Die Ehre Albaniens – Teil 2

Wie Alexander Duma den Kalten Krieg wegprostete

Dervish Dumas Sohn Alexander ist ein junger Mann. Und als der letzte Fetzen des Eisernen Vorhangs fällt, nimmt auch sein Leben eine entscheidende Wende. «Die Ehre Albaniens» – ein wahrer historischer Kurzroman, Teil 2 von 2.

Von Michael Rüegg, 02.01.2019

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Die Kleinfamilie Duma: Naftali und Dervish mit Sohn Alexander. Privatarchiv Alexander Duma

Im ersten Teil dieser Geschichte trat Dervish Duma auf die Bühne. Geboren in einem albanischen Provinzkaff, führte ihn das Schicksal als Diplomat nach London. Bis der Zweite Weltkrieg alles durcheinanderbrachte.

Dervish Duma kam als Bürger des Osmanischen Reichs auf die Welt. Zwei Weltkriege später sass der ehemalige Diplomat, Flüchtling und Bürger einer feindlichen Macht mit Frau und Kind in London, noch keine vierzig Jahre alt.

So war das 20. Jahrhundert. Es hat die Dinge verändert.

Selbst dann, wenn man es auf eine einzige Familie reduziert.

Dieser zweite Teil der Geschichte überspringt mehr als vier Jahrzehnte. Den viel zu frühen Tod von Dervishs Frau Naftali. Die Stellvertreter­kriege zwischen den West- und den Ost­mächten in Korea, Vietnam, Angola, Afghanistan. Und das nukleare Wettrüsten.

Die Geschichte setzt sich ausgerechnet an einem Ort fort, dessen Name wie so viele im 20. Jahrhundert mittlerweile von der Karte verschwunden ist: in Ostberlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Im Jahr 1989.

VIII. Die Wende

Die Pressekonferenz der Sozialistischen Einheits­partei Deutschlands am 9. November plätschert bereits eine Stunde dahin. Dann verliest Politbüro-Mitglied Günter Schabowski den Abschnitt, der zu einem Sargnagel des kommunistischen Osteuropa werden sollte:

«… Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. […] Die zuständigen Abteilungen Pass- und Melde­wesen der Volkspolizei­kreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenz­übergangs­stellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin (West) erfolgen.»

Nach Jahrzehnten der Isolation öffnet der Ostblock damit die bekannteste Grenze zum Westen, die zugemauerte zwischen den beiden Deutschland – dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten.

Ein Hamburger Journalist fragt nach, ab wann diese Regelung gelte.

Schabowski: «Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.»

Ist es eigentlich nicht. Schabowski ist bloss schlecht gebrieft. Trotzdem: Kurze Zeit später geben die Grenz­posten dem Andrang nach. Und die DDR-Bürgerinnen strömen in den Westen. Der bereits angekokelte Eiserne Vorhang hat nun den entscheidenden Riss.

IX. Keine Wende in Albanien

Europas Gesicht verändert sich im Eiltempo. Ein gutes Dutzend neuer Staaten ist dabei, sich einen Platz an der globalen Tafel zu sichern. Rumänien erschiesst seinen Diktator. Und in Jugoslawien mehren sich die Zeichen, die einen Bürger­krieg ankündigen. Innerhalb weniger Monate sind alle kommunistischen Regimes Geschichte.

Ganz alle? Nein. Ein kleiner Flecken im gebirgigen Süd­balkan widersteht dem Wandel. In Albanien bleibt zunächst alles beim Alten.

Er war von 1944 bis zu seinem Tod 1985 albanischer Staats- und Parteichef: Enver Hoxha in einer Aufnahme von 1967. Keystone
Mit über 700’000 Bunkern sicherte Hoxha sein Land gegen den Westen. Erst rund sechs Jahre nach seinem Tod fiel auch in Albanien der Eiserne Vorhang. Dario Mitidieri/Getty Images
Nach dem Ende der kommunistischen Diktatur herrschte in Albanien Hunger: Menschen kämpfen 1991 in einer Bäckerei in Tirana um Brot. Tom Stoddart/Getty Images

Trotzdem setzt Dervish Duma nun alle Hebel in Bewegung, um ein Ausreise­visum für seinen Bruder zu organisieren. Seit 1935 haben sich die beiden nicht mehr gesehen. Nach dem Krieg war der Bruder in Albanien verhaftet worden. Ihm wurde vorgeworfen, ein amerikanischer Spion zu sein, schliesslich hatte er ja wie Dervish in den 1920er-Jahren die amerikanische Schule besucht.

Der Stunt gelingt: An Weihnachten 1990 sitzen die Brüder nach über fünfzig Jahren erstmals wieder beieinander. In Dervishs Haus in West Horsley. Beide sind mittlerweile über achtzig. Sie verbringen einige Wochen miteinander in England. Und gelangen während der Abend­nachrichten auf BBC One in den Genuss eines besonderen Spektakels: In Tirana fällt die Statue eines gewissen Enver Hoxha vom Sockel.

Hoxha, ehemaliger Partisanenführer, hatte vier Jahrzehnte als Diktator geherrscht. Unter ihm war Albanien eine Art mediterranes Nordkorea geworden. 1985 starb er. Nun, sechs Jahre später, am 20. Februar 1991, liegt auch seine Statue in Tirana danieder. Vom Sockel gezerrt von Aktivisten einer Protest­bewegung, die zwei Monate zuvor spontan nach einem illegalen Konzert zum Todestag von John Lennon entstanden ist. Ausgerechnet ein Brite bringt den einstigen Diktator zu Fall. Wenn das kein Omen ist.

Am 20. Februar 1991 reissen Demonstranten das Hoxha-Denkmal in der albanischen Hauptstadt Tirana vom Sockel. AP/ATA/Keystone

Das Albanisch, das der Onkel und der Vater sprechen, versteht Dervishs Sohn Alexander nur bruchstückhaft. Daheim gab immer Englisch den Ton an. Einige Brocken hat er über die Jahre gelernt, schliesslich blieb sein Vater zeitlebens der Doyen der kleinen albanischen Gemeinde Gross­britanniens. Mutter Naftali starb, als Alexander zwanzig war. Seither waren sein Vater und er praktisch alles, was von der Familie übrig war – diesseits des Eisernen Vorhangs. Bis zum Besuch des Onkels.

Alexander ist längst ein erwachsener Mann. Der Jurist machte Karriere in der Finanzwelt. Er wurde Bank­direktor, arbeitete einige Zeit in New York. Die nun langsam eintretende Öffnung seines ursprünglichen Heimat­landes – das er nur aus Erzählungen kennt – nimmt er zum Anlass, ein Visum für Albanien zu beantragen.

Doch London und Tirana sprechen seit dem Vorfall in der Strasse von Korfu, als zwei britische Kriegsschiffe zerstört wurden, noch immer kein Wort miteinander. Also muss Alexander die albanische Botschaft in Paris aufsuchen. Er füllt einen Visumantrag aus und überreicht ihn dem damaligen albanischen Minister vor Ort, einem Herrn Shyti.

Danach hört er nie wieder ein Wort.

X. Ein Brite durch und durch

Bevor die historischen Ereignisse ihren weiteren Lauf nehmen, ist es an der Zeit, Alexander Duma vorzustellen. Meine erste Begegnung mit ihm trug sich am Strand eines Camping­platzes in Süd­frankreich zu. Mister Duma lag auf einem Badetuch in der Nähe und las in einem Buch. Irgendwann döste er ein und schnarchte laut.

Am Abend begegneten wir uns an einer Bar, und er sprach mich an, ich sei doch «the fellow from the beach». «Und Sie sind der Herr, der so laut geschnarcht hat», antwortete ich. Das Thema (er verneint bis heute, geschnarcht zu haben) barg genügend Gesprächs­stoff für eine weitere gute Stunde.

Albaner – und Brite durch und durch: Alexander Duma. Lukas Blasberg

Ein kontakt­freudiger Mensch ist Alexander Duma, einer, der sich in Gesellschaft wohlfühlt. Ganz egal, ob unter krawattierten Herren der Ober­schicht in seinem Members Club an der St. James Street in London. Oder auf dem Camping­stuhl am Mittel­meer. Ein pragmatischer Mensch ist er obendrein. Wenn er jeweils in der Hochsaison sein üppiges Anwesen in Südwest­frankreich als Ferien­domizil vermietet, packt er Zelt, Klappstühle und Espresso­maschine in seinen alten Mercedes und verlegt seinen Wohnsitz auf ein totgetrampeltes Stück Wiese.

Vom Vater hat Alexander sein welt­männisches Auftreten, den Charme und die diskrete Selbst­sicherheit geerbt. Es gibt wenige Menschen, die sich seit über zwanzig Jahren selber die Haare schneiden und doch immer gut frisiert aussehen.

Ein Brite durch und durch. Abgesehen davon, dass er eigentlich Albaner ist, wie er mir eines Abends bei einem Gläschen Wein und Mini­würstchen im Brooks’s Club in London eröffnete.

XI. Hello, Mr President

Im Jahr 1991 treten zwei Umstände ein: Zum einen lockert das sich (ächzend langsam) öffnende Albanien seine rigorosen Einreise­bestimmungen. Zum anderen wirft einer von Alexander Dumas Kunden, das südafrikanische Bergbau­unternehmen Samancor, ein Auge auf das Balkan­land. Grund sind die zahlreichen Chromit-Vorkommen im Norden Albaniens. Samancor schürft nach dem Mineral, auch Chrom­eisenerz genannt. Und hier winkt nun das grosse Geschäft. Der Londoner Banker mit albanischen Wurzeln ist der perfekte Türöffner.

Die Swissair-Maschine aus Zürich mit dem 45-Jährigen an Bord landet an einem heissen Spätsommer­tag auf dem Flughafen in Tirana – unsanft, denn die Piste ist nicht asphaltiert, sondern mit Pflastersteinen belegt.

Zum ersten Mal in seinem Leben betritt Alexander nun das Land, aus dem seine Eltern stammen.

Und er traut seinen Augen nicht, als er die Menschen­menge sieht, die vor dem Flughafen im Schlamm auf ihn wartet: seine üppige Verwandtschaft. Jemand hat eines der damals seltenen Autos organisiert und die Familie Zweig für Zweig hergekarrt. Alexander kennt wohl einige der Namen – aber die meisten Gesichter sind ihm fremd.

Die Familie hat ihren verlorenen Neffen wieder. Auch wenn der eigentliche Grund für die Reise geschäftlicher Natur ist.

Die Verhandlungen mit der Regierung über die Schürf­rechte am Chromit nehmen einen erfreulichen Auftakt. Alexander findet heraus, dass der zuständige Mitarbeiter im Wirtschafts­ministerium einer seiner diversen Cousins ist. Im Nu sitzt der Brite dem Premier­minister gegenüber, einem ehemaligen Kommunisten – die alten Macht­haber sind noch immer an der Übergangs­regierung beteiligt. Aber nicht mehr lange. Bei Alexander Dumas weiteren Besuchen im Frühling 1992 sind die Kommunisten bereits aus dem Spiel, nun regieren die Demokraten allein.

Demokrat mit einem kräftigen Schuss Despot: Sali Berisha, ab 1992 Albaniens erster nicht kommunistischer Staatspräsident nach dem Zweiten Weltkrieg. Michel Setboun/Gamma-Rapho/Getty Images
Aufbruchstimmung: Berisha-Anhänger an einer Wahlveranstaltung 1992 in Tirana. Dario Mitidieri/Getty Images

Es dauert nicht lange, und Alexander spaziert in den Regierungs­palast und lässt sich den Weg zum Staats­chef zeigen. Sali Berisha heisst der neue Präsident. Ein in Paris ausgebildeter Kardiologe.

Ein imposanter Herr, dieser Berisha, denkt sich Alexander. Und ohne Frage ein mächtiger, schliesslich steht auf seinem Schreib­tisch eines der wenigen Telefone im Land, wenn auch ein Modell aus früheren Tagen.

Die Sache mit den Schürf­rechten fürs albanische Chromit läuft nun doch nicht ganz so geschmeidig ab wie zu Beginn erhofft. Um die staatliche Bürokratie zu dynamisieren, sind weitere Besuche bei Präsident Berisha nötig, und so lernen sich Alexander und er innerhalb weniger Wochen näher kennen. Gelegentlich muss Berisha sogar zum Hörer seines antiquierten Telefons greifen, um einem Minister den Tarif durchzugeben.

Ein netter Mann sei Sali Berisha gewesen, erinnert sich Alexander. Ein Demokrat mit einem kräftigen Schuss Despot. Fürs damalige Albanien eine nützliche Mischung.

Es ist mittlerweile Mai, Alexander ist inzwischen fast zum Pendler zwischen London und Tirana geworden. Da bittet ihn Sali Berisha zu sich in den Präsidentenpalast:

«Übermorgen finden Gespräche in Rom statt», sagt Berisha, «kannst du da hingehen?»

Mit wem die Gespräche stattfänden, will Alexander wissen.

«Mit euch.»

Seit 1946, als albanische See­minen vor Korfu zwei noch gänzlich unamortisierte britische Kriegs­schiffe zerstörten und 44 Seeleute töteten – seit nahezu fünf Jahr­zehnten herrscht Funkstille zwischen Albanien und Gross­britannien. Nun sollen sich die beiden Staaten erstmals offiziell begegnen. Und der britische Banker Alexander Duma ist soeben per Präsidial­dekret aus dem Nichts heraus zum albanischen Delegations­leiter ernannt worden.

Einziges Traktandum des Römer Treffens: das Gold, dem Albanien seit dem Zweiten Weltkrieg nachtrauert und das es angesichts seiner brach­liegenden Wirtschaft sehr gerne zurückhätte. Die Briten hingegen haben die Seeminen vor Korfu noch nicht verdaut und verlangen eine Kompensation.

«Nicht mehr als zwei Millionen Pfund können die für die Schiffe haben!», instruiert der Präsident seinen Chef­unterhändler. Und drückt ihm eine Telefon­nummer in die Hand, unter der er im Bedarfs­fall erreicht werden kann. Es ist die Nummer des päpstlichen Haushalts im Vatikan, denn auch Berisha fliegt nach Rom, für einen Papstbesuch.

Höflich wie er ist, informiert Alexander Duma das Aussen­ministerium in London über seine Teil­nahme an den kommenden Gesprächen. Dafür ist er extra an einem der wenigen Telefone Tiranas Schlange gestanden.

«Das ist äusserst irregulär», bringt der Beamte am anderen Ende der Leitung seine Ablehnung zum Ausdruck. «Nein, nein», sagt Alexander. «Sie verstehen mich falsch, ich werde auf der anderen Seite sitzen.»

XII. Frühling in Rom

Die britische Botschaft, wir erinnern uns. Ein Ersatzbau für die Villa, die einst hier stand. Es ist der 8. Mai 1992.

Eine Art quadratischer Platten­bau, der über einem Tümpel steht: Die britische Botschaft in Rom. Giorgio Cosulich/Getty Images

In einem klapprigen Mercedes legen drei Herren den Weg von der albanischen zur britischen Vertretung zurück. Der Delegations­chef Alexander Duma, der albanische Vizeaussen­minister Mehill Marku, gerade 28 Jahre alt, und der albanische Botschafter bei der EU, Artur Kuko, der kurz davor seinen 30. Geburtstag gefeiert hat. Das Durchschnitts­alter im albanischen Staats­apparat ist so tief, weil die meisten älteren Beamten Angehörige der kommunistischen Geheim­polizei waren und deshalb ihrer Ämter enthoben wurden. Der albanische Staat: Er hat das Personal eines Start-ups, die Strukturen eines kommunistischen Klein­staats und eine Infra­struktur, die mehrheitlich aus den Dreissiger­jahren stammt.

Am Treppen­absatz steht der britische Botschafter, Sir Stephen Egerton, er begrüsst die Gäste. Den Minister. Den Botschafter. Und «Mister Duma, Sie sitzen ja heute auf der anderen Seite des Tisches».

Auf der einen Seite des besagten Konferenz­tischs hat die britische Seite Platz genommen. Diplomaten, die Herren vom Albanien-Desk im Aussen­ministerium in Whitehall und ein paar Nasen, deren Funktion unklar bleibt. Alexander und seine beiden Albaner setzen sich.

Zwischen beiden Parteien ragen ein kleiner Union Jack und ein rotes Fähnlein mit Doppel­adler empor. Alexander fragt sich, wo die wohl die albanische Miniflagge herhaben – bestimmt nicht aus dem Fundus der Botschaft. Kaum sind die nötigsten Höflich­keiten ausgetauscht, legt der Mann zur Rechten des britischen Botschafters, ein Unter­staatssekretär, bereits eine Zahl auf den Tisch:

«Im Geiste der Verständigung, der nun zwischen unseren beiden Ländern herrscht, ist die Regierung Ihrer Majestät bereit, das Gold nach Abzug von zwei Millionen Dollar Kompensation für die beiden Kriegsschiffe zu retournieren.»

Ganz Banker, benötigt Alexander keine halbe Sekunde, um im Kopf die Rechnung aufzustellen: Berisha hat ihn ermächtigt, bis zu zwei Millionen Pfund in Abzug bringen zu lassen. Zwei Millionen Dollar waren nur etwas mehr als die Hälfte dessen, was Albanien zu zahlen bereit war.

An sich hätte an diesem Punkt das Treffen bereits zu Ende sein können. Doch Alexander muss Zeit schinden, sonst würde die Gegen­seite womöglich bemerken, dass sie zu tief reingegangen war, und plötzlich weitere Forderungen stellen: «Nun, Herr Botschafter, Sie haben sicher Verständnis, dass wir über eine derartige Summe nicht allein entscheiden können. Ich fürchte, ich muss den Präsidenten kontaktieren.»

«Selbstverständlich», antwortet der Botschafter und führt die albanische Delegation in sein Büro, wo ein Telefon steht. Duma kramt den Zettel mit der Nummer des Papstes hervor und wählt. «Guten Tag, Alexander Duma am Apparat, ich würde gerne Präsident Berisha sprechen. Er besucht gerade Seine Heiligkeit.»

«Das ist ja wunderbar, Alexander, ganz wunderbar! Gut gemacht!» Sali Berisha ist ganz aus dem Häuschen angesichts der Nachricht, viel weniger für die verdammten Kriegs­schiffe hinlegen zu müssen als geplant. «Nun», findet Alexander, «ich habe eigentlich gar nichts gemacht.» Egal, der Präsident ist hocherfreut, Alexander legt auf. Die drei beschliessen, noch einen Moment abzuwarten, um ihrer Rückkehr an den Konferenz­tisch mehr Gewicht zu verleihen.

Nach ein paar Minuten verlassen sie das Botschafter­büro und begeben sich zurück in den Konferenz­raum. Offensichtlich zu früh: Die Briten haben nicht mit einer derart schnellen Rückkehr der Albaner gerechnet, sie liegen in den Sesseln, Füsse auf dem Tisch.

Aus Höflichkeit kehrt die albanische Delegation auf dem Absatz um, wartet ein paar Atemzüge vor der Tür und betritt noch einmal den Raum. Diesmal sitzen die Briten anständig am Tisch.

«Seine Exzellenz, Präsident Berisha, ist mit Ihrem Angebot einverstanden», erklärt Delegationschef Duma.

«Wunderbar», kommentiert der Botschafter. Er drückt auf einen Knopf, die Tür geht auf, und ein Angestellter tritt mit Champagner in den Raum. Im Anschluss, befindet er zufrieden, gehe man gemeinsam zum Mittagessen.

XIII. In Vaters Fussstapfen

Nach ein paar Minuten Verhandlung, einem Apéritif, einem sehr üppigen Lunch und diversen Flaschen Wein ist die 46-jährige diplomatische Krise zwischen beiden Ländern zu Ende.

Zurück in Tirana dankt Präsident Berisha seinem Delegations­chef für dessen Dienste, indem er ihm einen Zettel in die Hand drückt. Es ist eine nummerierte Präsidial­verfügung. Darauf steht, dass er, der Präsident, Alexander Duma die albanische Staats­bürgerschaft verliehen habe.

Einige Wochen nachdem Alexander ein erstes Mal auf der holprigen Piste des Flughafens Tirana gelandet war, ist er Albaner. Er, der schon Brite war, als sein Vater noch staatenlos war. Der Sohn ist dem Vater immer einen Schritt voraus.

Die Freude beim albanischen Präsidenten über den erfolg­reichen Verlauf des Römer Treffens ist gross. Diejenige der Briten weniger. Ausgerechnet einer der ihren, noch dazu ein Amateur, vertrat die Gegenseite. Zwar dankt ihm das britische Aussen­ministerium mit einem Brief für seine Dienste. Doch gegenüber ihren Alliierten verschweigen die Briten die Rolle ihres eigenen Staats­bürgers. Ein Memo des Foreign Office zuhanden des amerikanischen Geheim­dienstes CIA erwähnt einzig Vizeaussen­minister Marku. Es ist allerdings nicht der einzig Patzer im Dokument, der Autor der Zeilen hat sich auch beim Datum des Korfu-Zwischenfalls um ein Jahr vertan.

So schnell werden die Briten Alexander Duma in der Albanien­frage nun nicht los. Denn zwar sind nun die Beziehungen zwischen London und Tirana wieder etabliert. Doch es fehlt an einer diplomatischen Vertretung der Republik in der britischen Hauptstadt. Und Albanien ist bekanntlich bankrott.

Das bringt Sali Berisha auf eine Idee. Eine kostengünstige noch dazu.

Zurück in London befestigt Alexander kurz darauf eine Plakette an seiner Hauswand: «Honorar­konsulat der Republik Albanien». Fünfzig Jahre nach der Schliessung der letzten diplomatischen Vertretung repräsentiert abermals ein Duma den albanischen Staat gegenüber der britischen Regierung.

Alexanders Wohn­zimmer mutiert zur Verwaltungs­behörde, und der Postbote wundert sich, als er plötzlich täglich stapelweise Visumanträge und derlei die Treppe zur Haustür hinauftragen muss. Alexander ist alles andere als gerüstet für seine Aufgabe. Das wichtigste Instrument eines jeden Konsulats fehlt ihm: der Stempel. Ohne Stempel kein Staat. Also sucht er im Krempel seines Vaters nach alten albanischen Stempeln und geht damit zu einem Geschäft in Clerkenwell. Dem jungen Mann am Tresen erklärt er, er solle bitte das albanische Wort für «Königreich» durch jenes für «Republik» ersetzen. Den Doppel­adler hingegen könne er so belassen. Es dauert nicht lange, und Alexander Duma stempelt, was das Zeug hält.

Diplomatische Immunität erhält Duma als britischer Bürger im eigenen Land keine, obwohl er nun der höchste (und einzige) Vertreter der albanischen Regierung in London ist. Dafür spült die Post Einladungen zu Empfängen und Dinners ins Haus. Zeit dafür hat Duma jetzt, er hat zugunsten seiner alten und neuen Heimat seinen Job bei der Bank an den Nagel gehängt.

Wenig später besucht der albanische Parlaments­präsident mit einer Delegation London. Mit einem gemieteten Minibus fährt das Trüppchen beim Westminster-Palast vor, dem Wohnsitz von Betty Boothroyd, der ersten und bislang einzigen weiblichen Vorsitzenden des Unterhauses. Im grosszügigen Speisesaal sucht sich Alexander ein Plätzchen am Rande. Da ruft ihn Boothroyd zu sich: «Mister Duma, was machen Sie da? Sie sitzen hier neben mir. Schliesslich sind Sie der Delegationschef.»

XIV. Geordnete Verhältnisse

Ein Jahr lang amtet Alexander Duma als Honorar­konsul. Wie einst sein Vater spielt auch er den Botschafter, weil schlicht kein anderer da ist. Es dauert eine Weile, bis die Dinge in Gang kommen. Tirana bestimmt schliesslich einen offiziellen Vertreter, Pavli Qesku. Ein Mann um die fünfzig und als Autor eines Wörter­buches Englisch-Albanisch (und umgekehrt) bestens für die Aufgabe gerüstet.

Alexander holt Qesku vom Flughafen ab und chauffiert ihn in ein billiges Hotel. Dann suchen sie gemeinsam nach einer Immobilie für die künftige Botschaft. Kein leichtes Unterfangen: Das Budget für die Miete ist lächerlich gering. Qesku meldet den Fund einer kleinen Wohnung in einem Keller­geschoss nach Tirana. «Kommt nicht infrage», schreibt das albanische Aussen­ministerium zurück. «Unser Botschafter residiert nicht im Keller.» Zudem sei die Miete viel zu hoch.

Letztlich findet man doch noch ein Plätzchen: Dem britischen Botschafter in Ankara gehört eine kleine Vierzimmerwohnung in London, die er der Republik Albanien günstig überlässt. Dort residiert nun auch Botschafter Qesku selber mit Gattin, der Botschafts­assistent schläft auf der Couch.

Das Jahresgehalt Seiner Exzellenz, des Botschafters der Republik Albanien, entspricht in etwa dem einer schlecht bezahlten Teilzeit-Nanny. Als Königin Elisabeth Qesku zum Antrittsbesuch in den Buckingham Palace einlädt, erkundigt sich Seine Exzellenz, welche Buslinie denn dorthin fahre. Die Frage entpuppt sich als unnötig, der Palast schickt für solche Gelegenheiten standardmässig eine Pferde­kutsche. Nur den vorgeschriebenen Frack muss sich Qesku im Kostüm­verleih besorgen.

Als der neue Botschafter für die Parade Trooping the Colour zu Ehren des Geburtstags Ihrer Majestät einen Gehrock braucht, kann er sich die paar Pfund für die Kostüm­ausleihe hingegen sparen. Im Schrank von Alexanders Vater Dervish findet sich ein Exemplar, das schon einmal ein amtierender Botschafter Albaniens zum gleichen Anlass getragen hatte. Allerdings fast sechzig Jahre vorher – und zu Ehren des Vaters der Monarchin. Ein Glück, dass Qesku schlank ist, der ursprüngliche Besitzer Dervish passt längst nicht mehr hinein.

Albanien hat nun wieder eine richtige Botschaft in London. Alexander Dumas Werk ist damit getan. Der Banker, der versehentlich Diplomat wurde, kehrt zurück in die Finanz­branche. Nach einem anstrengenden Sabbatical.

Finale. Zurück in der Gegenwart

Heute ist Alexander Duma Anfang siebzig. Einige Wochen des Jahres verbringt er in seinem Anwesen in Frankreich. Ein stattliches Landhaus, vollgestopft mit mehrheitlich englischen Möbeln, die er über die Jahre an Auktionen gesammelt hat. Auf den Kommoden und Tischchen stehen alte Fotos: Vater Dervish in jungen Jahren. Mutter Naftali im Kleid, das sie zur Krönungs­feier von George VI. trug, dem Vater der späteren Königin Elisabeth II.

Naftali Duma in festlicher Aufmachung. Das Foto wurde aufgenommen vor einem Empfang beim damaligen englischen König George VI., Vater der späteren Königin Elisabeth II. Privatarchiv Alexander Duma

Ein Grossvater väterlicher­seits mit strengem Blick. Ein Urgrossvater mütterlicher­seits, ein Geistlicher in orthodoxer Tracht – das Kreuz über der Brust wurde im kommunistischen Albanien wegretuschiert.

Aus einer Kiste holt Alexander die alten Diplomaten­pässe seiner Eltern hervor, mit denen sie 1936 in Gross­britannien eingereist waren. Gross­formatige, mehrfach gefaltete Dokumente, dickes Papier.

Und auf einem Tisch steht eine Fotografie Sir Jocelyn Percys. Des Generals der Gendarmerie, der Dervish erst in seine Dienste nahm und ihm dann das Studium in London ermöglicht hatte. Des Mannes, der König Zog überzeugte, die Studien­gebühren zu übernehmen. Ohne den nichts so gekommen wäre, wie es kam.

Dann holt Alexander ein schwarzes Etui hervor. «2014 sass ich im Bus, er fuhr gerade über die Chelsea Bridge», erzählt er, «da klingelte das Telefon.»

Am anderen Ende der Leitung war ein gewisser Mal Berisha, damals albanischer Botschafter in London. «Hast du eigentlich die albanische Staats­bürgerschaft?», fragte der Anrufer.

«Ich fürchte, ich bin gerade im Bus.»

«Hast du sie?»

«Ja.»

«Wie hast du sie bekommen?»

«Der Präsident gab sie mir.»

«Ah, gut», sagte Berisha. «Die wollen dir nämlich einen Orden verleihen.»

Ein Jahr später steht Alexander zusammen mit einigen anderen Briten in der albanischen Botschaft in London und wartet. Auf Bujar Nishani, den Staats­präsidenten. Nishani ist spät dran, der Nachmittags­tee bei Prinz Charles hat sich hingezogen.

Als der Präsident doch noch auftaucht, verteilt er diverse Auszeichnungen im Namen der Nation. Die höchste geht an Alexander, der Nderi i kombit, die Ehre der Nation. Einmal den Orden selber, einmal das zugehörige Zertifikat. Die beiden Gegen­stände wandern so lange zwischen den beiden hin und her, bis endlich sowohl Alexander als auch der Präsident je eine Hand zum Schütteln frei haben. Nderi i kombit, die Ehre der Nation.

Seit 1991 wartet Alexander Duma vergeblich auf die Bearbeitung seines Visum­antrags, den er damals in Paris eingereicht hat. Vierundzwanzig Jahre später ist er so etwas wie ein Nationalheld.

Mit der Ehre der Nation ist auch die Ehre einer Familie wiederhergestellt.

«Die Ehre», eine runde Medaille aus Gold. Sie sieht aus, als ob sie noch zu kommunistischen Zeiten entworfen wurde. «Wie trägt man dieses Ding?», frage ich den Geehrten. «Wie einen baronet’s badge», antwortet Alexander. Also unterhalb des Halses, irgendwie. Aber es hat einen Konstruktions­fehler: «Die Sicherheits­nadel ist wie der Rest aus Gold. Sie verbiegt sich sofort, wenn du sie irgendwo hineinstichst.»

Höchste Auszeichnung für Zivilpersonen mit etwas zu viel Gold: 2015 verlieh Albanien Alexander Duma den Orden Nderi i kombit – Ehre der Nation. Privatarchiv Alexander Duma

Es war der Goldschatz des König­reichs Albanien, mit dem für Alexander alles begonnen hatte. Und mit Gold hört es wieder auf. Weil die Ehre der Nation unpraktisch zu tragen ist, verbleibt sie in ihrem kleinen Etui. Die Ehre ist ein Objekt für die Schublade. Ein Buch­zeichen in einer Geschichte, die nicht nur sich selbst, sondern ein ganzes Jahrhundert erzählt.

Dervish Duma, Alexanders Vater, durfte nicht mehr miterleben, wie sein Sohn für die Verdienste um die Nation Albanien ausgezeichnet wurde. Nachdem er noch einige Jahre Kontakt zu seiner Familie pflegte, verstarb er 1998. In West Horsley. Zwischen Guildford und Leatherhead.

Dort, wo die Familie einst der deutschen Bomben wegen hingezogen war.

Nachdem die italienischen Soldaten sie heimatlos gemacht hatten.

Weil den Türken im Ersten Weltkrieg ihr Reich auseinandergefallen war.

Die Ehre Albaniens

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