Offene Städte sind letztlich von viel mehr Freude erfüllt: Rio de Janeiro, Brasilien, 2014. Projekt «Metropolis» von Martin Roemers/Laif

Das Ethos der offenen Stadt

Richard Sennett hat sein Opus magnum «Die offene Stadt» veröffentlicht. Welchen Beitrag liefert der Soziologe zur Analyse des gelingenden Zusammenlebens?

Von Benedikt Boucsein, 24.11.2018

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Es ist keine Übertreibung: «Die offene Stadt», der lang erwartete urbanistische Grossessay von Richard Sennett, weckt die höchsten Erwartungen. Wohl die meisten Stadtplaner und Architekten betrachten Offenheit als die wichtigste Zielsetzung des Städtebaus überhaupt – ich für meine Person würde das jedenfalls sofort unterschreiben.

Was soll wichtiger sein, als dass ein urbanes Ensemble offen ist für Veränderung, Leben, Neuankömmlinge? Dass es Strukturen bietet, die wandlungsfähig bleiben, die Lebensmöglichkeiten nicht verbauen, sondern eröffnen? Und was soll wichtiger sein als ein Diskurs, der die offene Stadt verteidigt gegen die mächtigen Kräfte – kommerzieller, ideologischer, gesellschaftlicher Natur –, die sich ihr entgegenstellen und nach Geschlossenheit streben? Urbanisten und Architekten suchen immer nach Beispielen, Ideen und Argumenten für die offene Stadt.

Eine Ohrfeige für den modernistischen Städtebau

Dieses Interesse verbindet meine Kollegen und mich mit einer Tradition, die von Jane Jacobs begründet wurde. Die Architekturkritikerin kämpfte in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren für den Erhalt des New Yorker Stadtteils Greenwich Village, der einer sogenannten Slumsanierung weichen sollte. Sie tat dies mit Erfolg und mithilfe ihres Buchs «The Death and Life of Great American Cities» (1961), das sie weltberühmt machte. Dort beschreibt sie die Funktionsweise scheinbar heruntergekommener Stadtviertel, in denen die Menschen im direkten Kontakt miteinander leben, mit der Strasse als wichtigster Reibungsfläche. Jacobs stellte fest, dass solche Orte enorme Vorteile für das Zusammenleben haben, auch wenn das Erscheinungsbild der entsprechenden Quartiere vielleicht unsauber oder chaotisch sein mag.

Die Offenheit solcher Stadtviertel und die Möglichkeit für Bewohnerinnen, sie sich anzueignen, stellen das entscheidende Merkmal dar für Lebensqualität. Sie äussert sich zum Beispiel darin, dass man verschiedene Wege durch ein Viertel nehmen kann; dass kleine Unternehmen durch Umbauten mit vergleichsweise geringen Investitionen Teil einer sich entwickelnden Nachbarschaft sein können; dass eine klare Zuordnung und ein gut ausformuliertes Gegenüber von öffentlichem und privatem Raum bestehen. Und nicht zuletzt darin, dass eine feinkörnige und lebendige Mischung auf Erdgeschossebene soziale Kontrolle in einem positiven Sinn ermöglicht.

Jane Jacobs’ Buch war eine Ohrfeige für den modernistischen, deterministischen (und männlich dominierten) Städtebau, der damals in voller Blüte stand. Und es markiert den Anfang einer Reihe anderer kritischer Bücher, von denen im deutschsprachigen Raum vielleicht Alexander Mitscherlichs «Die Unwirtlichkeit unserer Städte» (1965) am bekanntesten ist.

Der Ruf des modernistischen Städtebaus verschlechterte sich in der Folge zunehmend, und seine Grossexperimente wurden – oft nur scheinbar und in mancherlei Hinsicht auch zu Unrecht – gegen Anfang der 1970er-Jahre grösstenteils beendet. Als symbolträchtiges Ende dieser Strömung galt denn auch die Sprengung der als Slumsanierung errichteten Siedlung Pruitt-Igoe in Missouri im Jahr 1972.

Modernistischer Städtebau: Die als Slumsanierung in den 1950er-Jahren errichtete Siedlung Pruitt-Igoe in Missouri. United States Geological Survey
Symbolträchtiges Ende einer Architekturströmung: Die Sprengung der Pruitt-Igoe-Siedlung im April 1972. Bettmann/Getty Images
Bettmann/Getty Images
Bettmann/Getty Images

Es besteht kein Zweifel: Ohne Jane Jacobs gäbe es auch Richard Sennetts Buch nicht. Dass er es geschrieben hat, zeigt aber auch, dass Jacobs’ Kampf für die offene Stadt noch nicht vollendet ist und dies wohl auch nie sein wird. Die Geschichte der Stadt und die Diskussion über sie können als ein ständiges Ringen zwischen öffnenden und ausschliessenden Kräften gelesen werden. Es herrscht eine ewige Spannung zwischen jenen städtebaulichen Tendenzen, die eine freie Bewegung und Entfaltung der Stadtbewohnerinnen ermöglichen, und solchen, die diese Möglichkeiten aus technischen, ideologischen oder politischen Gründen beschränken. Das Thema geht also alle Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt an.

Zwischen Kontrolle und Laisser-faire

Richard Sennett ist Soziologe und seit Jahrzehnten an der Schnittstelle von Städtebau und Soziologie tätig, lehrend, forschend und auch praktisch. Mit der offenen Stadt nimmt er sich also bewusst nicht irgendeinen, sondern vielleicht den wesentlichsten Begriff des Städtebaus der Gegenwart vor. Er thematisiert die offene Stadt bereits seit Mitte der 2000er-Jahre in Vorträgen und Buchbeiträgen.

Parallel dazu wurde der Begriff auch von Kees Christiaanse – diesen Sommer als Professor für Städtebau von der ETH Zürich emeritiert – in den Diskurs gebracht, unter anderem als Titel einer Architekturbiennale in Rotterdam. Im Text «The Open City and its Enemies» (2009/2018) schreibt Kees Christiaanse über die offene Stadt: «Die offene Stadt ist weder eine Utopie noch eine klar umrissene Realität, sondern existiert nur situativ. Sie besteht im Ausgleich zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen Integration und Desintegration, zwischen Kontrolle und Laisser-faire.» Nicht zuletzt zeigt dieser Satz: So gross die Rolle der offenen Stadt im Fachdiskurs auch sein mag, ihre Definition gestaltet sich schwierig.

Meine Neugier auf Sennetts Buch speiste sich also auch aus der Frage, wie wir die seit Jane Jacobs immer wieder unter anderen Vorzeichen und von anderen Protagonistinnen geführte Diskussion über die offene Stadt heute führen können. Denn die offene Gesellschaft und unsere Umwelt im Allgemeinen sind momentan stark gefährdet.

Ob in Brasilien, den USA oder bei uns in Europa: Viele Menschen entscheiden sich an den Urnen für die fadenscheinigen Argumente der Abgrenzung und des Hasses. Damit votieren sie im Grunde immer auch für die Zerstörung unseres Planeten, die Dominanz wirtschaftlicher Einzelinteressen. Noch einmal Kees Christiaanse: «Eine offene Gesellschaft ist zugleich Freund und Feind der offenen Stadt. Ihr Erfolg bedeutet die ständige Drohung, dass die Diversität sich selber zerstört.» Wer könnte diese Zusammenhänge besser erklären als ein urbanistisch tätiger Soziologe?

Die Offenheit von Stadtvierteln ermöglicht es den Bewohnern, sie sich anzueignen: Greenwich Village, New York, 1962. Ernst Haas/Getty Images
Die Leere vor dem durchgeplanten Siedlungsbau: Areal der Wiener Seestadt Aspern, 2014. Sonja Bachmayer/Anzenberger

Um es vorwegzunehmen: Sennetts Buch bietet Argumente für die offene Stadt und gewisse Inspirationen für die städtebauliche Arbeit – ein intellektueller Befreiungsschlag ist es jedoch leider nicht.

Für wen schreibt Sennett?

Der Soziologe spricht in seinem Buch weder die Begriffsgeschichte noch seine eigenen Vorarbeiten an, obwohl sich die Mühe gelohnt hätte. So geht Sennett nicht auf die vielleicht älteste Verwendung des Begriffs offene Stadt ein: Er steht für eine Stadt, die im Krieg nicht verteidigt wird und daher nicht angegriffen werden darf. Dabei bezieht sich sogar ein Meilenstein der Kinogeschichte, Rossellinis «Rom, offene Stadt», auf diese Bedeutung. Und aus ihr lässt sich durchaus ein Auftrag für die heutigen Städte herleiten, den einige Kommunen in Zeiten der Flüchtlingskrise auch tatsächlich wahrnehmen.

Vielleicht möchte Sennett damit signalisieren, dass sein Buch kein Beitrag zu einer städtebaulichen oder gar wissenschaftlichen Debatte sein soll – obwohl dies im Hinblick auf sein kontinuierliches Engagement in dieser Debatte merkwürdig wäre. Geht es ihm um etwas anderes? Im Untertitel seines Buchs – «Eine Ethik des Bauens und Bewohnens» – steckt ja eine wichtige Hypothese: Auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, wir alle, tragen Verantwortung für deren Offenheit. Wir sind nicht nur passive Subjekte des Städtebaus. Vielleicht changiert «Die offene Stadt» auch deshalb zwischen Essay und Fachbuch.

Von Rückschlägen, Unvorhergesehenem – und Demut

Sennett arbeitet gern mit Geschichten und prägnanten Begriffen. In seinem Buch taucht eine Reihe von Gegensatzpaaren auf. Neben jener der offenen und der geschlossenen Stadt ist die wichtigste dieser Gegenüberstellungen die Unterscheidung zwischen der cité (der konkreten urbanen Lebenswelt, wie sie real existiert, aber auch als Idee) und der ville (der Stadt als abstraktes Planungskonzept, aber auch als physisch gebaute Realität).

Diese Unterscheidung eröffnet der Rückblick auf die Anfänge der Urbanistik bei Figuren wie Ildefons Cerdà (Barcelona), Georges-Eugène Haussmann (Paris) und Frederick Law Olmsted, dem Gestalter des Central Park in New York. Anhand dieser drei Beispiele zeigt Sennett – immer wieder zwischen den Massstäben springend – auf, wie das Tauziehen zwischen den cité- und den ville-Anhängern zu Problemen, aber auch zu ungeplanten Lösungen führen kann. Sennett weist nach, dass oft auch unvorhergesehene Gebräuche oder Modifikationen der ville zu heute geschätzten Qualitäten geführt haben. Ein Beispiel sind die abgeschrägten Ecken der Stadtblöcke in Barcelona, die ursprünglich der schnelleren Fortbewegung dienen sollten, inzwischen aber wichtige öffentliche Räume eröffnet haben.

Dieses Element des Unvorhergesehenen ist bei der Implementierung städtebaulicher Projekte die Regel, nicht die Ausnahme. Sennett macht dies noch anschaulicher, indem er das Thema mit seiner eigenen Planungspraxis in Verbindung bringt – bei der er fast nur Rückschläge erlitten zu haben scheint. Damit allerdings ist er nicht allein: Rückschläge sind das tägliche Brot von Städtebauerinnen und Städtebauern. Wenige aber geben dies so ehrlich und freimütig zu wie Sennett. Dass Demut eine wichtige Eigenschaft für den Städtebau ist, kann als wesentliche und wichtige Erkenntnis gelten, die der Autor uns mitgibt.

Glaube an die grosse Vision und die rationale Planbarkeit: Eine Familie vor dem Nationalkongress des Architekten Oscar Niemeyer 1960 in Brasília. René Burri/Magnum/Keystone
Koexistenz hat viel mit Vertrautheit zu tun: Abendliches Quartierleben in einer chinesischen Stadt, 2017. Christopher Anderson/Magnum/Keystone

Eine allzu gängige Geschichte des Städtebaus

Im Kontrast zu dieser Lesart steht Sennetts meist eher konventionelle Interpretation der Geschichte der Stadt. Das wichtigste Element seines Narrativs ist der radikale Bruch, den der Städtebau mit der Moderne im 20. Jahrhundert erlitten haben soll. Die antihistorische Haltung von Urbanismus-Pionieren wie Le Corbusier und der meisten Mitglieder der einflussreichen, von Le Corbusier mitgegründeten Architekten-Denkfabrik CIAM lebte vom Glauben an die grosse Vision und die rationale Planbarkeit. Gemäss Sennett stellten die damit verbundene Forderung nach einer Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholung und das Primat des Verkehrs eine folgenreiche Fehlentwicklung dar.

Dieser (relativ gängigen) Kritik am modernen Städtebau ist sicher in vielen Punkten zuzustimmen. Hier wäre jedoch eine radikalere Lesart der Städtebaugeschichte «von unten» interessant gewesen. Denn Stadt ist im Endeffekt nicht primär das Resultat von Planungsentscheiden, sondern von gesellschaftlichen Prioritäten. Wir alle entscheiden, ob die Stadt offen ist oder nicht, die genaue städtebauliche Formgebung ist dabei eigentlich sekundär, auch wenn sie die eine oder andere Richtung fördern kann. Gerade dies müsste in einer «Ethik des Bewohnens» jedoch direkt angesprochen werden.

Mr Sudhir okkupiert einen Platz

Einen weiteren wichtigen Teil von Sennetts Buch nimmt die Schilderung von Phänomenen ein, die charakteristisch für die heutige Urbanisierung sind. Sennett kommt hier immer wieder auf das Beispiel eines Verkäufers gestohlener Handys in Delhi zurück. Sein Mr Sudhir ist ein prototypisches Beispiel dafür, wie sich Bewohner eine Stadt aneignen können und wie die offene Stadt auch eine gewisse soziale Mobilität ermöglicht. Mr Sudhir bietet seine Handys auf einem Marktplatz an, der ursprünglich gar nicht als solcher gedacht war. Durch die Verbindung mit einer Tiefgarage und umliegenden Start-up-Unternehmen bildet dieser Ort jedoch einen lebendigen urbanen Mikrokosmos, wie er von Planern kaum hätte künstlich geschaffen werden können.

Dieser flexiblen, offenen und auch unordentlichen Stadt stehen laut Sennett vor allem zwei Feinde gegenüber: geschlossene, «smarte» technische Systeme, die jegliche Aneignung und Interpretation durch Bewohnerinnen unterdrücken, sowie am konkreten Kontext desinteressierte, global denkende Investoren. Sennetts Kritik der Auswirkungen von globalen Finanzströmen auf unsere Städte ist berechtigt. Und auch in Bezug auf «smarte» Systeme und auf unsere digitale Bequemlichkeit hat er treffende Analysen parat und weist zu Recht darauf hin, wie wichtig Widerstände und das «Krumme» sind.

Technologie ist nicht per se schlecht, das weiss natürlich auch Sennett. Im Buch führt er das Beispiel selbstverwalteter brasilianischer Kommunen auf. Erstaunlicherweise geht er aber nicht auf das Experiment ein, das in Barcelona läuft, seit die Aktivistin Ada Colau 2015 Bürgermeisterin der Stadt wurde. Ihre Ideen zur Verbindung von Digitalisierung und Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung sind geradezu richtungsweisend. Als eine der grössten Hoffnungsträgerinnen der Sache der offenen Stadt hätte Colau einen Platz in Sennetts Buch verdient.

Die Koexistenz in der Stadt

Sennett kommt dafür in seinem Buch immer wieder auf ein Thema zurück, das ihn seit «Fleisch und Stein» (1994) begleitet: die Koexistenz der Menschen in der Stadt. Sie hat laut Sennett viel mit Vertrautheit zu tun. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte der Stadt, bei denen Nähe durch äusseren Druck hergestellt wurde. Es kommt aber auch immer wieder vor, dass Nähe zwischen verschiedenen Einkommensschichten oder auch Religionen und Volksgruppen ganz selbstverständlich gepflegt wird.

Doch Koexistenz, stellt Sennett fest, ist nicht trivial und verlangt eine Anstrengung aller Bewohnerinnen und Bewohner, insbesondere dann, wenn Konflikte auftreten. So beschreibt er sehr anschaulich die eben nur scheinbar übertriebene gegenseitige Höflichkeit der jüdischen und muslimischen Bewohner seines Viertels nach einem Einbruch in ein Juweliergeschäft, der die Ressentiments zwischen den Gruppen hatte aufbrechen lassen.

Grundsätzlich gewährleistet die offene Stadt mit all ihren inkohärenten Elementen und vielfältigen sozialen Verbindungen ein besseres Funktionieren der Gesellschaft, als dies die geschlossene, kontrollierte Stadt jemals tun könnte.

Stadt ist primär das Resultat von gesellschaftlichen Prioritäten: Israelische Siedlung im palästinensischen Westjordanland, 2007. Christopher Anderson/Magnum/Keystone
Ein lebendiger urbaner Mikrokosmos, wie er von Planern kaum künstlich geschaffen werden kann: Strassenszene in Lagos, Nigeria, 2015. Projekt «Metropolis» von Martin Roemers/Laif

Auch die Koexistenz beweist: Den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt obliegt die Verantwortung für deren Offenheit genauso wie den Planerinnen und Planern. Auch sie müssen einer Ethik des Bewohnens folgen. Konkrete Forderungen oder Anleitungen bietet Sennett aber keine. Vielmehr scheint diese Ethik für ihn eine Geisteshaltung zu sein, die nahtlos in die möglichst gemeinsame Produktion von Stadt übergeht.

Wie kann man die offene Stadt entwerfen?

Aus der Analyse vergangener und gegenwärtiger Strukturen zieht Sennett ein Fazit und nennt verschiedene Eigenschaften der offenen Stadt. So streicht er die Bedeutung von Übergängen heraus, mahnt die Reparierbarkeit von Stadtstrukturen an und betont, wie wichtig es ist, dass Orte durch kleine Eingriffe hervorgehoben und gleichsam nobilitiert werden.

Vor allem aber äussert er sich ausgiebig dazu, wie Partizipationsverfahren strukturiert sein sollten. Hier kann Sennett praktische Erfahrung aufweisen, er rät beispielsweise dazu, Bewohnerinnen und Bewohner irgendwann mit Modellen und Plänen allein zu lassen. Es wäre interessant zu wissen, was er von der Diskussion um partizipative Verfahren in der Schweiz halten würde. Und spontan wünscht man sich, ihn einmal bei den SBB vorbeizuschicken.

Insgesamt dürften die vorgebrachten Argumente zumindest unter Städtebauerinnen der westlichen Hemisphäre unbestritten sein. Das Buch enthält einige konkrete Vorgehensweisen, die jene sich bei der praktischen Arbeit immer wieder vor Augen führen können. Als Beitrag zur Theorie des Städtebaus kann Sennetts Text aber nicht durchgehen, weil sein Text dann doch zu sehr eine Sammlung von Anekdoten ist.

Stakkato der Beispiele

Insbesondere in der Mitte des Buchs jagt ein Beispiel das nächste, sodass sie sich im Seitentakt abwechseln. Fast scheint Sennett dem Leser jegliche Abstraktionsfähigkeit abzusprechen, so als ob inhaltliche Aspekte nur mit Beispielen verständlich würden. Der Leser ist ex post dazu gezwungen, sich die Essenz aus dem Buch zu ziehen. Wobei sich manchmal der Eindruck aufdrängt, dass es gerade das ist, was Sennett will: eine kritische Leserin, die sich stellenweise sogar aufregt und somit in einen Dialog mit dem Buch tritt. Vielleicht hat Sennett sein Buch von vornherein als offene Struktur konzipiert, die man sich selber aneignen muss.

Der Leser kann jedoch nicht jede Geschichte nachprüfen. Wir müssen dem Autor glauben, was er schreibt. Hier aber hat mich insbesondere eine Stelle stutzig gemacht. Sennett nennt als gebautes Beispiel für eine offene Struktur das weltweit bekannte Projekt Quinta Monroy von Alejandro Aravena in Iquique, bei dem die Architekten nur eine Hälfte des Hauses realisierten und die andere Hälfte die Bewohner bauen konnten. Er versäumt es aber, dieses Beispiel kritisch zu verorten. Nicht nur war die gewählte Vorgehensweise in Chile und ausserhalb bereits vor dem Projekt in Iquique bekannt (was in der Besprechung von Aravenas Projekt gerne übergangen und von ihm auch nicht sonderlich hervorgehoben wird). Auch die zugrunde liegende Idee des open building ist wesentlich älter. Ihr Gründervater N. John Habraken wird im gesamten Buch mit keinem Wort erwähnt, obwohl sein Verdienst für das offene Bauen und auch die offene Stadt jenes von Aravena wohl meilenweit überragt.

Abgesehen davon kann man auch behaupten, dass Aravena für geschlossene gesellschaftliche Systeme steht: Sein Architekturbüro (und die von ihm besetzte Professur in Chile) wird von einer katholischen Universität und einer Ölfirma finanziert. Beide fungieren als Bauherren quasi des gesamten Œuvres, mit dem er bekannt wurde. Zudem gehörte Aravena von 2009 bis 2015 der Jury an, die ihm 2016 den Pritzker-Preis (gemeinhin als Nobelpreis der Architektur bezeichnet) verlieh. Sennett und Aravena kennen sich im Übrigen persönlich aus dem Board des Zentrums LSE Cities.

Zweifel, Misstrauen – und eine verpasste Chance

Das Beispiel offenbart das Problem anekdotischen Schreibens. Um den persönlichen Erlebnisbezug gewährleisten zu können, surft Sennett auf der Welle seiner Beispiele und umgeht sperrigere Figuren wie etwa den niederländischen Architekten N. John Habraken. Der Verdacht liegt nahe, dass beim näheren Hinsehen auch bei anderen Beispielen Zweifel angebracht wären, wenn beispielsweise ein Ökonom oder eine Soziologin sich bestimmter Geschichten annehmen würden.

Dass sich dieses Misstrauen einstellt, ist ärgerlich. Denn gerade durch seinen populärwissenschaftlichen Ansatz ist Richard Sennett der wohl prominenteste Verfechter der offenen Stadt in der Öffentlichkeit. Und sein Buch ist ein einziges grosses Argument dafür, unsere urbanen Systeme offen zu gestalten. Offene Städte sind demokratischer, wirtschaftlich langfristig erfolgreicher, vor allem aber auch lebendiger und letztlich von viel mehr Freude erfüllt als Strukturen, die von den grossen kapitalistischen Interessen bestimmt werden.

Implizit richtet das Buch einen klaren Handlungsimperativ an Städtebauerinnen und an Bewohner, vor allem aber an die eigentlichen Macher der Stadt, die mehr in die Pflicht genommen werden müssen. Es ist ein offenes Geheimnis in unserer Branche, dass selbst ursprünglich genossenschaftliche, dem Gemeinwohl verpflichtete Akteure städtebauliche Qualitäten kurzfristigen Renditeinteressen opfern. Ihnen hat Sennett im Grunde sehr viel entgegenzusetzen. Sie werden ihn aber leider kaum hören.

Geschlossene Systeme unterdrücken jegliche Aneignung und Interpretation durch Bewohnerinnen: Wohnenklave in der indischen Stadt Pune, 2004. Johann Rousselot/Laif
Doch letztlich entscheiden wir alle, ob die Stadt offen ist oder nicht: Schachspieler im Washington Square Park, New York, 1955. Three Lions/Getty Images

Eine unbeantwortete Frage

Das grösste Manko ist damit indes noch gar nicht benannt. Sennett begegnet der wohl wichtigsten Herausforderung des 21. Jahrhunderts, der globalen Erwärmung, vollkommen kraftlos. Er erwähnt das Problem am Anfang seines Buches, und man denkt, es handle sich um einen Cliffhanger. Schliesslich aber kapituliert Sennett vor der Grösse des «deprimierenden» Problems. In einem einzigen Satz spricht er lediglich eine Empfehlung für den Umbau unserer Städte aus, für Anpassung und gegen Schadenminderung. Also im Grunde dafür, Überschwemmungsgebiete zu bauen statt Dämme. Damit hat er sicher recht. Und gibt sich doch mit viel zu wenig zufrieden.

Denn gerade in der sennettschen Verbindung von Körperlichkeit und Stadt sowie in seiner «Ethik des Bewohnens» könnte der Schlüssel dazu liegen, der globalen Erwärmung (beziehungsweise allgemein unserem zerstörerischen und sich rapide beschleunigenden Einfluss auf unsere Umgebung) mehr als nur defensiv zu begegnen. Es ist der Bezug des Menschen zur Stadt, der nun im globalen Massstab gedacht werden muss, da dieser globale Massstab heute als «gebaute Umgebung» gelten kann. Eine solche Erweiterung des Horizonts ist dringend nötig, damit endlich ein Umdenken stattfindet. Und damit das Buch der faszinierenden Geschichte unserer Städte, von der Sennett bei allen methodischen Zweifeln einer der wichtigen Chronisten ist, um viele offene Kapitel ergänzt werden kann.

Die neue Generation

«Die offene Stadt» ist ein Werk mit einer hochplausiblen Kernaussage – das dennoch enttäuscht, weil es durch seine anekdotische Struktur nur begrenzt effektiv ist. Während Sennett in früheren Büchern eine Reihe ausgewählter, grösserer Geschichten erzählt, erscheint er in der gesamten «Homo Faber»-Trilogie, von der «Die offene Stadt» den letzten Band bildet, als Zauberer, der von den eigenen Tricks nicht genug bekommt und masslos übertreibt, indem er ein Geschichtchen nach dem anderen aus dem Hut zaubert. Fazit also: eine mit Vorsicht ausgesprochene Leseempfehlung.

Sennetts Generation brachte keinen Wandel, vielleicht auch deshalb, weil sie die Ethik des Bewohnens nicht auf sich selbst bezog (Sennett spricht selber an, dass seine Frau Saskia Sassen «im Flugzeug lebe», doch problematisiert wird dieser Umstand nicht). Kritisch gelesen, kann sein Buch aber ein fruchtbarer Anstoss zu Lösungsansätzen sein, ein Steinbruch von Ideen sowohl für die Diskussion als auch für die praktische Arbeit.

Denn ich bin mir sicher: Es kommt eine neue Generation von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern, die von Entscheidungsträgern Verantwortung einfordern. Sie werden schädliche Systeme umstossen und egalitäre Strukturen etablieren. Und sie werden die offene Stadt auf ihrer Fahne tragen.

Zum Autor

Benedikt Boucsein ist Architekt und Urbanist. Er ist Partner beim Architekturbüro BHSF in Zürich und Professor für Urban Design an der TU München. 2017 erschien das Buch «The Noise Landscape», zu dessen Co-Autoren er gehört.

Zum Buch

Richard Sennett: «Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens», Hanser Berlin, 400 Seiten, ca. 50 Franken.

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