Surreale Bilder: Strassenschlachten sind in Paris kein unbekanntes Phänomen – aber diesmal ist alles anders. Thomas Dworzak/Magnum Photos/Keystone

Aufstand der Peripherie

Frankreich im Ausnahmezustand: Kann Präsident Macron die Situation beruhigen? Was bedeuten die Ausschreitungen für das Land – und für Europa?

Von Daniel Binswanger, 13.12.2018

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Niemand hat sie kommen sehen. Vorzugeben, dass wir sie bereits verstehen, wäre lächerlich. Niemand hat ihre Heftigkeit vorausgeahnt. Ihre Folgen präzise abschätzen zu wollen, wäre vermessen. Aber es fällt schwer, die Revolte der gilets jaunes nicht als Einschnitt in der französischen, ja der europäischen Geschichte zu betrachten.

Neue Realitäten erkennt man daran, dass man sie zunächst für Halluzinationen hält. Ich musste buchstäblich dreimal das Video anschauen, auf dem man sieht, wie eine berittene Polizeieskadron durch die Pariser rue de Bretagne galoppiert, um eine Gruppe von Demonstranten zu zersprengen, bevor ich glauben konnte, was da zu sehen war. Natürlich gehören regelmässige Demonstrationen und gelegentliche – manchmal auch sehr gewaltsame – Strassenproteste zur französischen Normalität. Aber berittene Polizei, die in die Menge galoppiert? Und das mitten im Marais, einem der hipsten (und teuersten) Pariser Innenstadtviertel, in dem sich die Fashion- und die Homosexuellenszene tummelt und in dem sonst nie Demonstrationen oder irgendwelche Ausschreitungen stattfinden?

Berittene Polizei gegen Menschen in gelben Westen: Die Ordnungskräfte zeigen keine Zurückhaltung. Patrick Zachmann/Magnum Photos/Keystone

So panisch reagiert die Staatsmacht nur im Ausnahmezustand. Es gab während der Ausschreitungen der letzten Wochen Dutzende Schwerverletzte, sechs Todesopfer, zahlreiche Vorfälle, die viel gewalttätiger waren als die Reiter-Attacke vom Marais. Aber dass Paris – und zwar ganz Paris, nicht die Banlieue, nicht der «rote Osten», nicht das studentische Quartier Latin, sondern die beaux quartiers der Rive droite – zum Schauplatz solcher Szenen wird, ist etwas völlig Neues, beinahe Unvorstellbares. Es sind surreale Bilder.

Entzauberung des Hoffnungsträgers

Vor gut anderthalb Jahren trat Emmanuel Macron auf die Weltbühne als historische Führerfigur eines Aufstands der Mitte, der den Rechtspopulismus besiegt. Er gewann die Präsidentschaftswahlen als kompromissloser Proeuropäer, als progressiver Zentrist, der sowohl grüne Ikonen wie Daniel Cohn-Bendit als auch konservative Gaullisten um sich scharen konnte, der gegen das verkrustete Parteiensystem eine Bürgerbewegung mit den verschiedensten Repräsentanten der Zivilgesellschaft ins Feld führte und der Frankreich – getragen von einem Ethos der Leistungsbereitschaft und der Chancengleichheit – auf den Pfad der Modernisierung und des Wachstums zurückführen würde.

Die französische Entwicklung war das hoffnungsvolle Gegenmodell zu einem Europa, das gezeichnet ist vom Brexit, vom Machtverlust der deutschen Kanzlerin, vom Aufstieg der AfD, vom Siegeszug der Salvinis, Orbans, Kaczynskis. Doch jetzt schlagen seinem Reformprogramm die heftigsten Strassenproteste seit Mai 68 entgegen.

Welchen Spielraum hat Macron? Der Präsident am vergangenen Montag bei seiner Rede an die Nation. Es war die erste Rede seit Ausbruch des Aufstands. Ludovic Marin/POOL/Keystone

Jetzt zeigt sich, dass auch in Frankreich, trotz Macrons Eroberung einer erdrückenden Regierungsmehrheit, das politische Kräftegleichgewicht prekär und explosiv ist. Dass die Dynamik des Populismus, der sich rund um den Globus als so mächtig erweist, durch Macrons Sieg nicht aufgefangen wurde, sondern lediglich eine neuartige, potenziell produktive, potenziell aber umso vernichtendere Form angenommen hat.

Es mag sein, dass die am Montag angekündigten Konzessionen die Lage so weit beruhigen, dass die Bewegung sich erst einmal totläuft. Denkbar bleibt auch, dass die Festtage der Protestdynamik ein natürliches Ende bereiten; dass der Mangel an Organisation und repräsentativen Strukturen den Impuls ins Leere laufen lässt. Aber dass hier eine gewaltige gesellschaftliche Macht am Werk ist, kann kaum bestritten werden. Sie erscheint wie die Kraft der Verzweiflung, wie das Ergebnis einer Blockade, die viel zu lange angedauert hat. Selbst wenn die Proteste versiegen sollten: Die nächsten Wahlen stehen in etwas mehr als fünf Monaten an, nicht nur in Frankreich, sondern in allen EU-Ländern. Die Ereignisse der letzten Wochen werden Spuren hinterlassen.

Was ist abzulesen an dieser Protestbewegung über das heutige Frankreich und über unsere Epoche? Beginnen wir mit einer historischen Einordnung.

Das Korrektiv der Strasse

2005 brannte die Banlieue: Stummer Protestzug nach dem Tod von zwei Jugendlichen, die auf der Flucht vor der Polizei mit einem Transformator in Kontakt kamen und einen Stromschlag erlitten. François Guillot/AFP

Wenn man etwas weiter zurückblickt, erscheinen die aktuellen Strassenschlachten zunächst nicht wie ein singuläres Ausnahmephänomen – sondern wie eine französische Eigenheit, die zyklisch wiederkehrt. Etwa jedes Jahrzehnt einmal kommt es zu heftigen Strassenprotesten, die das Land paralysieren, von den internationalen Medien voyeuristisch-sensationslüstern abgefeiert werden – und sich dann wieder legen. Als 2005 die Banlieue brannte, erweckte die Berichterstattung den Eindruck, Frankreich sei im Bürgerkrieg. Als 1995 das Land über Monate durch Massenstreiks lahmgelegt wurde, erschien die Unregierbarkeit der Fünften Republik definitiv erwiesen. Als 1984 die regierenden Sozialisten unter Mitterrand die katholischen Privatschulen unter staatliche Kontrolle bringen wollten, gab es Massendemonstrationen, das Projekt wurde notfallmässig aufgegeben, der Premierminister trat zurück und die Sozialisten verloren kurz darauf die Parlamentsmehrheit. Nur Mitterrand blieb das Staatsoberhaupt für lange weitere Jahre.

Massenstreiks legten 1995 das Land lahm. Premierminister Alain Juppé hatte angekündigt, dass er das Budget dank strikten Einsparungen im Sozialbereich sanieren wolle. Pascal Le Segretain/Sygma via Getty Images

Auch dazwischen fanden immer wieder heftige (und häufig siegreiche) Proteste statt gegen von der Regierung beschlossene Reformen: zum Beispiel 2013 die sogenannten «Demos für alle», die sich gegen die homosexuelle Ehe richteten. Oder 2006 der heftige Widerstand gegen spezielle «Ersteinstellungsverträge», mit denen das Arbeitsrecht reformiert und die Jugendarbeitslosigkeit bekämpft werden sollte.

Der Strassenprotest ist in Frankreich von einem politischen Gewicht wie in keinem anderen europäischen Land. Das erklärt sich zunächst aus der Wirkungsmacht des Revolutionsmythos. Es wird im Weiteren gefördert durch den permanenten Zusammenprall zwischen den tief verwurzelten Werten der republikanischen égalité und den hierarchischen Strukturen der französischen Gesellschaft. Erbittert wird ständig um eine staatsbürgerliche «Gleichheit» gekämpft, die für das nationale Selbstverständnis prägend ist, sich in verschiedenen Politikbereichen auch immer wieder Geltung verschaffen kann, mit den realen Lebensverhältnissen aber wenig zu tun hat. Der Strassenprotest ist das Symptom einer urfranzösischen Schizophrenie. Es sollte uns nicht überraschen, dass er zum Mittel wird, mit dem heute das Land seine Demokratiekrise austrägt.

Schliesslich ist Krawall eine Begleiterscheinung, oder vielmehr ein integraler Bestandteil des französischen Regierungssystems: Sehr viel Macht wird in den Händen der Exekutive und der Verwaltungsspitzen konzentriert. Das Parlament ist schwach und aufgrund des Majorzwahlsystems von geringer Repräsentationskraft. Die unteren Staatsebenen haben aufgrund des immer noch ausgeprägten Zentralismus nur wenig zu melden. Die Strasse bildet deshalb eine unverzichtbare Gegenmacht. Sie stellt gegenüber der Selbstherrlichkeit der sich zu weiten Teilen aus der Pariser Bourgeoisie rekrutierenden Eliten das einzige potente Korrektiv dar.

In einem gewissen Sinn erfüllt der Strassenprotest in Frankreich die Funktion, die in der Schweiz die Institutionen der direkten Demokratie übernehmen: eine ausserparlamentarische Instanz, welche die Regierung in die Schranken weisen kann.

Der Grund für die aussergewöhnliche Wirkungsmacht von Protestbewegungen liegt im Übrigen nicht darin, dass die Franzosen besonders begabte Barrikadenkämpfer wären oder dass die Polizei (die zu Recht als ungewöhnlich brutal gilt und mit sehr weitgehenden Befugnissen ausgestattet ist) nicht effektiv zu reagieren wüsste. Der Grund liegt in der immer wieder verblüffenden Sympathie der breiten Bevölkerung für Protestbewegungen – auch wenn Streiks den Verkehr lahmlegen, Demonstrationen die Innenstädte paralysieren, ja selbst wenn Sachbeschädigungen das Strassenbild verwüsten und das Gewerbe schädigen.

Es gibt eine tief verwurzelte Bereitschaft, es nie ganz falsch zu finden, wenn die Agenten der so übermächtigen Staatsgewalt eins vor den Latz geknallt bekommen –, auch wenn es immer von der konkreten Situation abhängt, ob eine Protestbewegung den politisch alles entscheidenden Kampf um die öffentliche Meinung letztendlich gewinnen kann oder nicht. Die Zustimmungsraten, deren sich die gelben Westen erfreuen (auch wenn sie seit Macrons Ansprache vom Montag zurückgegangen sind), liegen ungewöhnlich hoch, entsprechen aber der traditionellen Protestsympathie. Dennoch ist diesmal alles anders. Denn eine solche Protestbewegung gab es noch nie.

Eine Facebook-Revolution

Es zeigt sich bereits an der Organisationsform. Traditionellerweise werden Protestbewegungen von Gewerkschaften (gegen Renten- oder Arbeitsrechtsreformen), religiösen Gruppen (gegen die Homosexuellen-Ehe) oder zivilgesellschaftlichen Organisationen (gegen Xenophobie, die Ausländerpolitik) angeführt. Im Fall der Banlieue-Ausschreitungen lag es etwas anders, sie hatten eine desorganisierte, spontane Qualität. Aber die damals Krawall machenden Jugendlichen beschränkten sich weitgehend darauf, «ihre» Territorien zu verteidigen. Die Ausschreitungen wurden von der Öffentlichkeit als «Minderheitenproblem» wahrgenommen, die politischen Forderungen blieben diffus, und die Strassenkämpfe, so heftig sie waren, hätten nie in die Innenstädte hineingetragen werden können.

Die gelben Westen bilden ebenfalls eine spontane, von keiner Organisation kontrollierte Bewegung, und bisher haben sie jenseits der konkretesten logistischen Erfordernisse auch keine Organisationsstrukturen ausgebildet. Aber sie vertreten keine Minderheitenanliegen. Sie tragen den Konflikt ins Zentrum der französischen Gesellschaft – sozial, politisch und geografisch.

Losgetreten wurden die Proteste durch Facebook-Beiträge gegen die neue Ökosteuer auf Benzin, die von unbekannten Privatpersonen verfasst und plötzlich millionenfach geklickt wurden, sowie durch eine Onlinepetition gegen ebendiese Steuer, die in kürzester Zeit auf über eine Million Unterschriften kam. Ebenfalls über Facebook verlief die Koordination der ersten Proteste und Strassenbarrieren. Dort werden auch weiterhin die meisten internen Debatten geführt. Parteien oder sonstige Organisationen waren in die Entstehungsphase der Bewegung nicht eingebunden. Bis heute weigern sich die Gelbwesten, repräsentative Strukturen aufzubauen. Ansätze dazu sind bisher alle gescheitert. Man wäre dazu gar nicht imstande.

Die gilets jaunes sind eine Facebook-Revolution: die spontane Entstehung einer Massenbewegung mittels sozialer Netzwerke, ohne zentrale Koordination, ohne klar definierte Zielsetzung, ohne ideologisches Programm, ohne soziale Homogenität. Es ist ein eindrücklicher Beweis, wie weit die Bindekräfte der von Tocqueville theoretisierten pouvoirs intermédiaires, der gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen – also von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, Religionsgemeinschaften, Vereinen –, unter heutigen Bedingungen geschwächt worden sind. Die Bewegung besteht aus nicht viel mehr als einem Haufen Facebook-Gruppen, einer Signalfarbe – und einem Ozean aus Zorn und Verzweiflung. Das reicht, um eine Regimekrise auszulösen.

Als Probelauf für diese Konstituierung einer Protestbewegung kann man retrospektiv die nuit debout betrachten, die im März 2016 – ebenfalls unabhängig von klassischen politischen Akteuren, zu Beginn ebenfalls über Facebook – gegen die Reform des französischen Arbeitsrechtes mobil machte. Aber nuit debout wurde hauptsächlich von Studenten sowie Intellektuellen getragen und strahlte nur begrenzt über Paris hinaus. Die heutige Dynamik hat eine andere Dimension.

Anarchistische Theoretiker wie David Graeber sind fasziniert und begeistert von dieser unverhofften Form des politischen Widerstandes. Sie erblicken darin die Protestbewegung der Zukunft – führerlos, horizontal, direktdemokratisch –, ein Zusammenschluss von Bürgern, die alle aus ganz konkreten und partikulären Motiven handeln, die es aber dennoch schaffen, eine gemeinsame politische Dynamik zu entfalten. Wie nachhaltig solche Aktivismusformen sind und ob die Gelbwesten aufgrund des Fehlens von Strukturen in dem politischen Nichts, aus dem sie gekommen sind, bald wieder verschwinden werden, bleibt allerdings offen.

Es sind die Arbeiter mit Mindestlohneinkommen, die Strassensperren errichten, es ist die untere Mittelschicht: Auf der Nationalstrasse 10 nahe Bordeaux geht am 7. Dezember nichts mehr. Jean Gaumy/Magnum Photos/Keystone

Die wichtigste Frage lautet jedoch: Wer sind die Gelbwesten? Was sind ihre konkreten Handlungsmotive? Welchen sozialen Schichten gehören sie an? Wo sind ihre politischen Sympathien zu verorten? Und wie werden diese Sympathien sich entwickeln?

Kaufkraft, Verteilung, Ängste

Was die soziale Klassenzusammensetzung anbelangt, stellt der Politologe Pierre Rosanvallon zu Recht fest, dass rein ökonomische Parameter, das heisst die objektive «Kaufkraft», die im Zentrum aller Forderungen steht und mit deren Erhöhung Macron nun auch die Situation zu beruhigen versucht, die relevanten Abgrenzungen wohl nicht zulassen. Es sind nicht die defavorisiertesten Milieus, die auf die Strasse gehen – nicht die 4,5 Millionen Franzosen, die in der einen oder anderen Form von Sozialhilfe leben, nicht die Banlieue-Jugendlichen, nicht die Langzeitarbeitslosen. Es sind die «Kleinen»: Arbeiter mit Mindestlohneinkommen, die untere Mittelschicht der sogenannten professions intermédiaires (Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Vorarbeiter, technische Berufe), Selbstständigerwerbende in prekären Verhältnissen, kleine Beamte. Es sind die Teile der Bevölkerung, deren Lebensverhältnisse seit langen Jahren immer schwieriger werden und die immer stärkere Abstiegsängste umtreiben.

Dass der Lohn nicht mehr zum Leben reicht, dass ab Monatsmitte nur noch Nudeln auf den Tisch kommen und man seit Jahren nie mehr in den Urlaub fahren konnte, obwohl man ausgebildet ist, eine feste Stelle hat, hart arbeitet – das ist der millionenfach wiederholte Protestruf, der ausnahmslos alle öffentlichen Debatten bestimmt. Der Kern des Konflikts ist verteilungspolitisch. Es ist die immer prekärere Lage einer absteigenden Mittel- und Unterschicht, die zur Revolte führt.

Allerdings ist die politische Dynamik nicht ganz deckungsgleich mit der ökonomischen Entwicklung. Zunächst muss man festhalten, dass gemäss einer diesen Juni publizierten Studie des Institut national de la statistique et des études économiques (Insee) in Frankreich die Armutsquote seit den Neunzigerjahren relativ stabil um 14 Prozent und der Gini-Koeffizient für das Mass der Ungleichverteilungen bei 0,3 verharrt. Allerdings hat sich das soziale Profil der Armutsbetroffenen stark verschoben. Waren es in den Siebzigerjahren noch überwiegend Rentner, so sind es heute grossmehrheitlich jüngere Menschen, Arbeitslose und zu einem guten Teil alleinerziehende Berufstätige. Es ist frappierend, wie wichtig Frauen besonders in der Anfangsphase der Bewegung waren, darunter viele alleinerziehende Mütter, die häufig im Pflegebereich tätig sind. Hier sind viele anspruchsvolle, aber sehr mässig bezahlte Servicejobs entstanden, und überwiegend werden sie von Frauen besetzt.

Über die letzten fünfzehn Jahre hat sich die Ungleichheit gemäss den Zahlen des Insee etwas verstärkt, hauptsächlich deshalb, weil die unteren Einkommen nicht mehr gestiegen sind, während die höchsten Einkommen zulegten. In anderen europäischen Ländern war die Entwicklung jedoch ungleich dramatischer. Wenn die deutsche Bevölkerung mit denselben Reflexen auf die Entwicklung der Lohnverteilung reagieren würde wie die französische, würde die Bundesrepublik schon lange lichterloh brennen.

«Macron, hau ab!» Klare Ansage in Paris. Thomas Dworzak/Magnum Photos/Keystone

Es kommt hinzu, dass Macrons ursprünglich geplante Steuerreform insgesamt die untere (wie auch die mittlere) Mittelschicht etwas bessergestellt hätte. Das oberste Fünftel der Einkommensverteilung hätte von seinen Reformen zur Kasse gebeten werden sollen – mit Ausnahme des obersten Prozents, das von der Abschaffung der Vermögenssteuer weit mehr profitiert als alle anderen sozialen Kategorien von den sonstigen Steuererleichterungen. Diese «Reichensteuer», die schon Nicolas Sarkozy zur Förderung der inländischen Investitionstätigkeit hatte abschaffen wollen, die er dann aber doch nicht anzutasten wagte, ist der zentrale Kristallisationspunkt des Protestes. Es zeugt von atemberaubender Blindheit, dass ausgerechnet Macron, der von Anfang an gegen den Vorwurf kämpfte, der «Präsident der Reichen» zu sein, auf dieser symbolisch extrem aufgeladenen, konjunkturpolitisch aber mässig relevanten Reform bestanden hat.

Nicht zuletzt sind es psychologische Faktoren, die zum Ausbruch der Unruhen führten. Eine schwache Wirtschaftsentwicklung und eine hohe Arbeitslosigkeit halten das Land nun schon so lange im Würgegriff, dass das Vertrauen ab- und die Zukunftsängste zunehmen. Eine Umfrage vom letzten Sonntag ermittelte, dass 69 Prozent der Befragten überzeugt sind, die Lebensbedingungen ihrer eigenen Kinder würden einmal schlechter sein als ihre eigenen. Zu Beginn der Regierungszeit von Macron gab es eine kurze Phase des Optimismus. Er ist umgeschlagen in Enttäuschung.

Am sozialen Rand

Unbestritten ist, dass der soziale Konflikt, der die Proteste befeuert, eine geografische Dimension hat. Auch wenn die Experten sich uneins sind über die Frage, welche territorialen Gegensätze den Ausschlag geben.

Der Demograf Hervé Le Bras kam zum Schluss, dass die Gelbwesten am stärksten aktiv sind in der «Diagonale der Leere», einem schräg von Nordosten nach Südwesten durch das Zentrum Frankreichs führenden Korridor, der kaum urbane Zentren umfasst, dünn besiedelt ist und über eine schlechte Infrastruktur verfügt. Laut Le Bras spielt der Stadt-Land-Gegensatz die Schlüsselrolle. Die Revolte sei die Reaktion der strukturschwachen Gebiete, die von den urbanen Zentren längst hoffnungslos abgehängt worden seien und wo Krankenhäuser und Schulen geschlossen würden.

Andere Kommentatoren entwickeln einen weiter gefassten Begriff der Peripherie. Schon 2014 hat der Politgeograf Christophe Guilluy unter dem Titel «La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires» (Das Frankreich der Peripherie. Wie wir die Unterschichten zerstört haben) einen Aufsehen erregenden Bestseller publiziert und die Soziologenzunft kräftig aufgemischt. Diese «Peripherie» umfasst auch die Grossagglomerationen der Städte, in denen sich schwächer verdienende Arbeitnehmer mit langen Arbeitswegen konzentrieren, die auf ihr Fahrzeug angewiesen sind. Die geplante Ökosteuer auf Benzin und Diesel hat diese Bürger nicht weniger empfindlich getroffen als die Landbevölkerung.

«Die soziale Frage betrifft nicht nur die Banlieue auf der anderen Seite der Stadtautobahn», schrieb Guilluy 2014, «sondern alle Gebiete auf ‹der anderen Seite› der globalisierten Metropolen. Sie betrifft die ländlichen Zonen, kleinen Städte, mittleren Städte, die Grossagglomerationen der Zentren. Hier leben 80 Prozent der schlechter gestellten Franzosen. In diesem Frankreich der Peripherie, das unsichtbar ist und vergessen geht, lebt heute die Mehrheit der Bevölkerung.» Es ist das Frankreich, das sich nun die Signalweste übergezogen hat; das Wochenende für Wochenende die Reise nach Paris antritt, um Präsenz zu markieren auf den Champs-Élysées; das ohne Rücksicht auf die traditionelle Protesttopografie der Hauptstadt den Krawall in die Nobelviertel und Luxuseinkaufsmeilen trägt, in denen es schon lange nichts mehr zu suchen hat. Die Gelbwesten legen Protest ein gegen die immer stärkere Segregation der Lebenssphären.

Rechtspopulismus geht anders

Und was bedeutet das für die politische Orientierung der Bewegung? Man sollte sich gegen zwei Missverständnisse verwahren: Zum einen haben die Gelbwesten nichts mit Anti-Ökologie zu tun. Das glaubt höchstens Donald Trump, der entsprechende höhnische Tweets abfeuert. Am letzten Samstag fanden in Frankreich zahlreiche Kundgebungen der Solidarität mit dem Klimagipfel in Katowice statt, teilweise unter reger Teilnahme von Demonstranten in Signalkleidung.

Die Proteste haben sich zwar an der Ökosteuer entzündet, aber Unmut erregt nicht, dass das Klima geschützt werden soll, Unmut erregt, wer dafür bezahlen soll. Der Slogan, dass das Ende des Monats für die normale Bevölkerung das grössere Problem sei als das (ökologische) Ende der Welt, bringt den Sachverhalt auf den Punkt.

Zum Zweiten ist auch der immer wieder erhobene Vorwurf, die gilets jaunes würden vor allem von Le-Pen-Wählern unterstützt, verfolgten eine ausländerfeindliche Agenda und seien im Grunde eine Manifestation des Rechtspopulismus, von begrenzter Tragkraft. Man hat den Eindruck, dass sich Verteidiger der Regierungspartei hinter diesen Vorwürfen verstecken. Propagandaschriften für den EU-Austritt oder gegen den Migrationspakt und auch rechtsradikale Spinnereien mögen auf Facebook in der Protest-Bubble zirkulieren, doch relevant sind diese Debatten bisher nicht. Im Magma der Bewegung schwimmt vieles mit: Royalisten und Rechtsextreme, aber auch linksextreme Gruppierungen. Sowohl Marine Le Pen als auch Jean-Luc Mélenchon unternehmen grosse Anstrengungen, politischen Zugriff auf die Bewegung zu bekommen – vorderhand mit wenig Erfolg.

Umfragen bestätigen zwar, dass die Gelbwesten bei den Le-Pen-Wählern auf die höchsten Zustimmungsraten kommen – und bei den Macron-Wählern auf die niedrigsten. Doch die Popularität der Bewegung durchdringt immer noch ein sehr breites Elektorat. Die bisher weitaus präziseste Umfrage unter Teilnehmern an Strassenblockaden und Demonstrationen, die von einer Gruppe französischer Sozialwissenschaftler durchgeführt wurde, kommt zudem zum Ergebnis, dass sich ein Drittel der direkt Involvierten als «weder links noch rechts» bezeichnet, dass ein grosser Teil sich vorher nie politisch engagiert hat und dass sich eine deutliche Mehrheit derer, die sich selber politisch verorten, als links betrachtet. Rechtspopulismus sieht anders aus.

Die Menschen wollen ganz einfach mehr Anerkennung, mehr Lohn, mehr Sicherheit, weniger Angst. Sie wollen der Verödung ihres Lebensraums entgegentreten. Gut möglich, dass diese so primären und schlichten Anliegen von ideologischen Rattenfängern instrumentalisiert werden. Steve Bannon hat am letzten Samstag in Brüssel bereits mit Genugtuung festgestellt, dass «Paris in Flammen» steht. Gelbwesten seien das Äquivalent von Trump-Wählern, meinte Bannon in einer Ansprache vor Marine Le Pen und einem Parkett ihrer Parteikader. Er wird bei den Europawahlen alles daransetzen, den Beweis dieser Behauptung anzutreten. Nichts könnte dümmer sein, als ihm vorab recht zu geben.

Der nackte Präsident

Welchen Spielraum hat Macron, um jetzt zu reagieren? Der ist leider nicht unbegrenzt. Zunächst sollte er den fatalen strategischen Fehler korrigieren, der den Kern seiner Machtstrategie bildet. In seinem Wahlkampf und in den Anfangsphasen der Parteiorganisation waren Partizipation und Bürgernähe sehr grossgeschrieben. Macron verstand das französische Demokratiedefizit und versprach Abhilfe. Doch dann hat er das Gegenteil getan.

Viele Repräsentanten der Zivilgesellschaft, die bis dahin ohne Parteizugehörigkeit waren, engagierten sich in seinem Wahlkampf oder liessen sich aufstellen für ein Parlamentsmandat. Schon am Wahlabend jedoch kultivierte der neue Präsident den königlichen Gestus. Sein Auftreten, seine Entscheidungsfindung, sein Vorgehen wurden extrem autoritär. Er trat an mit dem Versprechen einer breiten Demokratisierung, doch er hat gezielt die Dämonen des präsidialen Absolutismus aktiviert. Als Mittel, um seine persönliche Autorität zu verstärken, war dieses Vorgehen zunächst effizient.

Doch jetzt kommt der Backlash – und der Präsident hat weder eine etablierte Parteiorganisation, noch ein starkes Kabinett, noch Sozialpartner, noch andere pouvoirs intermédiaires, die den Schock für ihn abfedern könnten. Der König ist nackt. Es besteht eine fatale Symmetrie zwischen der Massenbewegung, die wie aus dem Nichts kommt, und dem einsamen Überflieger, der scheinbar aus dem Nichts das oberste Staatsamt erobert hat.

Seit Macrons Amtsantritt habe ich immer wieder Gespräche geführt mit politischen Beobachtern, und spätestens nach der Arbeitsmarktreform waren alle der Überzeugung, Macron könne durchbringen, was immer er wolle, ganz einfach deshalb, weil er keine nennenswerten politischen Gegner mehr habe. Allgemein wurde dies als positiv betrachtet, denn schliesslich hat Frankreich grossen Reformbedarf. Niemand hat begriffen, dass genau die Abwesenheit von institutionellen Widerstandskräften seine Präsidentschaft in eine Regimekrise stürzen würde. Macron wurde gewählt, um das französische Demokratiedefizit auszuräumen. Heute ist er seine Verkörperung. Er wird nun versuchen, seinen Regierungsstil anzupassen, vermehrt auf Konsultationen zu setzen. Aber die politische Leere, die ihn umgibt, wird so schnell nicht verschwinden.

Und wer rettet Europa?

Das dürfte aber noch nicht das gravierendste Problem sein. Schwerwiegender ist die Tatsache, dass die Regierung eigentlich keinen finanziellen Spielraum hat, es sei denn, sie unterläuft die Defizitgrenze von 3 Prozent des Euro-Stabilitätspaktes. Das wird nun geschehen. Es dürfte zur endgültigen Beerdigung der französischen Pläne für eine verstärkte Integration der Eurozone führen.

Macron wollte den Deutschen beweisen, dass Frankreich zu Disziplin fähig ist, um die Voraussetzungen für ein vergemeinschaftetes Eurozonenbudget zu schaffen. Es ist ohnehin zweifelhaft, ob das gelungen wäre, auch wenn er die Staatsausgaben nicht notfallmässig hätte erhöhen müssen. Unter gegebenen Umständen kann man Macrons gesamte Europavision getrost vergessen. Er wird von den Deutschen im Regen stehen gelassen werden – wie vor ihm Hollande, wie vor Hollande Sarkozy. Leider aber ist schwer vorstellbar, wie Frankreich zu vernünftigen Wachstumsperspektiven zurückkehren soll ohne eine Veränderung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone.

Am Montag, an demselben Tag, an dem Macron seine Rede an die zürnende Nation hielt und finanzielle Zugeständnisse machte, legte eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Ökonomen Thomas Piketty ein Manifest vor, das in verschiedenen europäischen Zeitungen veröffentlicht wurde. Es schlägt Massnahmen vor, die eine gemeinsame Wirtschaftspolitik für die gesamte Eurozone einleiten und die zunehmende politische Desintegration wirksam stoppen könnten. Europa, so Piketty, müsse wieder eine «soziale Ambition» finden. Sonst stehe definitiv zu befürchten, dass die zentrifugalen Kräfte unwiderstehlich würden.

Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Die Gelbwesten müssen zu einem Weckruf werden, die «soziale Ambition» zuoberst auf die Agenda zu setzen. Sonst könnten sie, sechs Monate vor den Europawahlen, in der Tat zu einer tödlichen Macht der Desintegration werden.

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