Am Wegesrand

Der verklebte Stern von Bern-Bethlehem

Von Isabelle Schwab, 24.12.2018

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Bern-Bethlehem könnte mit seinem Namen die Weihnachtshochburg schlechthin sein. So richtig gelingen will dies dem Quartier mit 14’500 Einwohnern im Westen der Bundeshauptstadt allerdings nicht.

Das Christspiel findet nur alle zwei Jahre statt, und der Weihnachtsmarkt dauert exakt zwei Tage. Jedes Jahr wird er etwas kleiner: Die Stände lohnen sich nicht, zu wenige besuchen den Markt.

Die Post hat zwar einen weihnachtlichen Sonderstempel kreiert, doch der ist nur vier Tage gültig. Genutzt wird er vor allem von ein paar Senioren, die ihre Weihnachtskarten mit dem Stempel «Bethlehem» an ihre Liebsten verschicken.

Und dann ist da noch der Stern von Bern-Bethlehem. Nein, es handelt sich nicht um einen gigantischen Stern auf dem Hauptplatz. Der Stern besteht aus einem schlichten Metallgestell, umrandet von einer LED-Lichterkette, und steht auf dem höchsten Hochhaus des Quartiers. Dieses trägt immerhin den Namen Melchior. Daneben stehen Balthasar und Kaspar.

Man gibt sein Bestes in Bern-Bethlehem. Man versucht. Im Versuchen hat man hier nämlich Erfahrung.

Angefangen hat es schon in den 1950er-Jahren. Damals standen in Bethlehem noch 143 Reihen-Einfamilienhäuser. Vorzeigefamilienhäuschen mit grossem Garten. Liebevoll werden sie heute «Kriegssiedlung» genannt. Denn der Garten wäre gross genug gewesen, um im Kriegsfall die Familien zu ernähren. Die Grünfläche wurde den Reihenhäusern aber zum Verhängnis. Denn in den 1960er-Jahren drohte eine Wohnungsnot. Zum ersten Mal fielen in dieser Zeit die Zauberworte «verdichtetes Bauen». Die kleinen Gärten mussten Hochhäusern weichen.

Innerhalb weniger Jahre stampfte die Stadt das grösste Wohnbauprojekt der Schweiz aus dem Boden: das Tscharnergut. «Schiibehüüser» werden die Wohnblöcke von den Anwohnern genannt, denn sie sehen aus wie aus einer Cremeschnitte ausgeschnitten. Die Laubengänge entlang der Häuser waren als Begegnungszone gedacht und geben der Siedlung heute ihren unverwechselbaren Look.

5000 Menschen sollten hier ein neues Heim finden. Und am Anfang lief alles nach Plan: Büezer und Beamte lebten mit ihren Familien in den zur damaligen Zeit luxuriösen 3,5-Zimmer-Wohnungen. Günstiger Wohnraum und autofreie Bereiche, dazu eine moderne Einbauküche und ein Lift, der in den Zwischengeschossen hält. Das alles war revolutionär für diese Zeit.

In den 1980ern begannen die ersten Hochhauspioniere wegzusterben oder ins Pflegeheim umzuziehen. Nachgezogen sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. In ganz Bethlehem leben 5700 Menschen mit ausländischem Pass zusammen mit 8700 Schweizerinnen. 2500 Menschen, also knapp ein Fünftel, sind über 65 Jahre alt.

Das Quartier erinnert an ein Altersheim, in dem gelegentlich ein paar Möchtegern-Bushidos durchs Bild rennen.

Doch viele sind stolz auf das Heruntergekommene, die Plattenbau-Tristesse, die «Betonwüste», den «Chüngelistall», wie es 1971 in einer Folge von «Heute Abend in …» des Schweizer Fernsehens hiess – Bezeichnungen, die am Quartier bis heute hängen geblieben sind. Teenager protzen mit dem Ghettohaften, sprayen 3027, die Postleitzahl von Bethlehem, an Wände, tätowieren sie sich auf die Fingerknöchel. Vorbilder sind Rapper aus dem Quartier.

Rapper G-Shit ist so etwas wie das Maskottchen von Bethlehem. Als Teenager war er die Hauptfigur im Film «Moi c’est moi» (2011) und spielte einen Jungen, der seinen Platz in der Gesellschaft noch sucht. Heute gibt er in seinen Rap-Videos den Macker vom Ghetto-Block. Mit Goldkette und dicker Uhr zitiert er die US-amerikanischen Gangsta-Rapper und macht sich über den Nachwuchs lustig: Nur weil sie einmal in Untersuchungshaft gewesen seien, seien sie noch keine Tupacs. Nur er, G-Shit, ist the real shit.

Kriminalität und Drogen sind normal im Viertel. Dass Jugendliche vor der Kirche kiffen, gehört ebenso zum Bethlehemer Selbstverständnis wie die Tatsache, dass der Kiosk im Tscharnergut dieses Jahr schon siebenmal ausgeraubt wurde.

Seit drei Wochen hat der Tscharni-Kiosk nun einen neuen Besitzer. Duret hat den Laden von seinem Onkel übernommen. Auf engstem Raum verkauft er Lose, Zigaretten, Zeitschriften und Süssigkeiten für die Kinder der nahe gelegenen Schule. In den Sesseln neben dem Eingang hängt noch der abgestandene Zigarettenrauch von den Herren, die hier gelegentlich die Zeitung lesen.

Duret sitzt hinter den Zeitschriften, eingerahmt von Kaugummi und Glückslosen, und spielt mit seinem Handy. Der 23-Jährige ist Pragmatiker. Siebenmal Einbruch? Kein Problem. Er ist gerüstet. Er hat sich eine Alarmanlage und polycarbonverstärkte Fenster besorgt. Er will vorbereitet sein für die Festtage. Dann blickt er aus seinem Kabäuschen.

Vor seinem Laden steht ein Stern. Auch er ist ein Stern von Bethlehem, ein Glockenspiel, das Architekten dem Tscharnergut geschenkt haben.

Vor einigen Jahren hatte der Blitz in das Metallgebilde eingeschlagen. Notdürftig wurde es mit Klebestreifen repariert. Im Sommer darauf ist der Kleber geschmolzen und in die Mechanik getropft. Seither hat nie wieder jemand die Glocken des Glockenspiels gehört.

Das letzte Mal, dass dieser Stern von Bethlehem Menschen anzog, war im Sommer 2016, als das Mobilegame Pokémon Go auf den Markt kam. Tausende Jünger pilgerten zum Glockenspiel, wo sich ihr Messias, ein ganz spezielles Pokémon, versteckt haben sollte.

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