz lernen. Den Stolz, niemand anderen als mich selbst besiegt zu haben.

Er solle ihm doch bitte nur einen einzigen britischen Skispringer nennen, entgegnete ihm sein Vater, als Michael ihm den bizarren Plan eröffnete, an den Olympischen Spielen 1988 in Calgary teilnehmen zu wollen. Michael Edwards, sagte Michael Edwards.

Dann würde ich eben, so dachte ich, vor dem Bildschirm herumhüpfend, der grösste Skifahrer werden, den der Stemweder Berg jemals hervorgebracht hat, der grösste und der einzige. Eddie the Eagle sei mit mir.

Ein Vorbild der besonderen Art: Michael Edwards alias «Eddie the Eagle» (Mitte) an einer Pressekonferenz während der Olympischen Winterspiele 1988 in Calgary. Chris Smith/Popperfoto/Getty Images

Für die Scham aber würde, ohne dass ich das zu diesem Zeitpunkt schon ahnte, ein anderer zuständig sein. Sein Name war Robert, er hatte wie ich in die Clique eingeheiratet, mit der meine Frau seit vielen Jahren in die Schweiz fuhr, in das immer gleiche Skigebiet. Robert erwartete mich in der Gondel, die uns auf die Alp hinauffuhr, ihm war ein triumphales Lotteriegrinsen ins markante Gesicht gemeisselt, in diese Maske maskuliner Überlegenheit, die ich vom ersten Moment an zu kennen glaubte. Erst später stellte sich heraus, dass das tatsächlich der Fall war. Denn Robert arbeitete als Werbemodel, ich hatte ihn viele Male gesehen, wie er in einer Reklame für Knäckebrot in einen schwedischen See springt. Er war sehr schön, zu schön, um wahr zu sein. Er hatte offenbar aus einer ganz anderen Richtung in die Clique eingeheiratet als ich.

Es ist müssig zu sagen, dass Robert ein hervorragender Skifahrer war. Er fuhr stets ohne Helm und meistens abseits der Piste, im Tiefschnee, er sah toll dabei aus und auf eine Weise kernig in seinem sorgsam abgetragenen Strickpullover, dass ich mir selbst ganz labberig vorkam. Wenn ich mir am Morgen mit Müh und Not gerade einen Skistiefel über den Fuss gewürgt hatte, keuchend und schwitzend, war er schon dreimal zum Cappuccinotrinken ins Tal gerauscht.

Verdammter Pfundskerl, dachte ich.

Ich entführ mal eben deine Frau, sagte er lachend, du musst ja eh in die Schule, ciao.

Und weg waren sie, das Knäckebrotmodel und meine Frau, in Höhen, die, da war ich mir zu diesem Zeitpunkt vollkommen sicher, ich niemals würde betreten können. Als ich aus der Einfahrt unserer Hütte gleiten wollte, rutschte ich kopfüber in eine Schneewehe und wäre fast erstickt.

Als ich in Snowlis Skischule angelangt war, zerschmettert von einem Dutzend Stürzen auf dem Weg, unterzuckert, halb verdurstet, demoralisiert und beinah zwanzig Minuten zu spät, warteten dort schon drei fröhliche Siebenjährige und die Skilehrerin Ursel auf mich. Ursel hatte sehr viele sehr weisse Zähne und eine Haut, die der Aktentasche eines Lehrers kurz vor der Pensionierung ähnelte. Ihre Augen sah ich während des zweiwöchigen Kurses kein einziges Mal, sie verbarg sie hinter einer riesigen verspiegelten Sonnenbrille. Deshalb fand ich nie heraus, ob sie mich eigentlich mochte, verachtete oder ob ich ihr gleichgültig war.

Er brachte Superjörg auf die Piste: Snowli (links). Andreas Belser, der Herr rechts, wurde übrigens im Januar 2008 bei einer Onlineumfrage von Schweiz Tourismus zum schönsten Skilehrer des Landes gewählt. Alexandra Wey/Photopress/Keystone

Wenn sie mich lobte, weil ich einmal für eine Minute nicht gestürzt war, rief sie: Super, Jörg! Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich, streng genommen, nicht Jörg heisse. Niemand hier sollte meinen Namen kennen. Für die drei Siebenjährigen, die schon nach dem ersten Schultag Ski fuhren, als hätten sie nie etwas anderes getan, war ich ohnehin nicht viel mehr als ein drolliger Greis.

Als ich einmal, nach dem vierten oder fünften Tag, in unsere Hütte zurückkehrte, so erschöpft, dass ich selbst meinen Namen nicht mehr kannte, sah ich, wie Robert sich nackt im Schnee wälzte. Ihm war der grandiose Einfall gekommen, das heisse Wasser aus der Dusche schiessen zu lassen und so aus dem Badezimmer eine Dampfsauna zu machen, von der er sich nun genüsslich abkühlte. Leider war für mich nun kein heisses Wasser mehr übrig.

Als ich zitternd in die Küche trat, rührte Robert mit einem sehr grossen Löffel in einem Topf Bolognese, den er nach einer offenbar nur ihm bekannten Geheimrezeptur angesetzt hatte. Allein der Dampf muss aphrodisierende Wirkung gehabt haben, denn Robert trug nur seine Hose, der Oberkörper war frei, gestählt von der Sauna und der anschliessenden Abkühlung im Schnee. Meine Frau fand ihn auf amüsante Weise peinlich, ich aber hätte dennoch vor Eifersucht gerast, wenn ich noch die Kraft dazu gehabt hätte. Nur kurz schoss mir das Bild einer blutigen Axt durch den Kopf.

Ich ging bald auf unser Zimmer und starrte auf ein aufgeschlagenes Buch.

Bist müde, nicht wahr?, sagte meine Frau, als sie nach mir sah. Ganz schön anstrengend, oder?

Ja, sagte ich. Sehr.

Ich dachte an Eddie the Eagle. Ich wollte nicht anfangen zu weinen.

In der zweiten Woche sass ich erstmals im Sessellift, Ursel traute mir nun die blaue Piste zu. Du schaffst das, Jörg, hatte sie gesagt, ohne dass ich ihre Augen sah, sie nannte mich immer noch so. Du schaffst das, Jörg, sagte ich selbst zu mir, immer wieder. Dann stieg ich mit Ursel in den Lift.

Wie alt bist du, Jörg?, fragte sie mich auf der Fahrt nach oben.

31, sagte ich, meine Überlebenschancen abschätzend, für den Fall, dass ich aus dem Lift stürzen würde. Ganz schön alt für die Skischule, oder?

Es geht schon noch, sagte Ursel.

Ich möchte gern mit meiner Frau Ski fahren, sagte ich. Sie fährt sehr gut Ski.

Oh, sagte Ursel und richtete ihren undurchsichtigen Blick in die Ferne. Das muss Liebe sein.

Ich hätte sie gern umarmt, aber Ursel schien mir nicht der Typ für körperliche Nähe zu sein. Eine Bergkrähe schwebte majestätisch neben unserem Lift. Ich war seltsam ergriffen von der Aussicht, von der Stille und von mir selbst.

Ich schaffte die blaue Piste, dann die rote. Manchmal schoss Robert an mir vorbei, zischend wie ein Projektil, in der unverhohlenen Absicht, mich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, helmlos, feixend und sein Lotterielächeln lächelnd. Aber die Gezeiten änderten sich, der Stolz begann allmählich, die Scham zurückzudrängen. Ich mochte im Panikpflug talwärts ruckeln, aber ich stürzte nicht mehr, ich fuhr, ja, ich, der Junge vom Stemweder Berg, fuhr Ski. Ich war Superjörg.

Am Abend goss ich je eine halbe Flasche Franzbranntwein auf meine Oberschenkel, ass stumm drei Teller Nudeln und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am Morgen zog ich meine Skistiefel an und stapfte in die Schule, ein Soldat des Snowli. Ich überlegte, ob ich meinen Eltern eine Ansichtskarte schreiben sollte, hatte aber Angst, dass ich klingen würde wie Ernst Jünger.

Heute will ich auf die schwarze Piste, sagte ich zu Ursel.

Gut so, Jörg, sagte Ursel. Auf gehts.

Von unten betrachtet sah es womöglich aus, als würde ein Sherpa einen Touristen bergen, der in der Höhenluft kollabiert war, so wie Ursel mir langsam den Weg ins Tal bahnte, in engen, beinah waagerechten Schleifen. Doch ich kam an, ich kam verdammt noch mal an und fühlte mich nicht nur wie ein Überlebender, sondern wie ein Champion. Ich riss die Skistöcke empor und wollte schreien, keuchte aber nur so etwas Ähnliches wie Hurra.

Meine Frau, Robert und die ganze Ski-Clique hatten mich bereits auf der Panoramaterrasse erwartet. Sie tranken Aperol Spritz und sahen wahnsinnig erholt aus.

Ich bin stolz auf dich, sagte meine Frau.

Ich bin auch stolz auf mich, sagte ich.

Respekt, sagte Robert, das Knäckebrotmodel. Echt jetzt. Respekt.

Wir reichten einander die Hand. Ich fühlte mich, als könnte ich jedem alles verzeihen.

Ich betrachte diese Episode in der Rückschau als meinen grössten sportlichen Erfolg. Und nicht nur dies: als einen existenziellen Triumph überhaupt, über Snowli, Knäckebrot-Robert und den inneren Schweinehund. Ich fahre Ski, als wäre ich ein altersschwaches Yak, das den Hang herunterstürzt, aber: Ich fahre Ski. Das kommt mir auch nach zehn Jahren immer noch so wundersam vor, als würde ich die Funktionsweise eines Flugzeugs nur kurz nicht für selbstverständlich nehmen und noch einmal staunen wie die ersten Schaulustigen an Otto Lilienthals Fliegeberg in Berlin-Lichterfelde: Es ist schwerer als Luft, aber es fliegt.

In den Tiefschnee wage ich mich nicht, auch die schwarze Piste scheue ich. Schon auf der roten verfalle ich in einen unschönen Panikpflug, die Oberschenkel brennen, die Angst wird übermächtig. Aber ich kann recht sicher die blaue hinunterfahren, neben meiner Frau, die die Güte besitzt, mich zu begleiten, ich kann sie dabei sogar verliebt anlächeln, ohne zu stürzen. Vielleicht reicht meine Darbietung nicht, um stolz auf mich zu sein. Aber immerhin muss sie sich nicht für mich schämen.

Dieser Text erschien zuvor in einer leicht abweichenden Version im Magazin «Dummy».

Zum Autor

Dirk Gieselmann, Jahrgang 1978, ist freier Reporter und Gewinner des Henri-Nannen-Preises (2010) und des Deutschen Reporterpreises (2013). Zuvor arbeitete Gieselmann bei «Dummy» und bei «11 Freunde». 2017 erschien sein Buch «Atlas der Angst». Für die Republik schrieb Gieselmann bereits «Meine Glücksdrachen».

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