Die Ehre Albaniens – Teil 1

Das Leben als Aneinanderreihung seltsamer Zufälle: Wie Dervish Duma (hier mit seiner Verlobten Naftali) – ein Junge aus der albanischen Provinz – Diplomat im Herzen des britischen Weltreichs wurde. Privatarchiv Alexander Duma

Wie Dervish Duma Gesandter eines Königs ohne Reich wurde

Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben das Gesicht der Welt verändert. Und sie haben das Schicksal einer Familie geprägt. «Die Ehre Albaniens» – ein wahrer historischer Kurzroman, Teil 1 von 2.

Von Michael Rüegg, 01.01.2019

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Es ist der 8. Mai 1992, Rom, Italien. Ein klappriger schwarzer Mercedes fährt durchs Tor zum Hof des Gebäudes. Der Wagen hat rechtlich gesehen italienisches Territorium verlassen und befindet sich nun auf britischem Boden. Ein paar Meter weiter werden drei Männer aussteigen. Zwei sind um die dreissig, der dritte ist 46 Jahre alt – die Seide seiner Krawatte ist etwas fülliger, die Wolle seines Anzug­stoffes einen Touch feiner als die der anderen, und sein Jackett sitzt ein wenig besser. Kurzum: Seine Erscheinung ist imposanter als diejenige der beiden jüngeren Männer.

Den dreien bietet sich ein seltsames Bild. Inmitten von Villen und verschnörkelten Fassaden an der Via Venti Settembre steht die Botschaft des Vereinigten König­reichs – und sie ist alles andere als ein architektonischer Wurf. Eine Art quadratischer Plattenbau, der über einem Tümpel steht. Ein Neubau, 1968 fertiggestellt. Das ursprüngliche Gebäude war durch ein Bomben­attentat weitgehend zerstört worden. Terroristen aus Palästina hatten die alte Villa in die Luft gejagt, 1946 war das. Unter palästinensischen Terroristen verstand man damals Juden. Ihr Anschlag galt als Protest gegen die britische Palästina-Politik, welche die Errichtung eines jüdischen Staates im Heiligen Land nicht vorsah.

Im Innenhof des Botschafts­gebäudes kommt der erwähnte Wagen zum Stillstand. Die drei Männer steigen aus. Die beiden jüngeren sind der albanische Vizeaussen­minister und sein Botschafter bei der EU. Der dritte Mann ist ein Banker aus London – und der Kopf der Dreierdelegation.

Auf dem Treppen­absatz begrüsst Sir Stephen Egerton, der britische Botschafter, seinen Lands­mann mit den Worten: «Ah, Mister Duma. Sie sitzen ja heute auf der anderen Seite des Tisches.»

I. Ein König, ein General und sein Sekretär

Der Grund, weshalb sich an jenem Tag im Jahr 1992 Briten auf beiden Seiten des Konferenz­tisches in besagter Botschaft in Rom gegenüber­sassen, ist kompliziert. Eine lange Geschichte. Sie erzählt nicht nur von sich selbst, sie umfasst ein ganzes Jahrhundert: das zwanzigste. Ein Säkulum der Weltkriege, der Polarisierung, des Kampfes zweier Ideologien. Und letztlich der Versöhnung.

Die Geschichte führt zurück ins frühe 20. Jahrhundert. Genauer: ins Jahr 1908. Im heutigen Badeort Borsh an der albanischen Küste wird ein gewisser Dervish Duma geboren. In eine Welt, in der eine andere Ordnung herrscht als die heutige. Britannien ist ein Weltreich, in dem die Sonne nie untergeht respektive permanent aufgeht. Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland sind Kaiser­reiche. Und vom Balkan bis zum Persischen Golf, von Arabien bis an die Grenze Algeriens herrscht der türkische Sultan Abdülhamid II. von Konstantinopel aus.

Sein Vielvölkergebilde, das Osmanische Reich, hat das Haltbarkeits­datum längst überschritten. 1908, im Geburts­jahr von Dervish Duma, verlieren die Osmanen die Kontrolle über Bulgarien. Als Dervish vier Jahre alt ist, löst sich seine Heimat aus der Herrschaft Konstantinopels. Danach ist das Land mal mehr, mal weniger unabhängig – und wird immer wieder zum Spielball fremder Mächte. 1925 ruft Albanien die Republik aus. Da ist Dervish siebzehn.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verloren die Türken die Herrschaft über Albanien. Im Bild die Hafenstadt Durrës, westlich der Hauptstadt Tirana. Haeckel Collection/Ullstein/Getty Images
Albanien um 1930: Die Gesellschaft ist in Clans organisiert, Traditionen werden hochgehalten. Keystone France/Gamma/Getty Images
Meilen entfernt vom industriellen Westeuropa: Albanien steckte tief im 19. Jahrhundert fest. William Vandivert/The LIFE Picture Collection/Getty Images
Das Balkanland war eine Stammesgesellschaft mit wenigen Grossgrundbesitzern. Gamma-Keystone/Getty Images

Dervish wächst auf in einem Land, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Während in weiten Teilen Europas die Schorn­steine der Fabriken aus dem Boden schiessen und Gross­städte zu Molochen heranwachsen, gibt es in Albanien kaum Strassen. Die Gesellschaft ist in Clans organisiert, Elektrizität kennt man vielerorts nur vom Hörensagen. Wichtigstes Transport­mittel ist seit Jahrhunderten der Esel.

In der jungen albanischen Republik wird ein gewisser Ahmet Zogu zuerst Ministerpräsident, kurz darauf – nach einer Regierungsreform – Präsident. Doch das reicht dem ehrgeizigen Staats­mann nicht. Er träumt von einer Monarchie mit sich selbst an der Spitze. Die meisten europäischen Herrscher­häuser haben sich von ihrem Thron verabschiedet, ein republikanischer Geist weht über den Kontinent. Doch Zogu ist Anachronist. Er krönt sich zum König und herrscht als Zog I. über Albanien, 1928 ist das.

Ahmet Zogu stieg vom Clanboss erst zum Premierminister auf, wurde dann Präsident und krönte sich 1928 zum König Zog I. Seine Herrschaft endete 1939 mit dem Einmarsch italienischer Truppen. Ullstein/Getty Images
Seine Schulzeit hatte Zogu (hier im Kreis seiner Familie) in Konstantinopel verbracht. Unter dem Eindruck der kosmopolitischen Grossstadt war er gewillt, sein Königreich zu modernisieren. SZ Photo/Bridgeman
Als Staatsoberhaupt bewies Zogu eine gewisse Robustheit. Er überlebte insgesamt 55 Attentate. Einen der Angreifer tötete er dabei sogar selber. Hulton Archive/Getty Images

Ahmet Zogu, respektive seine Majestät König Zog der Erste (und Letzte), ist ein korrupter Herrscher und nicht sonderlich beliebt. Dafür ist er zäh: Er überlebt nicht weniger als 55 Anschläge auf sein Leben. Bereits als Regierungs­chef wurde er im Februar 1924 beim Betreten des Parlaments zweimal angeschossen. Verwundet trat er ans Rednerpult und sagte: «Nun, diese Dinge passieren. Machen wir keine grosse Sache daraus.»

Zog versteht sich keineswegs als rückwärts­gewandter König. Im Gegenteil, er hat die erklärte Absicht, sein Land radikal zu modernisieren. Er weiss, dass sich Albanien nicht aus eigener Kraft ins 20. Jahr­hundert katapultieren kann. Also sucht er Hilfe. Zum Beispiel bittet er die Briten, das Polizei­wesen zu übernehmen und neu zu organisieren. Zog ist der Meinung, die könnten das besonders gut, schliesslich administrierten sie ein ganzes Weltreich.

In einer Obst­plantage in Kanada sitzt derweil ein gelangweilter Mann mit Namen Sir Jocelyn Percy, General­major der Streitkräfte Seiner Majestät im Ruhe­stand. Er hat die Welt gesehen, Truppen kommandiert, in den Offiziers­kasinos in Indien und im Nahen Osten an Gläsern genippt. Nun bietet ihm London den Befehl über die albanische Polizei an. So tauscht Sir Jocelyn die kanadischen Apfel­haine gegen ein Land, neben dem – wie er feststellen wird – Mesopotamien und Punjab wie Leucht­türme der Zivilisation aussehen.

Der britische Generalmajor Sir Jocelyn Percy war bereits im Ruhestand. Dann übernahm er das Kommando über die albanische Gendarmerie. Privatarchiv Alexander Duma

Da Sir Jocelyn zwar neuer albanischer Polizei­kommandant ist, selber aber dummerweise kein Wort Albanisch spricht, wird ihm ein Sekretär zur Seite gestellt. Ein junger Mann, der fliessend Englisch und Italienisch spricht. Aus dem Süden des Landes stammt er, dem heutigen Badeort Borsh. Soeben hat er den ersten Jahrgang der neuen amerikanischen Schule in Tirana absolviert. Der Mann ist eine hervor­ragende Wahl für die Aufgabe – nicht zuletzt seiner Intelligenz und seiner einnehmenden Art wegen: Die Rede ist vom 19-jährigen Dervish Duma, dem wir bereits begegnet sind.

Die folgenden fünf Jahre begleitet der junge Dervish Sir Jocelyn in alle Winkel des Landes. Und der General ist nicht nur von Albanien angetan, sondern auch von seinem Sekretär. Er schlägt Dervish vor, in England die Universität zu besuchen. Leider haben die vorangegangenen politischen Wirren dem Familien­vermögen der Dumas arg zugesetzt, sodass ein mehrjähriger Studien­aufenthalt in London nicht zur Debatte steht. Auf Bitte von General Percy springt König Zog ein – er gewährt dem jungen Dervish ein Stipendium.

Und so kommt es, dass Dervish Duma 1932, abtretender General­sekretär der königlich albanischen Gendarmerie, zum ersten Mal englischen Boden betritt. Noch weiss er nicht, dass er dort – nicht ganz aus freien Stücken – fast den gesamten Rest seines Lebens verbringen wird.

II. Willkommen auf dem diplomatischen Parkett

Dervish Duma hat einen Abschluss der London School of Economics in der Tasche, als er drei Jahre später nach Tirana zurückkehrt. Der König installiert den jungen Mann sogleich im Aussen­ministerium, schliesslich hat er ja auch für die Ausbildung bezahlt. Es dauerte nicht lange, und Dervish befindet sich abermals auf dem Weg nach London, diesmal mit einem Diplomaten­pass ausgestattet. Er ist nun Sekretär der albanischen Gesandt­schaft in Gross­britannien. Und der Einzige im Haus, der bei der Arbeit eine gewisse Produktivität an den Tag legt. Der albanische Gesandte selber spricht unglücklicherweise kein Englisch und ist ausserdem praktisch blind. Und sein Stell­vertreter interessiert sich mehr für die Londoner Damen­welt als für Politik. Diese beiden Umstände verschaffen Dervish zum einen genügend Arbeit und zum anderen einen gewissen Spiel­raum für seine Tätigkeit als Diplomat. Und er bleibt nicht lange allein.

Dervish Dumas Diplomatenpass aus dem Jahr 1938, als er Sekretär der albanischen Gesandtschaft in London war.
Und derjenige seiner Gemahlin Naftali. Die Dokumente waren handgeschrieben, unterzeichnet vom damaligen Aussenminister.

1936 reist eine junge Frau mit Namen Naftali Andoni nach England. Dervish und sie haben sich zuvor in Albanien kennengelernt und verliebt. Das Paar heiratet auf dem Standes­amt in Chelsea. Naftali findet sich in England mühelos zurecht. Die Tochter einer albanisch-orthodoxen Familie hatte in Istanbul ein amerikanisches Mädchen­internat besucht.

Eigentlich wäre nun alles perfekt. Hätte nicht ein gewisser Benito Mussolini sein Heimat­land Italien in jenen Jahren zu einer faschistischen Diktatur umgebaut – einer mit Expansionsgelüsten. In Rom brütet der Duce schon länger über der Frage, welches bislang unabhängige Land er sich als nächstes unter den Nagel reissen könnte. Libyen und Abessinien hat er bereits einverleibt, zuoberst auf der Liste steht nun Albanien.

Am 7. April 1939 marschieren italienische Streit­kräfte im Balkan­land ein. Gegen­wehr gibt es kaum. Unter anderem deshalb, weil Albanien bereits seit einem guten Jahr­zehnt unter Mussolinis militärischem Einfluss steht. Daran hat König Zog eine gewisse Mitschuld: Während die Briten die albanische Polizei reorganisierten und befehligten, taten die Italiener dasselbe mit der Armee.

Am Karfreitag des Jahres 1939, dem 7. April, überfielen Mussolinis Truppen Albanien und annektierten das Land. Bridgeman
Italienische Panzer in Tirana: Der Überfall trug sich vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zu. Popperfoto/Getty Images
Befehlshaber General Guzzoni und Aussen­minister Graf Ciano lesen ein Gratulationsschreiben «zur erfolgreichen Operation» vom Duce. Ullstein/Getty Images
Unterstützung zur See: Eines von 100 italienischen Kriegsschiffen, hier im Hafen der albanischen Stadt Durrës. Keystone-France/Gamma/Getty Images

Ausserdem hat Mussolini den Zeitpunkt für seine Invasion mit Bedacht gewählt: Der 7. April ist ein Karfreitag, und da arbeitet kaum jemand. Während sich gleichen­tags also König Zog mit seinem 2000-köpfigen Hofstaat aus dem Staub macht, übergibt der Duce die albanische Krone seinem Souverän Vittorio Emanuele III. von Italien, der sie ohne jede Begeisterung entgegennimmt, war er doch seit je ein Gegner der Annexion Albaniens.

Die albanische Gesandt­schaft in London ist nun ziemlich verwaist. Der Blinde und der Schürzen­jäger haben sich abgesetzt. Als Letzter, der übrig bleibt, steigt Dervish faktisch zum chargé d’affaires auf. Vertreter einer Nation, die soeben von der Land­karte verschwunden ist. Damit ist auch Dervishs Diplomaten­pass nur noch ein Stück Altpapier. Aus Tirana kommt der Befehl: zurück nach Hause. Doch am Vorabend des Zweiten Welt­kriegs denken die Dumas nicht daran, auf den Balkan zurück­zukehren. In der Eile stellt Dervish für sich und Naftali neue Pässe aus. Da ausser ihm nun niemand mehr da ist, muss er seinen neuen Reise­pass gleich an drei Stellen unterzeichnen: als Inhaber des Dokuments, als ausstellende Behörde sowie als Chef der albanischen Mission in London. Dreimal steht Dervishs Unter­schrift auf dem Pass.

Eigentlich war er kein Freund der Annexion Albaniens: Der italienische König Vittorio Emanuele III., hier beim Besuch einer orthodoxen Kirche in Tirana 1941, fügte sich dem Willen Mussolinis. De Agostini Picture Library/Getty Images

Doch die Pässe lösen nicht alle Probleme der Dumas. Albanien ist nun Teil Italiens, Völker­recht hin oder her. In den Augen der Briten sind die Dumas damit italienische Staats­angehörige. Und so ist der eloquente Dervish, mit dem man sich auf den Empfängen in West­minster immer genüsslich unterhalten hat, ab Kriegs­beginn Bürger einer feindlichen Macht und ein potenzieller Spion.

Die Nachteile dieses Aufenthaltsstatus wird das Paar später spüren, als sie während des Krieges in einem Dorf ausserhalb Londons wohnen: Wenn Naftali im Nachbar­ort einkaufen will, muss sie sich jedes Mal auf dem örtlichen Polizei­posten abmelden. Nach einer Weile meint der Constable, Mrs Duma möge bitte damit aufhören und einfach ihre Besorgungen erledigen.

III. Europa im Krieg

Auf dem Kontinent toben die Kämpfe. Dervish und Naftali Duma verbleiben vorerst im sicheren London – respektive im einiger­massen sicheren London, denkt man an die deutschen Bomben und die Angst, Hitler könnte den Kanal überqueren.

Doch Mussolinis Invasion hat Dervish arbeitslos gemacht. Somit ist auch das Einkommen weg, auf das Naftali und er angewiesen sind. Der Ex-Diplomat muss sich auf Jobsuche begeben. Glücklicher­weise gestaltet sich die nicht enorm schwierig, Dervishs Kontakte in die Gesellschaft öffnen ihm die eine oder andere Tür.

Das verlockende Angebot der Anglo-Persian Oil Company für einen Posten in einem kleinen Fischer­dorf am Persischen Golf namens Kuweit lehnt er jedoch ab. Beruflichen Unter­schlupf findet er bei einem Papier­fabrikanten namens Bowater. Im Nu übernimmt Dervish den Posten des Leiters der Betriebe in Übersee, da der eigentliche Leiter zur Marine eingezogen wird. Wie schon in der albanischen Gesandt­schaft steigt Dervish umstände­halber rasant auf. Entsprechend leicht fällt es ihm, Verantwortung zu übernehmen. Die Betriebe in Übersee, die er eigentlich leitet, besucht er trotzdem nie, es ist ja Krieg.

Die bereits erwähnten deutschen Bomben vertreiben so manches Unter­nehmen aus der Londoner City. Auch Firmen­chef Bowater verlegt den Sitz des Unternehmens in sein Landhaus. Und so ziehen auch Dervish und Naftali Duma von London weg, in ein Dorf namens West Horsley, zwischen Guildford und Leatherhead, wo sie einen Bungalow mieten.

IV. Widerstand am Mikrofon

Albanien existiert nicht mehr, und die Dumas sind durch den Krieg von Freunden Englands zu dessen Feinden geworden.

Doch in den Augen Gross­britanniens kann man sowohl Feind als auch Freund sein. Das ist nicht zwingend ein Wider­spruch. Schliesslich, sagt man sich im Londoner Regierungs­apparat, frohlocken die Albaner ja nicht gerade angesichts der Besatzung durch Mussolinis Armee. Und der Feind eines Feindes ist bekannter­massen ein Freund. Also suchen die Briten den Kontakt zur – sehr übersichtlichen – albanischen Gemeinde im Raum London. Die hat einen inoffiziellen Anführer, einen jungen Mann, der sich bestens auskennt.

Die BBC hat damit begonnen, Radionachrichten in diversen Sprachen in die Welt zu senden. Die Über­tragungen sollen den Wider­stand der unterjochten Völker befeuern – auch unter den Albanern. Und wer ist geeigneter, zur Stimme der Exil-Albaner zu werden, als Dervish Duma? So pendelt er nach seinem Feier­abend beim Papier­fabrikanten regelmässig in die City, um im Radiostudio in Aldwych die zehn­minütigen News auf Albanisch zu verlesen. Naftali kann sich nur mässig für das Engagement begeistern, denn deutsche Flieger bombardieren regelmässig die Bahnhöfe, an denen ihr Gemahl umzusteigen pflegt. Eine der Bomben verfehlt ihn knapp.

Unter den wirklich sehr wenigen Radio­lautsprechern Albaniens vernimmt man nun gelegentlich die Stimme Dervish Dumas, der seinen Lands­leuten daheim Mut macht. Im Hinter­land kämpfen die Partisanen gegen die italienischen, später gegen die deutschen Besatzer. Doch wo ist eigentlich König Zog abgeblieben?

Seine Majestät König Zog im englischen Exil, aufgenommen im Juni 1942. Im Bild mit seinem Sohn Prinz Leka und dessen Mutter, Königin Geraldine. Reg Speller/Fox Photos/Getty Images

Der Zufall will es, dass seine Majestät sich in London nieder­gelassen hat. Das mehr oder weniger rechtmässige Staats­oberhaupt Albaniens ist erst nach Griechen­land geflohen, dann nach Ägypten, und ist schliesslich in England gelandet. Dort residiert er mit stark geschrumpfter Entourage im Hotel Ritz. Allerdings kann er sich das Hotel nicht lange leisten, er übersiedelt schon bald mit dem mickrigen Rest seines Gefolges in ein Haus in Henley-on-Thames.

Dervish und König Zog, beide exiliert, sehen sich von nun an regelmässig. Zog ist des Englischen nicht mächtig, und Dervish bewahrt ihn gelegentlich vor dummen Fehlern – etwa, als der König versucht, ein Päckchen Zigaretten mit einer 50-Pfund-Note zu kaufen, was der heutigen Kaufkraft von mehreren Tausend Franken entspricht.

Während König Zog und sein Ex-Diplomat Dervish Duma in Henley-on-Thames über alte und neue Zeiten plaudern, bekommt Mussolini in Albanien langsam kalte Füsse. Die Partisanen leisten ganze Arbeit, unterstützt durch britische Fallschirm­jäger. (Einige von denen begegnen sich nach dem Krieg übrigens als Abgeordnete im britischen Unterhaus. Offenbar ist der Partisanen­kampf ein gutes Training für eine spätere Parlaments­karriere.) Ironischer­weise sollte Albanien schon bald wieder eine Monarchie werden. Allerdings eine ohne König Zog. Respektive ganz ohne König.

V. Die Kommunisten kommen

In Berlin fürchtet Adolf Hitler, dass Mussolini sich aus Albanien zurückziehen und so den Balkan den Alliierten überlassen könnte. Als die Italiener über die Adria setzen, übernimmt die Wehr­macht deren Part. Die Deutschen errichten wiederum ein «König­reich Albanien» und setzen als Regenten einen früheren Premier­minister ein.

In den Reihen der Partisanen kämpften auch ehemalige albanische Soldaten. Hier ein Oberst im Ruhestand mit seinen Töchtern um 1944. Hulton-Deutsch Collection/Corbis/Getty Images
Nach dem Abzug der Wehrmacht feiern die albanischen Partisanen­verbände am 28. November 1944 den Unabhängigkeitstag. Keystone-France/Gamma/Getty Images

Hitlers Albanien-Feldzug ist nicht billig, und die Deutschen spekulierten darauf, sich grosszügig aus der albanischen Staats­kasse bedienen zu können, um ihre Aufwendungen zu decken. Doch in der National­bank finden sie nur leere Tresore. Die SS hegt einen Verdacht – und spürt den albanischen Staatsschatz schliesslich bei einer Durch­suchung der italienischen National­bank in Rom auf. Mussolini hat die Reich­tümer zu sich bringen lassen. Das vorhandene Papiergeld wird sogleich nach Berlin geschickt, das vorgefundene Gold zurück nach Tirana verfrachtet.

Doch das Albanien-Abenteuer ist nicht von langer Dauer. 1944 muss die Wehr­macht unter dem Druck der anrückenden alliierten Truppen das Land verlassen. Allerdings nicht ohne das Staats­gold im Gepäck. So gelangt das albanische Gold, zuerst von den Italienern geklaut, nun nach Berlin. Den von ihnen eingesetzten Regenten nehmen die Deutschen auf seine Bitte hin auch gleich mit. Der Mann lässt sich in Wien nieder, wo er später seinen Lebens­abend als unscheinbarer Rentner verbringt.

Als Hitler und seine Führungs­riege geschlagen sind, finden die sieg­reichen Mächte zwischen den Trümmern Berlins einige Monate später den albanischen Staats­schatz: 23 Säcke Gold­münzen und 29 Kisten mit Goldbarren. Sie packen alles ein und verfrachten das Gold nach London.

VI. Europa am Boden, die Dumas im Glück

1945 geht der Krieg in Europa nach sechs Jahren verlustreich zu Ende. Mussolini und Hitler füllen nicht mehr die Plätze mit Menschen­massen, sondern fortan die Geschichts­bücher mit Details zu ihren abscheulichen Taten. Selbst die kleinsten Überreste ihrer kriegerischen Politik bleiben vielerorts sicht- und spürbar. Unter anderem beim Ehepaar Duma in West Horsley. Sie sind nun Staaten­lose. Italiener sind sie nie gewesen. Und die neue kommunistische Regierung Albaniens kann dem Gedanken, den königs­treuen Dervish mit offenen Armen zu empfangen, nichts abgewinnen. Einmal mehr hat die politische Realität Dervishs Reise­pass zu Altpapier gemacht.

Der anbrechende Friede muss auf Dervish und Naftali inspirierend gewirkt haben. Nach der Kapitulation Deutschlands und noch bevor die Amerikaner Atom­bomben auf Hiroshima und Nagasaki werfen, wird Naftali schwanger. Am 30. März 1946 gebärt sie einen Sohn, Alexander. Das Kind wird qua Geburt britischer Bürger. Wenigstens einer in der Familie hat nun eine Staats­angehörigkeit. Dervishs alte Kontakte im Aussen­ministerium ziehen anschliessend ein paar Fäden, und so folgen auch er und Naftali ihrem neugeborenen Kind als Bürger des Vereinigten Königreichs.

Während sich Baby Alexander in West Horsley, zwischen Guildford und Leatherhead, ganz hervorragend entwickelt, braut sich einige tausend Kilometer entfernt im Adriatischen Meer etwas zusammen. Ein Ereignis, das fast fünf Jahrzehnte später eine Kehrtwende in Alexanders Leben herbeiführen wird. Doch davon merkt der Kleine noch nichts, er kackt fröhlich in die Windeln.

VII. Der Kalte Krieg beginnt vor Griechenland

Schauplatz der Ereignisse ist Korfu, eine Insel im Ionischen Meer und der westlichste Punkt Griechenlands. Italien liegt weit weg auf der anderen Seite des Meers, Albaniens Küste hingegen einen Steinwurf entfernt.

Die britischen Matrosen, die am Abend vor dem 22. Oktober des Jahres 1946 durch die Gassen torkeln, sind bei den Einheimischen gern gesehene Gäste. Kein Wunder, schliesslich steht ein Kind der Insel kurz davor, die britische Thron­folgerin zu ehelichen: der 25-jährige Marineleutnant Philip Mountbatten – im Deutschen Original Battenberg – gebürtiger Prinz von Griechenland und Dänemark.

Entsprechend freundlich sind die Seeleute empfangen worden, als tags zuvor die vier Kriegsschiffe im Hafen angelegt haben. Der Konvoi ist von Malta gekommen und auf einer Goodwill-Mission auf dem Weg nach Argostoli, wo sich die Schiffe mit dem Rest der Mittelmeer­flotte vereinigen sollen.

Einigen der Matrosen brummt noch der Schädel, ein paar sind erst bei Tages­anbruch aus Schenken herausgetorkelt. Die ganz glücklichen schleichen vielleicht aus Schlaf­zimmern der einheimischen Jugend. Die Kriegs­schiffe legen ab und müssten, um ihren Kurs einzuhalten, eigentlich Richtung Süden fahren. Doch der Zerstörer HMS Saumarez und seine drei Begleit­schiffe verlassen den Hafen gen Norden. Dorthin, wo man von Korfu aus praktisch die Hand nach dem albanischen Festland ausstrecken kann.

Das Manöver findet nicht ohne Grund statt. Es ist ein Test. Festgehalten in den Umschlägen, in denen die Befehle der Admiralität an die Kapitäne stehen. «XCU» steht auf den Couverts: «Exercise Corfu».

An ihrer engsten Stelle ist die Strasse von Korfu nur gerade zwei Kilometer breit. Damit liegt die Meer­enge sowohl in den Hoheits­gewässern Griechenlands als auch in denen Albaniens. Es gilt damit das Recht auf freie Durchfahrt. Dieses hatten auch zwei britische Kriegs­schiffe, die Orion und die Superb, ein paar Monate zuvor, im Frühling 1946, geltend gemacht. Doch dann eröffneten die Küsten­batterien auf albanischer Seite plötzlich das Feuer. Zwar schossen sie daneben, doch die königliche Marine war stinkwütend. Pikierte diplomatische Noten wurden ausgetauscht zwischen dem Vereinigten Königreich und dem neo­kommunistischen Albanien. Im Anschluss schrieb die britische Admiralität in einem Telegramm an den Ober­befehlshaber der Mittelmeer­flotte, dass Seiner Majestät Regierung «zu wissen wünscht, ob die Albaner gelernt haben, sich zu benehmen».

Die Durchfahrt der Saumarez und ihrer drei Schwester­schiffe soll diese Frage klären. Falls die albanische Seite das Feuer eröffnete, würden die Schiffs­kanonen zurückschiessen, so der Befehl.

Die HMS Saumarez touchierte 1946 bei Korfu eine albanische Seemine. Das Ausbringen von Minen in dieser Zone verstiess gegen internationales Seerecht. Imperial War Museum
Die HMS Volage sollte die beschädigte Saumarez zurück in den Hafen schleppen. Dabei wurde auch sie von einer Mine beschädigt. Imperial War Museum

Im Maschinen­raum 2 der HMS Saumarez ist ein junger Mechaniker mit Namen F. W. H. Spiller am Werk. Eigentlich müsste er an diesem Tag in Maschinen­raum 1 arbeiten, aber sein Kollege Willie Ford und er haben ihre Schichten abgetauscht. Um 14.53 Uhr vernimmt Spiller einen gewaltigen Knall. Er kommt aus der Richtung, wo Maschinen­raum 1 liegt. Von dort, wo sein Freund Ford arbeitet.

Die HMS Volage, ebenfalls im Konvoi unterwegs, soll die Saumarez abschleppen. Doch während des Manövers trifft auch sie auf eine Mine. Eine weitere Explosion, noch ein Loch im Rumpf eines der Schiffe. Willie Ford und 43 andere Seeleute sterben an dem Tag auf den Zerstörern Saumarez und Volage. Weitere 42 Mann werden verletzt. Kein einziger Schuss ist abgefeuert worden – Albanien hatte die Gewässer vor seiner Küste vermint.

Das ist das Ende der Gespräche zwischen den Regierungen in London und Tirana. Zwischen keinen zwei Ländern bleibt der Eiserne Vorhang die folgenden 45 Jahre blickdichter als zwischen dem Vereinigten Königreich und Albanien.

Die Briten bringen den Vorfall vor den neuen Internationalen Gerichtshof – und gewinnen. Damit ist nun klar, was mit dem Gold der albanischen National­bank geschehen wird, das einst nach Rom und Berlin geschafft wurde und nun in London liegt: Es soll bis auf weiteres im Westen verbleiben. Bis Albanien für den Korfu-Zwischenfall geradesteht.

Jetzt, da der Eiserne Vorhang hängt, ist für Dervish seine Heimat Albanien unerreichbar. Der Staats­schatz des Landes hingegen liegt – welche Ironie – nur ein paar Meilen von West Horsley entfernt.

Da ist er nun, Mister Duma Senior. Im Osmanischen Reich geboren. Treuer Diener des Königreichs Albanien. Erst Diplomat, dann Flüchtling, dann feindlicher Ausländer und schliesslich Bürger Gross­britanniens. Sodann Staats­feind Albaniens. Er hatte einst Papiere ausgestellt. Nun verkauft er Papier, für die Firma Bowater.

Dervish Duma ist bald vierzig Jahre alt. Doch wenn er in den Spiegel schaut, erkennt er, dass sich das Gesicht Europas viel stärker verändert hat als sein eigenes.

Lesen Sie morgen: Wie der Korfu-Zwischenfall wider Erwarten zur Angelegenheit von Dervish Dumas Sohn Alexander wird. Warum dieser 1992 bei Verhandlungen auf der albanischen Seite des Konferenztisches sitzt. Und wie ein feuchtfröhliches Mittagessen in Rom den Kalten Krieg formal beendet.

Die Ehre Albaniens

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