Reden wir über unsere digitale Zukunft – aber richtig

Hier die Euphoriker, dort die Totalverweigerer. So läuft die öffentliche Debatte über die Digitalisierung ab. Dabei ist es höchste Zeit für mehr Reife und bessere Fragen. Ein Wunsch für 2019.

Von Adrienne Fichter, 03.01.2019

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Podien zum Thema Digitalisierung sind en vogue. In der Schweiz verlaufen sie oft nach demselben Muster:

Man setze einen Euphoriker und eine Verweigerin einander gegen­über. Dann frage man als Erstes: «Sind Technologien eine Bedrohung oder ein Segen für die Menschheit?»

Der Streit ist programmiert, das Publikum wird bespasst – und der Erkenntnis­gewinn geht gegen null.

«Digitalisierung»: Hier beginnt das Problem. Bei der Unschärfe dieses Begriffs. Denn er suggeriert einen homogenen Prozess. Doch oft ist unklar, welches Szenario damit gerade konkret gemeint ist:

  • das Open-Source-Portal für Mobilitätsdaten?

  • die App, die Bikinis in Fotos erkennen kann?

  • die Tracking-Praktiken der Technologie­giganten?

Oder spricht man von der Automatisierung, von Big-Data-Sammlungen, selbstständig lernenden Algorithmen oder Staubsauger­robotern, von Gesichtserkennungs­software oder neuronalen Netzwerken?

Die künstlich wirkenden Zwie­gespräche münden wegen ihrer Pro-Kontra-Zweiteilung oft in Bullshit-Debatten. Entweder reden die Euphoriker. Oder die Totalverweigerer. Zwischentöne sind nicht erlaubt.

Genau diese starre Binarität schadet der Schweiz und lähmt sie.

Menschengemachte Entscheidung

Unabhängig davon, von welchem obigen Szenario die Rede ist – die Euphoriker werden stets antworten: «Man kann sie eh nicht aufhalten, die Digitalisierung. Machen wir also das Beste daraus.»

Diese Haltung ist nicht nur hoffnungslos.

Sie ist fatal.

Denn damit haben die Technologie­­giganten des Überwachungs­kapitalismus bereits gewonnen. Sie haben weiterhin freie Bahn und können unsere privaten Daten absaugen.

Die Haltung ist aber nicht bloss fatal. Sie unterliegt auch einem Irrtum: Die Digitalisierung folgt nicht zwangsläufigen Natur­gesetzen, denen wir ohnmächtig ausgeliefert sind. Es handelt sich um Resultate von menschen­gemachten Entscheidungen, die oft rein kommerziell motiviert sind. So ist es auch kein Zufall, dass sich die heutige Informations­architektur des Internets mit Gratiswerbung und Daten­sammlungen refinanziert. Auch ein Like-Button soll zur Debatte stehen, wenn er der Demokratie schadet (die Erfinder des Like-Buttons haben Facebook übrigens verlassen und verbieten ihren Kindern, das soziale Netzwerk zu nutzen).

Nun zur anderen Seite des Podiums, zu den Total­verweigerern. Sie zitieren gern aus den Welterklärungs­bestsellern der «Klugscheisser», wie sie der «Tages-Anzeiger»-Journalist Andreas Tobler nennt. Er bezieht sich auf die neuesten Werke von gefeierten Autoren wie Yuval Harari, Rolf Dobelli oder Richard David Precht, die mit analytischen Grob­schablonen die Welt vermessen.

Sie attestieren der Technologie pauschal atomares Vernichtungs­potenzial. Auch diese extreme Position ohne jegliche Differenzierung verunmöglicht eine gesunde Debatte. Konstruktive Kritik kann es nur geben, wenn schädliche Funktionalitäten möglichst konkret benannt werden können.

Etwa der Umstand, dass ein Konzern wie Facebook mit seiner offenen Schnittstelle zugelassen hat, dass jahrelang private Daten entwendet worden sind. Das darf, das soll, das muss kritisiert werden. Solche Vorkommnisse auf offenen App-Plattformen sind politischer Sprengstoff. Es wäre also fruchtbarer, wenn Harari und Co. diese Aspekte unter die Lupe nähmen. Doch mit Detailfragen mögen sich die grossen Denker nicht auseinandersetzen.

So sind sie praktisch immer aufgebaut, die Digitalisierungs­podien. Hunderte, wenn nicht Tausende finden landauf, landab statt. Mit oftmals frustrierenden Ergebnissen.

Doch obwohl sie keinerlei Erkenntnis­gewinne erzielen, sind die Veranstalter in der Regel zufrieden: weil es in diesen Podien nicht darum geht, am Ende einen Konsens herzustellen. Das Schlagwort Digitalisierung allein ist immer noch Publikums­magnet, für die Abend­unterhaltung ist gesorgt.

Es geht aber auch anders, wie der politische Dauer­brenner E-Voting beweist.

Die richtigen Fragen beim E-Voting

Eine Bürgerin, eine Stimme. Das ist der Grundsatz der Demokratie.

Früher spazierte der Wähler ins Schul­haus und warf dort seinen Zettel in die Urne. Heute stimmen grosse Teile der Schweiz brieflich ab. Und ab nächstem Jahr werden einige Kantone E-Voting anbieten. Das ist beschlossene Sache.

Jahrelang hatte das Gross­projekt den Anstrich einer nie fertig werdenden Baustelle. Doch jetzt macht die Bundes­kanzlei Nägel mit Köpfen. Sie schaltet den Turbo ein.

Derweil werden die Gegner der elektronischen Abstimmung, namentlich der Chaos Computer Club und eine bunte Allianz aus Jungparteien, flankiert von der SVP, nicht müde, alle möglichen Hacking­szenarien auszumalen.

Und doch bleibt die grosse Empörung aus. Viele Schweizerinnen wenden beim Thema E-Voting gelangweilt den Kopf ab oder blättern weiter.

Doch obwohl auch hier die Fronten verhärtet sind, ist diese Debatte besser, als sie auf den ersten Blick scheint. Sie zeigt nämlich auf, dass ein aufgeklärter, konstruktiver Technologie­diskurs in der Schweizer Öffentlichkeit möglich ist.

Zum ersten Mal erscheint die Digitalisierung dabei nicht als gesichtsloses Phänomen. Sondern als eine Innovation, die man politisch selbst steuern kann. Und zum ersten Mal wird dank einer wachen digitalen Zivil­gesellschaft eine Reihe von enorm wichtigen und unbequemen staats­politischen Fragen diskutiert:

  • Welche Kontroll­mechanismen (Frage des Quellcodes, des Experten­audits) wollen wir installieren?

  • Und: Wer hat die Hoheit über die Systeme? Ist es der Staat? Oder die private Firma, die das System gebaut hat?

Digitaler Prepper oder unbegabter Bürger?

Falls diese Fragen etwas zu abstrakt klingen mögen, hier ein anschauliches Beispiel.

Neulich fand auf Twitter ein interessanter Schlag­abtausch zwischen den E-Voting-Lagern statt. Es ging um die Frage: Wie digital kompetent muss eine Stimm­bürgerin sein, die E-Voting nutzen will? Anlass war ein Bericht des Schweizer Fernsehens. Der Chaos Computer Club simulierte darin das Genfer E-Voting-System und zeigte auf, wie schnell man Wähler damit täuschen könnte.

Christian Folini, ein Sicherheits­ingenieur und dezidierter E-Voting-Befürworter, bezichtigte das Schweizer Fernsehen danach, einer Kampagne des Chaos Computer Club auf den Leim gegangen zu sein. Sein Standpunkt: Sind die Anleitungen verständlich genug, erkennt eine Bürgerin eine manipulierte Website in jedem Fall.

Wer hat nun recht?

Beide.

In jenem Twitter­disput wurde nämlich eine wichtige Grundsatz­frage verhandelt. Sie lautet: Wer trägt die Verantwortung für die korrekte Nutzung digitaler Angebote zur Abstimmung – der Bürger oder der Staat? Welches Menschen­bild setzen wir bei der Gestaltung von Systemen voraus – das des technologie­kompetenten oder das des unbedarften Nutzers?

Der Technologie­theoretiker Jürgen Geuter stützt in einem Essay indirekt die Position der E-Voting-Gegner. Er warnt vor einer Zukunft der «digitalen Preppers»: also einer, in der Bürgerin und User paranoid, IT-bewandert und immer auf die nächste digitale Katastrophe vorbereitet sein müssten. Kurz: vor einer Welt, in der die Last des «Unschulds­beweises» immer auf den Anwendern lastet. Und nicht auf den System­betreibern. Geuter aber plädiert dafür, dass auch digital unbegabte Nutzer ein Recht auf Autonomie und Schutz haben sollen.

Die Schweiz übt sich beim Thema E-Voting also gerade in einem Diskurs, der in Zukunft noch viel wichtiger sein wird. Der Einsatz von sogenannten ADMs – algorithmus­basierten Entscheidungs­systemen – wird 2019 mehr und mehr Realität sein. Es geht darum, dass die Software dem Menschen Entscheidungen abnimmt.

Automatisierung und Algorithmisierung kommen in Bereichen wie Asylwesen, Strafvollzug und Finanzwesen bereits zum Einsatz. Am Flughafen Zürich kann man via Gesichtserkennungs­system durch die Pass­kontrolle gelangen. Nicht die Beamtin der Kantons­polizei entscheidet, ob die Person vor ihr dieselbe ist wie die auf dem Passfoto. Sondern ein Gerät.

Was heisst das für uns? Für die Einzelne? Für alle?

Wir müssen bestimmen, welche Systeme wie und ob überhaupt zur Anwendung kommen sollen. Diese Entscheidung nimmt uns keine Maschine ab.

Möge die Debattenqualität 2019 erhalten bleiben

Auch medial zeichnet sich ein Reife­prozess ab. Davon zeugen Initiativen wie der Themenabend von SRF (an dem auch die Autorin teilnahm). Die Macherinnen des TV-Events verzichteten auf die Pro-Kontra-Schiene und stellten stattdessen eine kluge Frage: In welchem Dataland wollen wir leben?

Denn die Digitalisierung ist trotz vieler globaler Spiel­regeln letzten Endes ein Stück weit Sache des nationalen Gestaltungs­willens. Auch ein kleines Land kann seine Spiel­regeln zum Teil selbst bestimmen. Belgien hat es vorgemacht mit seinem Urteil gegen Tracking-Praktiken von Facebook: Internetnutzer sollen ausserhalb der Plattform surfen können, ohne dass Facebook ihre Daten­spur aufzeichnet.

Damit wurde in Belgien ein Grundsatz­entscheid gefällt: Die Privat­sphäre der Bürgerinnen hat mehr Gewicht als die Marketingwünsche der belgischen Unternehmen. Das grösste soziale Netzwerk muss nun für die rund 6,5 Millionen belgischen User eine Ausnahme­regelung schaffen.

Die Schweiz könnte sich von diesem Entscheid inspirieren lassen. Statt E-Voting auf Biegen und Brechen rasch einzuführen, sollte sich unser Land genau für solche Werte­entscheidungen Zeit nehmen. Lassen Sie uns also unser ausbalanciertes Macht­system in die Cyber­sphäre übersetzen. Damit wäre das Land ein wahrer Pionier in Sachen digitaler direkter Demokratie.

So sollen Debatten zur Digitalisierung geführt werden. Mit Inhalten. Nicht unter Zuhilfe­nahme von Fundamentalpositionen. Nicht mit Pro und Kontra. Sondern mit den richtigen Fragen.

Also nicht: Fürchten Sie sich vor der Digitalisierung?

Sondern:

  • Wie lassen sich gesellschafts­verträgliche Technologien entwickeln?

  • Benötigen soziale Netzwerke grosse Beipack­zettel, in denen die Risiken und Neben­wirkungen aufgeführt sind: Populismus, Fake News, Bots?

  • Sollen alle politischen Prozesse digitalisiert werden, nur weil das technisch machbar ist?

Der Journalist Helmut Martin-Jung hat es in der «Süddeutschen Zeitung» kürzlich treffend formuliert: «Die Geschichte lehrt, dass es wenig bringt, sich gegen den Strom zu stellen, aber sehr viel, ihn in die richtige Richtung zu lenken.»

Lassen Sie uns also 2019 nicht mehr über den Strom per se diskutieren. Sondern über die Schleusen.

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