Statuspanik – die Krankheit des Mannes

Rechtspopulistische Führer sind ein Produkt der Krise des weissen Mannes. Diese These vertrat die deutsche Publizistin Ute Scheub vor bald zehn Jahren in einem Buch. Wie denkt sie heute darüber? Ute Scheub im Gespräch mit Ute Scheub.

Von Ute Scheub (Text) und Chrigel Farner (Illustrationen), 31.12.2018

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Vorwort der Redaktion

Vor fast einem Jahrzehnt schrieb die deutsche Publizistin und TAZ-Mitgründerin Ute Scheub ein Buch, das sie «Helden­dämmerung» taufte. Es handelt von der «Krise der Männer und warum sie auch für Frauen gefährlich ist». Mittlerweile ist Scheubs Buch aus den Verkaufs­regalen verschwunden. Oder wie sie selbst sagt: «Es wird verramscht.» Doch das ändert nichts an der Aktualität des Werks.

Wer es heute liest, traut an manchen Stellen den eigenen Augen nicht. Es ist, als hätte die Autorin in eine Kristall­­kugel geschaut. Ausgehend von Figuren wie Wladimir Putin, Silvio Berlusconi, George W. Bush und Rapper Bushido, seziert sie den die Männlichkeit glorifizierenden Mann. Und liefert damit die Grundlage dafür, den späteren Aufstieg von Trump, Orbán und Bolsonaro zu verstehen. Ihr Buch wirkt wie eine Prophezeiung vieler Entwicklungen, die uns im vergangenen Jahrzehnt auf dem falschen Fuss erwischt haben.

Trifft man Ute Scheub, begegnet man einer herzlichen und boden­ständigen Frohnatur. Dahinter verbirgt sich eine kluge Analytikerin mit scharfer Feder. Als Prophetin, sagt Scheub, sehe sie sich selbst aber nicht, zumal Prophetinnen nicht sozialversichert seien.

Wir haben uns erlaubt, ihr eine etwas absurde Aufgabe zu stellen: für die Republik ein Selbst­gespräch zu führen. Ute Scheub sollte sich selbst mit ihren Erkenntnissen und Prognosen von vor einem Jahrzehnt konfrontieren. Herausgekommen ist der folgende ungewöhnliche Beitrag: Ute Scheub im Gespräch mit Ute Scheub.


Ute Scheub: Ute Scheub, der Name Trump taucht in «Helden­dämmerung» nirgends auf. Aber du hast damals vor Rechts­populisten seines Zuschnitts gewarnt.
Wenn mir jemand damals erzählt hätte, dass eine so durchsichtige Figur wie Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden würde, hätte ich ihm einen Vogel gezeigt. Schon als New Yorker Geschäfts­mann zeigte Trump einen ausgeprägten phallo­kratischen Wahn. Er liess Hochhäuser bauen, die alle anderen überragten. Er liess seinen Namen auf Wein-, Whisky- und Parfüm­flaschen setzen, auf den vergoldeten Trump Tower, auf Flugzeuge. Über Frauen redet er meist fies: «grab them by the pussy». Als Präsident fordert er nun die maximale Aufrüstung mit Atomraketen und Weltraum­flügen zum Mond und zum Mars. Jeder Psycho­analytiker müsste hier doch sagen: Das ist so plump, dass mein Beruf überflüssig wird. Deshalb hätte ich damals wahrscheinlich behauptet: Die Leute sehen doch aus drei Kilometern Entfernung, dass da ein Hypernarzisst mit einer extrem labilen Männlichkeit am Werk ist, so wackelig wie sein Trump Tower bei einem Erdbeben der Stärke 7,0. Der muss eine Heidenangst haben: vor dem weiblichen Geschlecht, vor sexuellem Versagen, vor fast allem. So einer wird doch nicht gewählt.

Deine Hauptthese von damals lautete, dass der wieder­erstarkende Chauvinismus bei Erfolg früher oder später in einen Krieg münden wird. Arbeitet Trump mit seiner harten, gewalt­orientierten Männlichkeit auf einen Krieg hin?
Ich hoffe inbrünstig, dass ich damals dummes Zeug formuliert habe. Donald Trump ist zwar ein Phallokrat, «Lügokrat» und Gewalt­verherrlicher, aber er hat sich selbst vor dem Kriegsdienst und dem Einsatz in Vietnam gedrückt. Er hat sich immer durchgeschummelt und lieber ein Leben in Saus und Braus und goldenen Badewannen gelebt. Ein Krieg wäre ihm, so hoffe ich doch sehr, viel zu anstrengend.

Gibt es ein historisches Vorbild für Trump?
Wenn überhaupt, dann Silvio Berlusconi. Beide sind Showmaster, die Politik als Entertainment aufführen und Entertainment als Politik. Ich beschrieb damals, wie sich Berlusconi bei einem EU-Gipfel hinter einer Säule versteckte. Als sich die deutsche Kanzlerin näherte, hüpfte er hervor und rief: «Kuckuck!» Eine kleine Auswahl seiner Sprüche: «Ich werde in die Geschichte eingehen, bereitet das Denkmal vor.» – «Ich bin der Jesus Christus der Politik.» – «Keiner meiner Minister ist so gut bestückt wie ich.» Berlusconi nimmt nichts ernst – ausser sich selbst. Er ist der Anti­politiker, der seinen Anhängern vermittelte: Ich hasse Politiker und ihre langweiligen Reden genauso wie ihr. Er trägt bis heute hohe Absätze und Make-up, hält Diät, besucht Schönheits­farmen, lässt sich liften und Haare in die Glatze transplantieren. Alles an ihm ist Glanz, Glitter und Flitter, alles an ihm ist barocker Unernst. «Er ist grössen­wahnsinnig. Er hat eine extreme Form des Narzissmus», sagt der Journalist Alexander Stille, Autor der Biografie «Citizen Berlusconi». «Berlusconi glaubt, dass die Welt sich um ihn dreht, und das Bizarre ist: Sie tut es auch! Er hat das italienische Universum so lange zurechtgebogen, bis es ihn jeden Tag bestätigt.» Genau dasselbe könnte man heute über Trump schreiben.

Der britische Politiker David Owen nennt so etwas «Hybris-Syndrom». Der studierte Mediziner hat darüber ein Buch geschrieben, in dem er «Hybris-Kranke» in Regierungen der letzten hundert Jahre untersucht. Grössen­wahn, sagt er, baue sich «im Laufe langer Amtszeiten auf» und zeige sich darin, dass der Kranke den Bezug zur Realität verliere, keiner Kritik mehr zugänglich sei, sein eigenes Urteil für unhinterfragbar halte und dabei immer inkompetenter werde. Diese Form von «Geistes­krankheit» habe bisher vor allem Männer befallen, allerdings auch Margaret Thatcher.

Trump ist doch vor allem ein Symptom. Die weisse Elite der Noch-Supermacht USA wird es sich nicht gefallen lassen, dass diese bald von China ökonomisch überholt wird und dass dem weissen Mann damit endgültig die Welt­herrschaft entrissen wird. Laut einer Studie des Londoner Centre for Economics and Business Research wird das im Jahr 2032 der Fall sein.
Ja, ich gebe zu: Die Gefahr eines Krieges zwischen den USA und China ist real. Trumps ehemaliger Chefstratege Steve Bannon findet dieses Szenario einer endgültigen Entscheidungs­schlacht zwischen dem christlichen Westen und seinen Widersachern ja sehr anziehend. Womöglich glauben viele im Pentagon und bei den US-Geheim­diensten, den «Schlitzaugen» müsste mal so richtig gezeigt werden, wo der Hammer hängt. Ich kann hier wie gesagt nur etwas naiv hoffen, dass Trump lieber Golf spielt oder sich in seinem Anwesen in Florida bräunt und seine Tolle föhnt. Das macht er auch jetzt schon entschieden lieber als regieren.

So martialisch wie George W. Bush im Irak­krieg ist Trump jedenfalls bisher nicht aufgetreten. Bei einem von PR-Strategen bis ins Detail geplanten Auftritt im Mai 2003 verkündete Bush: «Mission accomplished!», und unterhalb der strammen Fallschirm­gurte seiner Jagdflieger-Uniform zeichnete sich dabei ein beachtlich gewölbter präsidialer Unterleib ab. Der oberste Kriegsherr der USA showed some balls, er demonstrierte überdeutlich, dass er kein Weichei ist und da unten keine Weicheier hat. Zu allem Überfluss tat er dies auf dem Flugzeug­träger USS Abraham Lincoln, auf einem nach dem Übervater der Nation benannten Schiff.

Lenk nicht ab. Mit deiner Küchen­psychologie kannst du nicht wirklich erklären, wieso einer wie Trump immer noch so gut ankommt.
Ich glaube, Trumps Aufstieg begründet sich auch auf der Angst der weissen Männer, der bisherigen masters of the universe, auch inneramerikanisch marginalisiert zu werden. Das US Census Bureau sagt voraus, dass Weisse spätestens 2045 weniger als die Hälfte der US-Bevölkerung stellen. Der männliche Anteil unter den Weissen macht mit etwa 37 Prozent schon heute kaum mehr als ein Drittel der Bevölkerung aus. Der sexistische Rassist Trump ist das Idol des weissen Mannes, der in helle Status­panik verfallen ist, weil er seine Vorherrschaft über Frauen und Anders­häutige bedroht sieht, also seine «angestammten» Privilegien, seinen Zugriff auf weibliche Beute und die Ausbeutung von Menschen mit andersartigen Körpern. Trumps Slogan Make America Great Again meint schlicht: Make America White Again und Make America Male Again.

Das ist doch arg schwarz-weiss gedacht, im wahrsten Sinne des Wortes. Auch weisse Frauen haben die USA wieder «male» gemacht, indem sie Trump wählten.
Stimmt leider. 2016 haben ihn 53 Prozent der weissen Frauen gewählt. Vielleicht, weil sie von der Status­panik ihrer Ehemänner angesteckt wurden – viele von ihnen leben in abgehängten Regionen und verdienen wenig. Aber insgesamt gehören die Frauen zum wichtigsten Teil der Opposition, das zeigten sie schon mit dem Women’s March nach Trumps Amtsantritt. Und bei den Midterms wählten über 60 Prozent der weissen Männer die Republikaner, während fast 60 Prozent der Frauen für die Demokraten stimmten, Latinas sogar zu fast 75 Prozent und schwarze Wählerinnen zu 92 Prozent. Ein klarer gender gap. Und ein Hoffnungs­zeichen, dass so einer wie Trump vielleicht der Letzte seiner Art ist und sich demografisch bald von selbst erledigt.

Das erklärt immer noch nicht diesen schrecklichen Pendel­schlag der Geschichte nach Obama.
Für viele weisse Männer war der schwarze Präsident eine fleisch­gewordene Attacke auf ihr angeschlagenes Selbst­bewusstsein, das schwarze Zeichen ihres ökonomischen Niedergangs und ihrer politischen Entmachtung. Religiöse Fundamentalisten zeigen den Präsidenten auf Websites in islamischer Tracht und behaupten, «Hussein Obama» sei der neue «Antichrist». Seine Regierung habe den evangelikalen Christen «den Krieg erklärt», sie fördere Homo­sexuelle, Perverse, abtreibende Frauen, Vater- und Mutterlosigkeit. Die Welt habe die USA mit der Verleihung des Friedens­nobelpreises an Obama «entmannen» wollen, so der republikanische Radio­moderator Rush Limbaugh, sie liebe «geschwächte, kastrierte Vereinigte Staaten». Für jene Vorkämpfer der männlich-weissen Supermacht verschmelzen Frauen-Schwule-Schwarze, also alle vermeintlich Schwächeren, zu einer einzigen Bedrohung.

Im Mai 2019 sind EU-Wahlen. Was passiert im Europäischen Parlament?
Steve Bannon hat bereits angekündigt, durch Kampagnen seiner Stiftung The Movement den Block der Rechts­populisten und Rechts­radikalen im EU-Parlament von derzeit gut 14 auf etwa 30 Prozent der Sitze erhöhen zu wollen, um sodann die EU von innen zu zerstören. Bannon traf sich dafür bereits mehrfach mit Rechts­populisten wie Viktor Orbán, Nigel Farage, Alice Weidel, Marine Le Pen und Matteo Salvini. Letzterer nennt Flüchtlinge «Menschen­fleisch». Er hatte schon mit 17 eine Vision: «Stop invasione». Salvini meinte damit die Ausländer, vor allem Schwarzafrikaner.

Und was ist mit Putin? Hat der nicht auch das Interesse, die EU kaputtzumachen?
Ja, weil sie bei allen Mängeln immer noch weit besser funktioniert als Russland. Putin wird wahrscheinlich noch bis ins 24. Jahrhundert immer abwechselnd als Präsident und Minister­präsident amtieren, weil er es so meisterlich versteht, mit seinen durch­trainierten Muskeln das russische Reich zu verkörpern. Im Sommer 2007 präsentierte er sich seinem Volk oben ohne und posierte mit angespanntem Bizeps beim Angeln am sibirischen Strom Jenissei. Und weil der zur Schau gestellte Muskulinismus so gut ankam, liess sich Putin später als stolzer Reiter und Jäger ablichten, mit Pferd, Sonnenbrille, Fahrten­messer und Gewehr. Eine besondere Heldentat vollbrachte er 2008, als er in den sibirischen Wäldern einen riesigen Tiger mit einem Betäubungs­gewehr niederstreckte und damit einer Filmcrew angeblich das Leben rettete.

Kommt das beim russischen Volk an?
Putin würde sich nicht so benehmen, wüsste er nicht, dass er damit zu Hause punkten kann. Der Macho kommt an – zumal russische Männer besonders viel Status­panik haben. Sie haben eine weit geringere Lebens­erwartung als russische Frauen – vor allem aufgrund von Wodka­konsum, Gewalt und Selbst­tötungen. Viele russische Männer haben es als nationale Demütigung erlebt, dass die einstige Supermacht nach dem Zusammen­bruch des Real­sozialismus ihre dominante Rolle in der Weltpolitik verloren hatte. Nun soll ihr neuer Führer das wieder wettmachen. Putins Peepshows sind für seine Anhänger die sprichwörtliche Verkörperung des wiedererstarkten russischen Reiches. Grossmanns­sucht, das ist die Sehnsucht des kleinen Mannes nach übernatürlicher Grösse. «Russland den Russen!», brüllen dort rechtsradikale Demonstranten, «slawisch, russisch, mächtig!»

Hat Stärke für solche Männer auch mit Gewalt zu tun?
Durchaus, wie ein Vorfall zeigt, der während des Kreml-Besuchs des israelischen Minister­präsidenten 2006 geschah. Nicht bemerkend, dass ein Journalist über angeschaltete Saal­mikrofone mithörte, äusserte Putin sich bewundernd über Moshe Katzav, damals noch Präsident Israels, dem vorgeworfen wurde, zehn Mitarbeiterinnen sexuell genötigt oder vergewaltigt zu haben. «Grüssen Sie Ihren Präsidenten. Was für ein starker Kerl! Zehn Frauen hat er vergewaltigt», so Putin. Und weiter: «Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Er hat uns alle überrascht. Wir alle beneiden ihn.» Bei solchen Kerlen sind Sexismus und Rassismus stets untrennbar verbunden. Frauen, Nicht-hier-Geborene, Schwarze, Muslime und Schwule stehen für das «Schwache», das man besiegen und unterwerfen muss.

Putin «verkörpert» also das vermeintlich starke russische Reich. Funktioniert die Gleich­setzung von Ländern mit Körpern?
Ja. Wir Menschen fühlen und denken von Geburt an in Körper­kategorien. Ein Baby greift nach Spielzeug und lernt dadurch zu be-greifen. Wörter und Begriffe werden in unserem Gehirn mit einem neuronalen Werte­rahmen verknüpft, der aus unserer körperlichen Perspektive resultiert; neudeutsch nennt man das framing. Daher resultiert der fatale menschliche Hang, eine Nation oder Gesellschaft als Körper zu sehen. Das zeigt sich in politischen Begriffen wie «Körperschaft», «Staatsorgane», «Haupt und Glieder», «militärischer Arm» und «Oberhaupt». Menschen erhoffen sich Schutz durch diesen riesigen imaginären Nationen-Körper – oftmals symbolisiert durch Frauen­figuren wie etwa die nazi­deutsche Germania, die französische Marianne oder die US-Freiheitsstatue.

Was jetzt? Haben Nazis oder Trump-Wähler Sehnsucht nach dem Supermann oder der grossen Mama?
Solche Männer imaginieren zwar den «Volkskörper» als weiblich, aber sein «Oberhaupt» oder den Führer als männlich. Der «Volkskörper» war in der Fantasie der Nazis durchrauscht von einer «Bluts­gemeinschaft». Sie sahen ihn der Gefahr durch jüdische und kommunistische Fremd-Körper, «Parasiten» und «Blutegel» ausgesetzt. Trump und andere Rechts­populisten beschwören ähnliche Körper­bilder und Körper­ängste. Die AfD spricht vom Milieu der «Linksgrün­versifften», das ausgemerzt werden muss. Stets geht es auch um die Reinigung eines «kranken» Körpers. Und Staats­grenzen sind für sie gleichbedeutend mit Körpergrenzen.

Trump und seine europäischen Bonsai-Ausgaben wie Viktor Orbán, Matteo Salvini oder Alexander Gauland reden zudem ständig von «Flüchtlings­fluten» und «Invasionen» durch fremde Migranten. Damit wird eine Urangst aktiviert: die Angst der einheimischen Männer, in die Gewalt fremder Männer zu geraten, und die Angst der einheimischen Frauen, von fremden Männern vergewaltigt zu werden. Davor schützt dann nur ein «starker Führer» mit einem «wehrhaften» Staats­körper mit hohen Grenz­zäunen. Björn Höcke von der AfD formuliert es so: «Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wieder­entdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!»

Warum sollte sich die Status­panik der Männer denn ausgerechnet jetzt so verschärfen?
Ökonomie, Politik und Kultur feminisieren sich in den USA und weltweit. Ich habe schon 2008 geschrieben: Die Beschäftigungs­rate des weiblichen Geschlechts ist in den letzten Jahrzehnten schneller gewachsen als die des männlichen. Noch nie waren so viele Frauen im mittleren Management, in der Verwaltung und im Handel, bei Banken, Medien und in der Politik. Im unteren Lohn­segment machen sie schlecht bezahlten Männern Konkurrenz: Millionen von Frauen arbeiten als Heim- und Teilzeit­arbeiterinnen im «globalen Büro», in Klitschen, Küchen und Kellern. Trotz ihrer extrem schlechten Bezahlung wurden sie in vielen Familien sogar zur Haupt- oder Allein­verdienenden. In vielen Ländern bekommen Männer zu spüren, dass das «Normalarbeits­verhältnis» – Mann ernährt Frau und Kinder – zum Auslauf­modell geworden ist. Das nährt Frauenangst und Frauenhass. Nicht wenige Männer empfinden das als «Entmännlichung» und «Zwangs­feminisierung». Dadurch erhalten rechts­populistische und fundamentalistische Bewegungen weltweit Zulauf. Ihr Idol ist überall der durch Blut und Gewalt gereinigte Heteromann. Mit seiner stahlharten Männlichkeit ist er scheinbar unverwundbar.

Das Gegenteil ist der Fall: Die Zahl der Kriege ist global gesunken, und seit den 1990er-Jahren hat die Vielfalt in gesellschaftlichen Führungs­positionen mindestens im Westen sprunghaft zugenommen. Es gibt weibliche Staats­führerinnen. Immer mehr Lesben und Schwule, Muslime und Migrantinnen sitzen in Leitungs­positionen, bei den deutschen Grünen gibt es sogar eine Transgender-Abgeordnete.
Das ist kein Widerspruch: Rechts­populisten und Fundamentalisten setzen diesem schwindel­erregenden Wandel ihre alte, starre hierarchische Ordnung entgegen, die «gute alte Zeit». Ihr Glaube: «Früher war alles besser.» Westliche Gesellschaften «werden pluraler, liberaler und selbstverständlich diverser», sie «rücken nicht geschlossen nach rechts», schreibt der Journalist Jonas Schaible. Er nennt diese neue Konflikt­linie «Pluralitäre gegen Normalitäre». Um ein Sprichwort von Bill Clinton zu variieren: It’s emancipation, stupid.

Es geht also um Identität?
Ich mag das Wort Identität nicht. Es suggeriert eine abgeschlossene Ich-Einheit. Das Gegenteil ist der Fall: Identität ist immer Zugehörigkeit. Zu einem Geschlecht, einem Beruf, einer Klasse, einer Ethnie, einer Nation. In früheren Standes­gesellschaften war alles fest: Man wurde in einen bestimmten Stand hineingeboren und starb darin. Heute ist alles flüssig, fast schon gasförmig: Man kann den Beruf, die Staats­angehörigkeit, die Klasse und sogar das Geschlecht wechseln. Diese Entgrenzung macht vielen Angst. Man weiss seit Theodor W. Adornos Autoritarismus-Forschung, dass Rechte tendenziell hermetisch denken und fühlen, alles «Fremde» in sich ablehnen und auf äussere Fremde projizieren. Linke haben hingegen eher eine durchlässige Psyche, sie reflektieren sich eher selbst und stellen sich infrage. Ich sag mal überspitzt: Rechte reagieren auf die Entgrenzung der Moderne mit dem Ruf nach harten Grenz­ziehungen, Links­liberale reagieren mit Burn-out.

Welche Rolle spielen bei alldem Social Media?
Ich nenne sie asoziale Medien. Einsame Bildschirm­hocker kompensieren über Facebook und Co. ihre sozialen Abstiegs­ängste, und Trollfabriken produzieren Hassparolen am laufenden Band. In öffentlichen Räumen, unter der sozialen Kontrolle anderer, würden sie sich das nicht getrauen. Das begünstigt den Aufstieg rechts­populistischer Bewegungen: Die Grenzen des öffentlich Sagbaren wurden extrem ausgeweitet. Beschimpfungen und Beleidigungen sind «normal» geworden. In einem «Handbuch» für rechte Gruppen steht: «Wir alle verarschen gerne Opfer im Internet.» Dann folgen Handlungs­empfehlungen: «Beleidigen. Und da ziehe jedes Register. Lass nichts aus. Schwacher Punkt ist oftmals die Familie.» Tausende fluten nach dieser Gebrauchs­anweisung die Kommentar­spalten der Medien. Sie erzeugen dadurch ein Grund­rauschen, das eine virtuelle Riesenwelle suggeriert, die sie wiederum sehr real in die Parlamente hebt. Das wiederum verändert die Grundwerte und die Politik.

Zum Beispiel gegenüber weiblichen Abgeordneten?
Laut einer Studie der Inter­parlamentarischen Union haben 85 Prozent der befragten Parlamentarierinnen in den Mitglieds­ländern des Europarates bereits Gewalt erfahren: sexuelle Übergriffe, körperliche Bedrohungen oder sexistische Reaktionen in den asozialen Medien. Fast die Hälfte wurden mit dem Tod, Vergewaltigung oder Schlägen bedroht. Männer mit Status­panik meinen, Frauen mit solchen Methoden niederhalten zu müssen. Aus der Forschung weiss man schon lange, dass es bei Vergewaltigung nicht um sexuelle Lust geht, sondern um Macht und Unterwerfung. Dieser Kampf zwischen «normalitären» Männern einerseits und «pluralitären» Frauen, Schwulen und Minder­heiten andererseits wird noch eine Weile andauern. Ich hoffe natürlich, dass die Frauen ihn auf längere Sicht gewinnen.

Also Alice Weidel und Co.?
(Stöhnt.) Ich gebe zu, diese seltsamen weiblichen Figuren auf rechts­populistischer Seite machen mir zu schaffen: Sie «verschmutzen» die klare ideologische Einordnung, weil sie gleichzeitig Anführerinnen sind und sich dennoch mit offen­sichtlicher Freude Männern unterordnen. Frauke Petry, früher Partei­sprecherin der AfD, bekannte: «Ich hab nichts dagegen, dass Frauen das schwache Geschlecht sind.» Und die rechte Vordenkerin Caroline Sommerfeld schlug sogar vor, das Frauen­wahlrecht wieder abzuschaffen: «Es entspricht meiner weiblichen Natur, Männer für mich entscheiden zu lassen.» Es fällt mir schwer, diese Sklavinnen-Mentalität zu erklären.

Du machst es dir zu einfach: Alice Weidel ist bestimmt keine Sklavin.
Die ist mir das grösste Rätsel. Lebt offen lesbisch mit einer Frau aus Sri Lanka in der Schweiz zusammen, zumindest bis vor kurzem. Und wettert gegen Migrantinnen und die Homoehe für Flüchtlinge. Sie arbeitete für Goldman Sachs, die AfD in ihrem Wahlkreis nahm illegale Gross­spenden der Zürcher Pharma­firma PWS entgegen, und so eine zieht gegen «korrupte Eliten» zu Felde. Absurd!

Und wieso führt mit Marine Le Pen eine Frau eine rechts­extreme Männerpartei an?
Marine Le Pen hat jahrzehnte­lang nur eine Rolle gespielt: die der Vater­tochter, die sich dem über­mächtigen Papa und seinen Zielen unterordnet. Jean-Marie Le Pen war ein autoritärer Rassist und Antisemit, der 1972 den Front national gründete; sein Verlag vertrieb unter anderem Reden von Mussolini, Hitler und Pétain. Als Marine acht Jahre alt war, explodierte im Haus der Familie eine Bombe, die ihrem Vater galt. Das war ihr Trauma, das sie an ihren Vater kettete, den sie als bedroht ansah; laut eigener Aussage «der Mann meines Lebens». Seitdem reagiert sie reflexhaft auf Verdächtigungen, hinter allem wittert sie Verschwörungen, und wenn sie angegriffen wird, geht sie sofort in die Offensive. Nachdem ihre Mutter die Familie verliess, baute ihr Vater die studierte Juristin als seine Nachfolgerin auf. Doch als er in einem Interview erneut Pétain verherrlichte, wurde er mit Zustimmung seiner Tochter aus dem Front national ausgeschlossen.

Dieser «Vatermord» widerspricht doch völlig deiner These von der unter­geordneten Vatertochter.
Interessanterweise eben nicht. Marine Le Pens Mutter sagte über ihre Jüngste, sie sei «ein absoluter Klon ihres Vaters», und deshalb überrasche sie dieser «Vatermord» gar nicht. Zwischen den Zeilen gelesen: Meine Tochter wendet dieselben Strategien an wie mein Ex-Gatte. Vielleicht ist sie sogar noch raffinierter. Denn mit einer Frau an der Spitze wurde der Front national auch für weisse Frauen aus der Arbeiter­klasse wählbar.

Noch so ein Wider­spruch: Rechts­populismus ist angeblich der Status­panik der westlichen weissen Männer geschuldet. Warum findet er dann in Ost­deutschland mehr Resonanz als in Westdeutschland?
In Ostdeutschland vermengt sich das mit ganz anderen Problemen. Dem DDR-Volk wurden die west­deutschen Institutionen übergestülpt, ohne dass es etwas zu sagen gehabt hätte. Die Vereinigung hinterliess Gefühle der Vergewaltigung und der Unterwerfung, der Scham und der Bitternis. Die Menschen fühlten sich überrollt – Gift für demokratische Grund­überzeugungen. Als ab 2015 viele Flüchtlinge kamen, wurde die Verbitterung noch tiefer. «Die kriegen alles und wir nichts», hiess es. Eine grässliche Form von Opfer­konkurrenz baute sich auf. Das war der Boden für Pegida und AfD.

Hinzu kommt der Frauen­mangel im Osten, was die Status­panik der dortigen Männer noch erhöht. Die ostdeutsche TAZ-Redaktorin Simone Schmollack schrieb von «maroden Männern» im Osten: «Nach der Wende hat der marode Mann einiges einstecken müssen. So musste er zugucken, wie die jungen Frauen und Mädchen, die in der Schule schon besser waren als er, ihre Sachen packten, in den Westen zogen und Westmänner heirateten. Der Osten dünnte aus, der marode Mann blieb verlassen zurück ... Seit einiger Zeit fürchtet er zudem die männlichen migrantischen Zuwanderer. Männer!» Die Kabarettistin Carolin Kebekus drückte es noch drastischer aus: Männer in solchen fast frauenfreien Gegenden fühlten einen «Samenstau bis hinein in den erigierten Arm».

Wenn das eine Phase der Geschichte ist – wie kommen wir heil durch?
Zum Beispiel, indem wir auf konventionelles Fleisch verzichten.

Friede durch Vegetarismus? Ich muss doch sehr bitten. Hitler war auch Vegetarier.
Am 1. Januar 2019 tritt der «Tropen-Trump» sein Amt als brasilianischer Präsident an: Jair Bolsonaro. Er will den Amazonas – die grüne Lunge des Weltklimas – zugunsten von Gensoja abholzen. Damit werden hiesige Kühe und Schweine gefüttert. Wenn die Schweiz und die EU ihre Handels­beziehungen mit Brasilien aufkündigten, sobald Bolsonaros Leute Indigene umbringen und den Urwald abholzen, wäre das sehr wirksam.

Bolsonaro ist noch schlimmer als Trump, er ist offen faschistisch. Er verherrlicht die brasilianische Militär­diktatur, verachtet Frauen, Schwule, Nichtweisse. «Es wird eine in Brasilien niemals gesehene Säuberung geben», kündigte er an. «Ich bin für Folter. Und das Volk ist auch dafür.» Einer Abgeordneten sagte er ins Gesicht: «Ich würde dich nie vergewaltigen, weil du es nicht wert bist.» Schwarze seien faul und «tun nichts». Wenn sein Sohn schwul wäre, würde er es «vorziehen, dass [er] bei einem Unfall ums Leben kommt». Für Indigene soll es «keinen einzigen Quadrat­zentimeter» Schutz­gebiet im Amazonas mehr geben. Und sein Top­berater Luiz Antônio Nabhan Garcia will sich mit dem Weltklima­vertrag «den Hintern abwischen». Das sollten wir ihm vermasseln. Unter anderem mit Fleischboykott.

Wieso wurde so einer mit 55 Prozent der Stimmen demokratisch gewählt – obwohl er so offen­sichtlich die Interessen einer knallharten Minderheit vertritt? Frauen, Schwarze, Indigene, Schwule und Queers – die sind zusammen die Mehrheit.
Erstens hat sein Wahlteam über Whatsapp eine offenbar höchst erfolgreiche Dreck-und-Lügen-Kampagne gegen den Gegen­kandidaten von der Arbeiter­partei geführt. Whatsapp ist sehr beliebt: Arme in den Slums lesen keine Zeitungen, aber Whatsapp-Nachrichten auf ihren Smart­phones. Zweitens wurde die Zeit der Militär­diktatur nie öffentlich aufgearbeitet, die Täter wurden nie bestraft. Und das, was verdrängt wurde, kehrt nun wieder.

Nochmals – wie kommen wir heil durch diese Phase?
Das Prinzip klingt banal: Gewöhnung. Irgendwann haben auch die letzten Appenzeller gemerkt, dass das Frauen­wahlrecht sie nicht in die Hölle bringt. Fremdenhass – das zeigt sich am deutlichsten in der Ex-DDR – gedeiht vor allem da, wo es keinen Kontakt zu Fremden gibt. Beim Schwulen­hass ist es ähnlich. Und man kann relativ optimistisch sein, dass sich noch zeigen wird, wie sinnlos nationalistische Aufwallungen und Abschottungen sind, wenn es um globale Probleme wie Ungleichheit, digitale Gefahren oder Finanzkrisen geht. Auch die von der Klimakrise ausgelösten Stürme und Extremwetter werden nicht kehrtmachen, wenn sie irgendwo auf das Schild «Ungarn» oder «USA» treffen.

Also reicht es, darauf zu vertrauen, dass sich alles irgendwann von selbst regeln wird?
Nein, wir müssen uns auch aktiv darum kümmern, gesellschaftliche Polarisierungen aufzulösen. Analog miteinander zu reden, sich zu begegnen, miteinander zu streiten, das ist in einer Welt der Monologe in digitalen Echo­kammern nötiger denn je. Die Medien haben hier eine zentrale Rolle. Sie sind quasi die Augen, über die eine Gesellschaft sich selbst wahrnimmt, sie schaffen Resonanz. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich nicht ständig auf jene Probleme konzentrieren, die Rechts­populisten stark gemacht haben. Denn sie verstärken deren Sichtweise auch, wenn sie deren Anführer lautstark kritisieren. Wirksam ist es auch, die Eskapaden und Hass­kapaden rechts­populistischer Politiker dem öffentlichen Spott preiszugeben. Nicht die Männer selbst, sondern ihr menschen­feindliches Benehmen, das ist ein feiner, aber entscheidender Unterschied.

Die Öffentlichkeit verlangt doch immer auch nach Studien und nackten Zahlen als Beweisen. Wie wäre es damit?
Es gibt klare statistische Belege dafür, dass Gesellschaften mit starker Gleich­berechtigung und Inklusion aller Mitglieder friedlicher und glücklicher sind. Frauen­quoten im Parlament können zum Beispiel das Risiko für Bürger­kriege senken. Sobald der Frauen­anteil dort um 5 Prozent steigt, so eine Analyse des schwedischen Friedens­forschers Erik Melander von 2005, neigt ein Staats­apparat statistisch gesehen fünfmal weniger zu Gewalt bei Ausbruch einer Krise. Wenn 35 Prozent oder mehr Frauen im Parlament sitzen, dann geht das Risiko gegen null, dass die Gesellschaft in den früheren Gewalt­konflikt zurückfällt. Offenbar werden Frauen als Brücken­bauerinnen zwischen verfeindeten Parteien wahrgenommen. Sie treten oft vermittelnd auf, agieren nicht hierarchisch, sondern inklusiv, und bestehen auf zivilen Konfliktlösungen.

Die US-Friedensforscherin Mary Caprioli fand in statistischen Vergleichen von 159 Ländern interessante Zusammen­hänge: Staaten, in denen Frauen eine nur geringe gesellschaftliche Rolle spielen, neigen dazu, ihre Konflikte mit Gewalt auszutragen. Das gilt auch umgekehrt: je grösser die Geschlechter­gerechtigkeit einer Nation, desto friedlicher. Und: In Ländern mit vergleichsweise hoher ökonomischer und geschlechtlicher Gleichheit leben nicht nur Frauen, sondern auch Männer gewaltärmer, länger und zufriedener, glücklicher und gesünder.

Warum ist das so? Es ist doch purer Biologismus, zu unterstellen, Frauen seien die besseren Menschen. Siehe Marine Le Pen oder Alice Weidel.
Das stimmt leider. Ich vermute: Wer als Kind erlebt, wie die Mutter vom Vater diskriminiert und geschlagen wird, glaubt oft an die «Legitimität» von Gewalt – auch gegen Minder­heiten oder gegen andere Nationen. Die erlebte Aggression setzt sich also fort – und legitimiert Gewaltakte gegen alle, die anders sind. Ungleichheit fördert Gewalt. Der tradierte Geschlechter­unterschied ist ansteckend und wird in andere gesellschaftliche Hierarchien übersetzt. Gewalttätige Auseinander­setzungen wegen ethnischer, sozialer oder religiöser Differenzen sind in patriarchalischen Gesellschaften viel häufiger als in eher egalitär organisierten, etwa in Skandinavien.

Männliche Rechts­populisten vergeigen also ihr privates Glück und ihre Gesundheit?
So ist es. Die feministische Autorin Margarete Stokowski hat eine Studie der Partnerbörse Gleichklang ausgegraben, wonach sich Wähler von Rechts­populisten besonders häufig beklagen, dass sie «in der Liebe verarscht» worden seien. Kein Wunder: Viele Frauen finden Typen, die zu Hass und Gewalt neigen, unattraktiv. Hass macht hässlich.

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