Wir neuen Religiösen

Das spirituelle Bedürfnis der Menschen ist in säkularisierten Gesellschaften ungebrochen. Daraus erwachsen erbitterte Konflikte. Die politische Linke ist darauf besonders schlecht vorbereitet.

Ein Essay von Isolde Charim, 22.12.2018

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Die Säkularisierung bedeutete kein Ende der Religionen (Bild: Halbinsel Valdés, Argentinien). Elliott Erwitt/Magnum Photos/Keystone

Ob Burkaträgerinnen im Park oder das Kreuz im Klassenzimmer – Religion steht im Zentrum hitziger Gegenwartsdebatten. Aber bedeutet das, wie oft zu lesen, eine Rückkehr der Religionen? Ein naheliegendes, aber irreführendes Urteil.

Denn für eine Rückkehr braucht es zweierlei.

Zum einen kann nur zurückkehren, was vorher auch weg war. In der gängigen Version ist die Moderne das Zeitalter der Säkularisierung, wo die Religion aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt und die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche religiös entleert werden. Womit auch der religiöse Glauben dahinschwindet. Aber die Geschichte ist keine lineare Fortschrittserzählung, die von der Illusion zur Aufklärung voranschreitet.

Deshalb muss man den Blick auf die Säkularisierungsthese neu justieren. Säkularisierung gilt einer bestimmten Form von Religiosität. Wenn man Religion nicht nur nach Inhalten, tradierten Formen und gefestigten Institutionen bestimmt, sondern auch funktional betrachtet, nach ihrer gesellschaftlichen Funktion, dann zeigt sich etwas, was die Säkularisierung nicht oder nur unzureichend erfasst hat: das spirituelle Bedürfnis.

Emile Durkheim hat die religiöse Grundoperation als die Unterscheidung zwischen heilig und profan bestimmt – eine Unterscheidung, die an vielen Objekten getroffen werden kann. Vieles kann religiös aufgeladen, profane Dinge können vergöttlicht werden.

So konnte man zum Beispiel in den 1960er-Jahren beobachten, wie sich eine Welle von spirituellen Energien verlagerte. Nachdem das Angebot der Amtskirchen nicht mehr gegriffen hat, war eine massive Verschiebung der religiösen Bedürfnisse hin zum Quasireligiösen zu beobachten. Eine solche spirituelle Aufladung haben etwa die Sexualität, Drogen oder politische Militanz erfahren. Nach der Massenerfahrung, die die Religion mit der ganzen Gesellschaft, mit der Nation kurzgeschlossen hat, war dies eine Welle von Religiosität als ein Erlebnis von Gruppenintensität.

Damit sind wir aber noch nicht bei unserer heutigen Situation. Heute haben die Amtskirchen grösstenteils noch immer kein adäquates Angebot. Aber auch die Verheissungen der «Götter» aus den Sixties, die Aufladungen von Sex, Drogen und Politik, haben nicht gehalten. Sie haben sich verbraucht – oder waren einfach eine Enttäuschung. So haben wir heute freigesetzte spirituelle Bedürfnisse und Energien.

Heute haben wir es mit einer neuen Form des Religiösen zu tun (Bild: in der Grabeskirche in Jerusalem, Israel). Mahesh Shantaram/VU/laif

Die Religionen können also nicht zurückkehren, weil sie nie weg waren – sie hatten nur eine andere Form angenommen. Säkularisierung bedeutete kein Ende der Religionen, sondern eine Umleitung der religiösen Autoritäten und Institutionen hin zu anderen Formen.

Das «pure Religiöse»

Und genau darin liegt auch der zweite Grund, warum man nicht von einer Rückkehr der Religionen sprechen kann. Rückkehr würde bedeuten, dass das Alte wieder auftaucht. Womit wir es heute aber zu tun haben, ist etwas Neues – eine neue Form des Religiösen.

Hier möchte ich der Argumentation des französischen Politik­wissenschaftlers Olivier Roy folgen. Roy schreibt, die Säkularisierung habe die Religion nicht gelöscht – sie habe sie losgelöst von der Kultur. Genauer gesagt haben Säkularisierung und Globalisierung zu dieser Trennung beigetragen. Was dabei herauskommt, ist ein «pures Religiöses» – pur insofern, als Religionen nun nicht mehr territorial, kulturell oder politisch fixiert sind. Sie sind vielmehr autonom geworden – so autonom, wie sie es vielleicht noch nie waren.

Die heutige Situation ist diese: Frei zirkulierende Religionen treffen auf freigesetzte spirituelle Bedürfnisse.

Lokal und kulturell losgelöste Formen eines «puren Religiösen» treffen auf die Enttäuschten und deren nicht gerichtete spirituelle Energie. Dabei kommt es zu den unterschiedlichsten, unerwartetsten Verbindungen: protestantische Brasilianer, anglikanische Nigerianer, europäische Salafisten, evangelikale Ex-Hippies.

Diese neuen religiösen Bewegungen verwischen die alten Karten, die Territorien, die Identitäten, wie Roy schreibt.

Es sind diese Verbindungen, es ist dieses (zum Teil massive) Aufeinandertreffen, das wir heute beobachten und fälschlich als «Rückkehr der Religionen» bezeichnen. Die vermeintliche Rückkehr ist eine Mutation, eine Reformulierung des Religiösen. Denn es ist klar: Was bei einer solchen Begegnung herauskommt, ist etwas anderes als das, was wir bisher unter Religion oder Religiosität verstanden haben.

Entscheidung zur Unterwerfung

Das beginnt schon beim Zugang. Man wird heute nicht von Kind an in die Religion einsozialisiert – wie es bei den in Kultur eingebetteten Religionen der Fall war. Der Zugang zur Religion ist heute wesentlich der einer Konversion: Man konvertiert zu diesem puren Religiösen – und zwar oft in den erstaunlichsten Variationen. Grundlage dieser neuen Religiosität ist eine Entscheidung – eine Entscheidung, die der Einzelne als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt trifft. Ohne äusseren Druck, ohne Missionierung. Eine Auto-Konversion, die aus der persönlichen Biografie folgt.

Nicht selten sind Unzufriedenheit oder Scheitern die Beweggründe. Das Paradoxe daran ist, dass man zwar als autonomes Subjekt diese Entscheidung trifft – aber dies oft eine Entscheidung zur Unterwerfung ist.

Frei zirkulierende Religionen treffen auf freigesetzte spirituelle Bedürfnisse (Bild: Meditierende in Saltburn, Grossbritannien). Jonas Bendiksen/Magnum Photos/Keystone

Diese Vereinzelung des Zugangs zum Religiösen verändert auch das Ziel der neuen Religiosität. Die Amtskirche hat durch Rituale und wiederkehrende Festtage Gewohnheiten geschaffen – und damit eine passive Religiosität ermöglicht. Man war aufgehoben in Wiederholungsstrukturen, die auch ohne eigene spirituelle Investition trugen. Im Unterschied dazu zielt das gegenwärtige spirituelle Begehren nicht auf eine solche Kanalisierung und Formalisierung des Ausseralltäglichen – sondern auf die Intensivierung des Lebens.

Das taten frühere Formen, vor allem Formen des Quasi-Religiösen natürlich auch. Massenerlebnisse, von revolutionären Erhebungen bis hin zu Popkonzerten, hatten unausgesprochen immer dieses Moment von Intensitäts­steigerung. Dieses Moment, wo der Glaube die Form eines kollektiven Erlebens annimmt, wo er ein «Gefühl der Fülle» (Charles Taylor) erzeugt – das Gefühl also, dass das Leben dabei «voller, reicher, tiefer, lohnender» sei.

Heute gilt die Suche einer Intensivierung des einzelnen Lebens – es ist dies die Suche nach einem unmittelbaren, nach einem spontanen, direkten, individuellen Erlebnis des Heiligen.

Das hat ebenfalls eine paradoxe Folge: Die neuen Gläubigen wenden sich aus einer Unzufriedenheit mit der immanenten Ordnung heraus einem Glauben zu; zugleich aber leben wir nicht mehr in einer Welt, in der dieser «Ort der Fülle» zwangsläufig in einem Jenseits vermutet wird.

Rituale und wiederkehrende Festtage haben Gewohnheiten – und eine passive Religiosität – geschaffen (Bild: Betende in Srinagar, Indien, 1948). Henri Cartier-Bresson/Magnum Photos/Keystone

Auch die Religionen steigern ihre Diesseitsperspektive. Weshalb heutige Gläubige zwar eine stark affektive Praxis suchen – sich zugleich aber wesentlich an Verboten und Geboten orientieren, die ihnen die fehlende Kultur ersetzen. So kommt es etwa zu den «ständigen Fragen an die Imame auf islamischen Websites, was haram (verboten) und halal (erlaubt) sei», wie Francis Fukuyama schreibt. Es gibt da geradezu eine Obsession mit religiösen Regeln. Diese Regeln genau zu befolgen, zielt aber auf die immanente Lebensführung – und nicht auf einen transzendenten Glauben.

Das Profane wird zum Feind

Orientieren sich Menschen an den Vorschriften und an religiösen Markern, die zwischen profan und heilig unterscheiden, kann das eine strikte Abgrenzung befördern: eine Abgrenzung zwischen einer «religiösen Innenwelt und einer verwerflichen Aussenwelt», wie das der Soziologe Andreas Reckwitz nennt. Schlimmstenfalls folgt daraus eine vollständige Entwertung dieser Aussenwelt. Sie wird dann nicht nur als profan, sondern regelrecht als feindlich wahrgenommen. Die Reformulierung des Religiösen erweist sich somit oftmals als eine Verschiebung von den traditionellen Ausprägungen hin zu charismatischen oder fundamentalistischen Formen.

Dabei wird die strikte Trennung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, zwischen religiöser und nichtreligiöser Welt, in eine Barriere verwandelt – eine Barriere, die droht, die gemeinsame gesellschaftliche Basis aufzukündigen.

Und noch ein Paradox: Gerade diese individuelle «Konvertiten»-Religiosität hat zur Folge, dass Religion entprivatisiert wird. Das lange funktionierende Arrangement der Religionen mit der säkularen Gesellschaft, mit der Alltagspraxis, mit dem areligiösen Staat – jene Friedensformel, wonach die Religion als Privatsache von der Res publica, von den öffentlichen Angelegenheiten, getrennt und unterschieden wird –, dieses Arrangement wird von den neuen religiösen Bewegungen zunehmend infrage gestellt. Denn die wollen sich nicht auf Privatheit reduzieren lassen. Sondern als Gläubige ins Licht der Öffentlichkeit treten. Eine heikle Entwicklung, stellt sie doch die Grundlage der freiheitlichen Gesellschaftsordnung infrage.

Allerdings gilt das keineswegs für alle Formen der Religiosität. Ganz im Gegenteil gibt es auch Religiöse, die wesentliche gesellschaftliche Arbeit leisten: etwa im Umgang mit Flüchtlingen oder im politischen Aktivismus. Dabei handelt es sich vorwiegend um jenen Teil der Gesellschaft, der die Religion der Amtskirchen weiterführt und oftmals von unten zu erneuern versucht. Man denke nur an die massive christlich motivierte Flüchtlingshilfe insbesondere in Deutschland und Österreich. Oder an den protestantischen Marsch durch Europa gegen den Klimawandel.

Wir haben also neue religiöse Strömungen, die massiv an der Einbindung aller in die Gesellschaft arbeiten und so die gesellschaftliche Integration befördern. Und wir haben religiöse Strömungen, die die Trennung, die Abspaltung von der Gesellschaft forcieren.

Die Rechten und die Religion

Wie aber sieht es mit den ehemaligen politischen Ersatzreligionen aus? Was die Rechten, näherhin den rechten Populismus, anlangt, muss man ganz klar festhalten: Hier gibt es keine Rückkehr zum Quasireligiösen, also zur politischen Theologie. Im Unterschied zum Faschismus, der ganz auf die eigene religiöse Dimension gepolt war, ist der Populismus religiös enthaltsam – bis auf ein paar Versatzstücke, die er reaktiviert.

Die Rechten versuchen, die Religion wieder in die Kultur einzubinden (Bild: «Kreuzabnahme» von Peter Paul Rubens im Palais des beaux-arts, Lille, Frankreich). Harry Gruyaert/Magnum Photos/Keystone

Eines dieser Versatzstücke bezieht sich auf das zentrale mythologische Element jeder politischen Theologie: den Kampf. Der Rechtspopulismus hat dieses Mythologem übersetzt. Er hat aus dem Kampf für die Zukunft, etwa im faschistischen Konzept des Neuen Menschen, einen Kampf gemacht, der die Immanenz nicht verlässt: Rache.

Rache an den Eliten, Rache an den Fremden – das ist kein Versprechen auf die Zukunft, aber es bindet viele quasireligiöse Energien im Hier und Jetzt.

In Bezug auf die tatsächlichen, die De-facto-Religionen, hingegen haben die Rechtspopulisten ein klares Ziel: Sie versuchen, die Religion wieder in die Kultur einzubinden und die gelockerte Beziehung zu befestigen. Gewissermassen programmatisch dafür ist etwa ein Liedtext des österreichischen Schlagersängers Andreas Gabalier: «I glaub an mei Land und die ewige Liab / Nix is mehr daham als ein Schnitzel aus der Pfann / Tradition leben, mit der Zeit gehen – … In einem christlichen Land hängt ein Kreuz an der Wand ... / Vaterunser beten, Holzscheitelknien».

Es ist dies geradezu die Beschwörung einer Verdichtung von Religion und Kultur. Da geht es nicht darum, spirituelle Energien zu stillen, sondern darum, diese Energien und Bedürfnisse auf Nationalismus umzulenken – also Letzteren aufzuladen. Auch nicht gerade ein Beitrag zur Integration des pluralisierten Religionsuniversums.

Und die Linken?

Auch sie sind ihrer politischen Theologie verlustig gegangen. Allerdings ohne daraus auch nur Versatzstücke reaktivieren zu können – oder dies überhaupt zu wollen. Denn das Quasireligiöse der politischen Linken war auf Transformation ausgerichtet – weshalb dessen wesentliche Ressource die Hoffnung war. Und diese Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft, auf eine andere, bessere Gesellschaft, ist verbraucht. Sie lässt sich nicht mehr reaktivieren. So hat die Linke keinerlei Übersetzung ihrer Mythologeme – weder der Utopie noch des Kampfes – in die Immanenz gefunden.

Der Umgang der Linken mit den De-facto-Religionen hingegen ist schwierig. Die alte Tradition linker Religionskritik hat dazu geführt, wenig Verständnis für spirituelle Bedürfnisse aufzubringen. Auch daraus entstehen Widersprüche, ja eine Spaltung der Linken.

Das Quasireligiöse der politischen Linken war auf Transformation ausgerichtet – weshalb dessen wesentliche Ressource die Hoffnung war. (Bild: Kerala, Indien). Harry Gruyaert/Magnum Photos/Keystone

In der liberalen Variante setzen Linke in den akuten Fragen, die die religiöse Pluralisierung aufwirft, auf Religionsfreiheit – vor allem gegen Angriffe auf Kleidervorschriften und Lebensformen von Minderheitenreligionen. Sie versuchen also, die alte liberale Ordnung, die auf der Unterscheidung öffentlich/privat basiert und die Religionsfreiheit in diese einschreibt, aufrechtzuerhalten. Dieses Unterfangen wird ständig von Problemen mit den neuen religiösen Bewegungen herausgefordert und ist zunehmend schwerer zu verteidigen.

In der aufklärerischen Variante mobilisieren Linke gegen die regressiven religiösen Tendenzen und wollen einen durchgreifenden Staat – der etwa Kopftuchverbote für kleine Mädchen oder Burkaverbote im Namen des Feminismus gegen das Patriarchat durchsetzt. Hier soll anderen Religionen jene Säkularisierung abgerungen werden, die die christlichen Mehrheits­religionen bereits vollzogen haben. Dabei aber wird das liberale Arrangement untergraben.

Linke behandeln Religionen also entweder als Objekte des Rassismus oder als Bastionen des Patriarchats und der Beharrungskräfte. Sie haben aber keinen Zugang zu dem, was Religionen leisten, zu der Funktion, die sie erfüllen. Die Verabschiedung der eigenen politischen Theologie mag ein ideologischer Fortschritt gewesen sein, hat man sich damit doch von den eigenen autoritären Tendenzen gelöst. Der fehlende Zugang, das fehlende Verständnis der spirituellen Bedürfnisse ist jedoch eindeutig ein Manko. Jede – derzeit so dringende – Neuaufstellung der Linken wird ebendies in Betracht ziehen müssen.

Zur Autorin

Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin. Als ständige Kolumnistin schreibt sie für die «Wiener Zeitung» und die «taz». 2018 erschien ihr Buch «Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert», das mit dem Philosophischen Buchpreis des Jahres ausgezeichnet wurde. Charim lebt in Wien.

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