Am Gericht

Rauchzeichen aus der Zelle

Andres Zaugg war 2011 der Brandstifter in der Solothurner St.-Ursen-Kathedrale. Fünf Jahre später zündet er in seiner Gefängniszelle Zeitungen, Kissen und eine Bettdecke an – als Hilferuf. Darüber hätte das Obergericht des Kantons Solothurn befinden sollen. Doch es kommt ganz anders.

Von Brigitte Hürlimann, 12.12.2018

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Ort: Obergericht Solothurn
Zeit: 11. Dezember 2018, 8.45 Uhr
Fall-Nr.: STBER.2018.31
Thema: Sachbeschädigung und notwendige Verteidigung

Wer ihm schon einmal begegnet ist und mit ihm gesprochen hat, der wird Andres Zaugg als einen freundlichen, gescheiten, kreativen und leicht verschrobenen älteren Herrn bezeichnen; ein unauffälliger Schweizer Rentner, der seinen Ruhestand geniesst, könnte man so leichthin denken. Dem ist nicht so, vor allem, was den letzten Teil der Beschreibung betrifft. Andres Zaugg, Elektriker, Tüftler und Erfinder, 69 Jahre alt, hat fast sechs Jahre hinter Gittern verbracht und ist nur knapp der Verwahrung entkommen.

Dreimal hat er mit Performances, wie er es nennt, auf sich, seine Botschaften und seine Warnungen aufmerksam machen wollen. Er wittert grobes Unrecht, kriminelle, undemokratische und unmenschliche Machenschaften in der Schweiz, auch in der Justiz, aber nicht nur dort. 2009 legt er in Olten Metallstücke auf ein Gleis, allerdings so, dass es kaum zu einer Entgleisung kommen könnte. Ein Jahr später bastelt er eine kindliche Art von Kampfweste und erschreckt damit im Gotthardtunnel ein paar Zugpassagiere. Nach beiden Aktionen, die folgenlos bleiben, meldet er sich bei den Behörden und erzählt von seinem Tun.

Bei der dritten Zauggschen Performance lässt er sich noch am Tatort verhaften und gibt alles zu. Es ist der 4. Januar 2011, und der Schweizer Rentner hat soeben in der Solothurner St.-Ursen-Kathedrale Benzin vor dem Altar ausgeschüttet und in Brand gesetzt. Das Feuer kann zwar schnell gelöscht werden, es entsteht aber ein Schaden von rund drei Millionen Franken – vor allem wegen des Rauchs. Das Richteramt Solothurn-Lebern verurteilt Zaugg zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten und einer stationären Massnahme mit open end, der sogenannten kleinen Verwahrung.

Weil sich der Verurteilte im Gefängnis hartnäckig jeder Therapierung widersetzt, will ihn das Gericht nachträglich noch ordentlich verwahren. Es beginnt ein langwieriger Instanzenzug, denn die Staatsanwaltschaft wehrt sich gegen eine Freilassung des Rentners, sogar dann noch, als das Bundesgericht klipp und klar sagt, eine Verwahrung komme nicht infrage. Als sämtliche strafrechtlichen Register gezogen worden sind, droht Andres Zaugg eine fürsorgerische Unterbringung, sprich: Der Freiheitsentzug wäre fortgesetzt worden, einfach unter einem anderen Titel, mit einem zivilrechtlichen Instrument. Der Rentner wehrt sich dagegen, erhebt wiederum Rechtsmittel, bleibt aber weiterhin eingesperrt.

In dieser Situation legt der Inhaftierte erneut einen Brand – dieses Mal in seiner Zelle, im Untersuchungsgefängnis Olten und auf ausgeklügelte Art und Weise. Der Tüftler und Erfinder braucht einen Wasserkocher und Zeitungen, um ein Feuer zu entfachen. Damit es zur gewünschten Rauchentwicklung kommt und die Aufseher auf seine «Rauchzeichen» aufmerksam werden, legt er Kissen und eine Decke aufs Feuer. Die Aktion gelingt wie geplant, es entsteht ein Sachschaden von ein paar tausend Franken. Und wenige Tage nach dem Zeuseln in der Zelle trifft ein Urteil des Verwaltungsgerichts ein, das seine unverzügliche Freilassung anordnet: Der Rechtsmittelweg war erfolgreich, die fürsorgerische Unterbringung ist vom Tisch.

Ende gut, alles gut? Noch nicht.

Seit Ende Oktober 2016 befindet sich Andres Zaugg wieder auf freiem Fuss, jedoch erneut in einem Strafverfahren. Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen Sachbeschädigung belangen und verlangt eine Geldstrafe. Der Beschuldigte hingegen kämpft um einen Freispruch und sagt, er habe den Brand in der Zelle legen müssen, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Es sei ein Hilferuf gewesen, ein Protest gegen den illegalen Freiheitsentzug. Er habe sich gewehrt, denn Leute wie er würden versenkt.

Das Richteramt Olten-Gösgen spricht den Rentner zwar der Sachbeschädigung schuldig, verzichtet aber auf eine Strafe – weil er sich «subjektiv in einem entschuldbaren Notstand» befunden hätte, so die Amtsgerichtspräsidentin in ihrem Urteil vom 1. Februar dieses Jahres. Die Richterin resümiert, Andres Zaugg habe sich seit mehr als fünf Jahren im Freiheitsentzug befunden, in teilweise unrechtmässigen freiheitsentziehenden Massnahmen. Seine persönliche Bewegungsfreiheit sei komplett eingeschränkt gewesen, weshalb bei ihm ein «nachvollziehbarer psychischer Druck» entstanden sei, eine subjektiv ausweglose Situation.

Solche richterlichen Worte sind Balsam auf der geschundenen Seele des Langzeitinsassen, doch Andres Zaugg will mehr. Unterstützt vom Zürcher Rechtsanwalt Stephan Bernard kämpft er um einen vollumfänglichen Freispruch vom Vorwurf der Sachbeschädigung. Auf den Freispruch hat er am Dienstagmorgen vor dem Obergericht des Kantons Solothurn gehofft.

Doch es kommt ganz anders. Bereits nach einer Stunde wird der Berufungsprozess abgebrochen und ein richterlicher Beschluss vorgelesen: Die Sache geht zurück ans Richteramt Olten-Gösgen, der Prozess muss nochmals von vorne aufgerollt werden. Der Grund für die überraschende Wende: Andres Zaugg war vor der ersten Instanz nicht anwaltlich vertreten gewesen. Und für das Obergericht liegt ein Fall von notwendiger Verteidigung vor.

Lange Gesichter im Saal. Gerichtspräsident Daniel Kiefer hat das Thema der notwendigen Verteidigung als Vorfrage aufgeworfen. Und was selten vorkommt: Sowohl der Verteidiger als auch der Staatsanwalt plädieren einhellig auf eine Fortsetzung des Berufungsprozesses. Beide vertreten sie die Auffassung, Andres Zaugg sei durchaus in der Lage gewesen, der Verhandlung vor erster Instanz zu folgen und gegen das Urteil Berufung zu erheben; zwar laienhaft, aber unmissverständlich. Zur Verteidigerfrage muss angemerkt werden, dass Zaugg in fast allen Verfahrensschritten einen Anwalt zur Seite hatte, inklusive Einsprache gegen den Strafbefehl. Nur wegen dieser Einsprache gelangt der Zellenbrand vor das Richteramt Olten-Gösgen, und erst von diesem Moment an stand der Rentner vorübergehend ohne Rechtsbeistand da. Im Berufungsprozess wiederum kann er auf die Hilfe von Rechtsanwalt Stephan Bernard zählen, der am Dienstag gern plädiert und einen Freispruch verlangt hätte.

Bernard bedankt sich bei den Oberrichtern für deren Fürsorge und das Engagement für eine notwendige Verteidigung, was hierzulande alles andere als selbstverständlich sei. Der Beschluss sei rechtsstaatlich korrekt, wenn im konkreten Fall auch nicht unbedingt nötig. Der Verteidiger lässt durchblicken, dass seiner Auffassung nach das Zeuseln in der Zelle durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt sei, was zum Freispruch führen muss. «Der Sachverhalt ist unumstritten, es geht nur um die rechtliche Würdigung», sagt Bernard.

Doch das Obergericht bleibt hart und schickt den Fall zurück an die erste Instanz. Die umstrittenen Rechtsfragen seien komplex, die Bundesgerichtspraxis und die Lehrmeinungen eindeutig, was die notwendige Verteidigung betreffe: Es liege «sonnenklar» ein unheilbarer Mangel vor.

Ein enttäuschter Andres Zaugg verlässt den Saal. Den Gerichtsreportern, die unverrichteter Dinge ihre Laptops und Schreibblöcke wieder einpacken, verteilt er sein Schlusswort, das er schriftlich verfasst hat, aber nicht vorlesen durfte, weil der Fall gar nicht verhandelt wurde. Der freundliche, manchmal etwas aufgewühlte Schweizer Rentner hätte unter anderem gesagt: «Zugegeben, sowohl der Zellenbrand wie meine provozierte Tempelreinigung sind widerliche Formen von Vandalismus. Aber – es waren klar deklarierte Protestaktionen, denn wer Unrecht erkennt und nichts dagegen unternimmt, ist Teil des Unrechts.»

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