Eidgenössische Randnotizen

Ein Platz für Heimatlose

Von Michael Kuratli, 28.11.2018

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Willkommen auf dem Heimatlosenplatz: einem abfallenden Waldgebiet, feucht und verwachsen, mit einem Bach, der es durchkreuzt – jenen gewidmet, die zwischen den Orten und damit nirgends zu Hause waren.

Im Norden grenzt der Aargau daran, im Süden Solothurn und auf der kleinen Westseite Baselland. Der Heimatlosenplatz war ein dreieckiger Zacken von 63 Aren – kleiner als ein Fussballfeld. Über lange Zeit erhob kein Kanton Anspruch auf das Gebiet.

Ein Landvermesser erwähnte 1822 den «Platz» erstmals mit der Bezeichnung «In der Freyheit». Grund dafür war die seltsame Situation, dass die Grenzsteine diesen Ort einfach ausklammerten, wie sogar in einem Teilungsvertrag der anstossenden Kantone ausdrücklich festgehalten war:

«Der Heimatlosenplatz ist nicht Bestandteil eines Kantons, sondern liegt ausserhalb der Kantone Baselland, Aargau und Solothurn und gehört somit eigentlich auch nicht zur Schweiz.» Wie weit zurück in die Geschichte die Nichtzuständigkeit reicht, ist unklar. Historiker gehen davon aus, dass der Heimatlosenplatz schon seit der frühen Neuzeit Niemandsland war.

Wobei von einem Platz wie gesagt nicht die Rede sein kann. Niemand würde sich dort ernsthaft niederlassen, an Ballspiele oder sonstige Platzaktivitäten ist nicht zu denken. Irgendwelche Versammlungen von Heimatlosen, die der Name suggeriert, entsprangen wohl vielmehr der Fantasie der Kartografen.

Unbestritten ist jedoch, dass Fahrende seit alter Zeit regelmässig durch die Wälder nördlich des Juras streiften. «Vagabundierende Gruppen» waren ein fester Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaft. Wie der Adel machten sie etwa vier Prozent der Bevölkerung aus. Sie lebten unabhängig von staatsrechtlichen Definitionen, Landparzellen und Kantonsgrenzen, am Rand der sess- und besitzhaften Gesellschaft.

Je moderner die Schweiz, desto klarer wurden jedoch die Grenzen gezogen. Im 19. Jahrhundert konnten die Kantone endlich durchsetzen, was die alte Eidgenossenschaft über Jahrhunderte versucht hatte: Alle «Vaganten», «Landstreicher» und anderweitig Störenden sollten vertrieben werden.

Für die Kantonspolizisten waren die Fahrenden Freiwild. Dies illustriert etwa der Bericht von Landjäger Eglin aus dem Jahr 1838. In Oltingen, einen Steinwurf vom Heimatlosenplatz entfernt, machte er in der Nacht auf den 18. März mit seiner Flinte Jagd auf das «Lumpenpack». Die Fahrenden sollten ein für alle Mal verjagt werden, zumindest über die Kantonsgrenze weg.

Oder vielleicht auch nur ins Niemandsland jenseits der Zuständigkeiten. Dass ein unwirtliches Waldstück zwischen den Kantonen zum «Platz» für Heimatlose benannt wurde, war angesichts der damaligen Vorstellungen naheliegend.

1931 war mit dem kuriosen Triangel aus vormodernen Zeiten dann Schluss. Zwar wollte man die Ausnahme «im Interesse der Heimatkunde» erst bestehen lassen. Die Beamten besannen sich letztlich aber doch auf die Strenge des Eidgenössischen Zivilgesetzbuchs, das eine lückenlose Zuständigkeit verlangt, und einigten sich auf eine Teilung. Die Grenze wurde entlang des Bachs gezogen. Die Kantone wuchsen um ein Stück Wald – und damit auch die Schweiz, zu der das Gebiet nun rechtlich erstmals gehörte.

Jene, denen dieser «Platz» einst zynischerweise gewidmet war, müssen heute zwar keine staatlich geförderten Hetzjagden durch die Wälder mehr fürchten. Heute sind Fahrende als nationale Minderheit anerkannt und ihre Lebensweise durch die Verfassung geschützt. Doch die Kantone und Gemeinden tun sich noch immer schwer, die vom Bund vorgeschriebenen Standplätze bereitzustellen.

Statt eines symbolisch benamsten Waldstücks bräuchte es heutzutage echte Plätze inmitten der Gesellschaft. Willkommen auf dem Heimatlosenplatz.

Quelle: Michael Blatter: Der Heimatlosenplatz: staatenloses Land zwischen den Grenzen. Traverse, Zeitschrift für Geschichte, 14/2 (2007).

Eidgenössische Randnotizen

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