Klang

Das erste Mal

Teatro alla Scala: «Fin de partie»

Die Uraufführung einer Oper ist ein Hörerlebnis der besonderen Art. Unser Kritiker hat protokolliert, was er wahrnahm, als letzte Woche in Mailand die erste Oper von György Kurtág ertönte.

Von Tomas Bächli, 22.11.2018

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«Fin de partie» an der Mailänder Scala mit Frode Olsen als Hamm und Leigh Melrose als Clov. Ruth Walz

Der erste Höreindruck eines bedeutenden Werks wie György Kurtágs Beckett-Oper «Fin de partie» ist naturgemäss unvollständig. Später wird man sich trotzdem an diese erste Begegnung erinnern, auch wenn sich die eigene Einstellung zu der Komposition vielleicht verändert hat. Bei einer Uraufführung kommt hinzu, dass die Meinungen noch nicht gemacht sind, wie es bei den klassischen Standardwerken der Fall ist. Ich würde gern einmal eine Beethoven-Sinfonie als naiver Hörer wahrnehmen, ohne Kenntnis der unzähligen Interpretationen, die das Werk bisher erfahren hat.

Was also habe ich am 15. November bei der Uraufführung von «Fin de partie» an der Mailänder Scala gehört?

Ausgedünnte Klänge

Nach einem kurzen gesungenen Prolog über ein Gedicht von Beckett, das nicht zum Theaterstück gehört, beginnt das Orchester mit der Ouvertüre. Sparsame Klänge, vorwiegend Einzeltöne und Pausen. Das langsame Tempo erlaubt es, den ganzen Reichtum an Beziehungen zwischen den Klängen wahrzunehmen – es ist, als streckten sie ihre Fühler in alle Richtungen aus.

Die folgenden Szenen machen klar, dass dieser ausgedünnte Tonsatz mehr oder weniger beibehalten wird. Ab und zu erleben wir eine Verdichtung der Klänge. Einen bewegten Tumult, so, wie man sich Oper vorstellt – aber im nächsten Moment ebbt er gleich wieder ab. Ob die Musik diese Intensität zwei Stunden lang durchhalten kann? Sie kann es. «Fin de partie» ist zwar eine Herausforderung an die Konzentration der Hörerschaft, aber ich habe in dieser Oper keine Stellen entdeckt, die musikalisch durchhängen.

Monteverdi und Händel

György Kurtág hat immer wieder die Musik von Claudio Monteverdi als Vorbild bezeichnet, und tatsächlich fühlt man sich in «Fin de partie» an Monteverdis Opern mit ihren kunstvollen Rezitativen und kurzen Arioso-Passagen erinnert. Oft ist Kurtágs Musik einstimmig, gelegentlich kommt es vor, dass eine melodische Linie und das Geräusch eines Perkussionsinstruments einen archaischen Kontrapunkt bilden.

Akkorde sind in dieser Oper immer etwas Besonderes, sie wirken sorgfältig ausgehört, oft sind es nur Zweiklänge, beispielsweise leere Quinten (eine Besucherin fühlte sich an das Stimmen der Streichinstrumente im Orchester vor Beginn eines Konzerts erinnert).

Kurze Tonfolgen treten wiederholt auf. Man vermutet sofort ein Leitmotiv – um dies zu belegen, müsste man die Oper ein zweites Mal hören.

Gelegentlich werden Wörter und Wortgruppen wiederholt und jeweils mit unterschiedlichem musikalischem Gestus unterlegt: Einmal steigen sie in der Tonhöhe auf, beim nächsten Mal steigen sie ab. Auch das ist ein traditionelles Verfahren in der Oper, ich denke etwa an die Wiederholung des «soave più» am Schluss der berühmten Arie aus Händels «Xerxes».

Musikalische Vokabeln

György Kurtág schafft es, all diese unterschiedlichen Verfahren anzuwenden, ohne dass der Eindruck von Beliebigkeit oder Potpourri entsteht. Warum ihm das gelingt, ist mir ein Rätsel. Vermutlich spielt seine enorme Kenntnis der Tradition eine Rolle. So wirken alle diese Bestandteile niemals als Zitat. Gelegentlich verwendet er Dreiklänge, in Dur oder Moll, doch sie stehen für sich, ganz ohne jenen Zeichencharakter von Tonalität und Ordnung, der in manchen postmodernen Kompositionen als penetrante Nostalgie spürbar ist.

Das Erstaunlichste ist vielleicht, wie diese Klänge ihre eigene Bedeutung erschaffen – in Verbindung mit Becketts Text. Es ist, als würde Kurtág dabei neue musikalische Vokabeln finden. Die Musik verändert den Charakter von Becketts Theaterstück, sonst wäre sie überflüssig. Das Tempo des Stücks wird verlangsamt, die Aktion emotional aufgeladen – dies erstaunlicherweise, obwohl Kurtág die Sänger in den Proben ständig ermahnt hat, von der grossen Operngeste abzusehen. Damit geht einiges von der Leichtigkeit und der Eleganz des Spielflusses bei Beckett verloren.

Ausschnitt aus «Fin de partie»

Ein Liebesduett

Das kann man bedauern, anderseits gewinnt die Handlung auch eine menschliche Wärme, die Beckett vielleicht bewusst vermieden hat: Die Szene von Nagg und Nell in ihren Mülleimern wird fast zu einem klassischen Liebesduett. Nells letzte Worte, «Si pur ... si blanc», werden in geradezu überirdisch schöne Orchesterklänge hineingesungen – für mich ein grosser dramatischer Moment, in dem die Zeit aufgehoben ist.

Die Musik verändert den Charakter des Theaterstücks, seiner Figuren – und sein Publikum: Die entsorgten Eltern Nell (Hilary Summers) und Nagg (Leonardo Cortellazzi) und ihr Sohn Hamm (Frode Olsen). Ruth Walz

Man merkt, dass die Sänger zwei Jahre lang mit György Kurtág geprobt haben und jede Silbe bewusst setzen. Das gross besetzte Orchester musiziert meist kammermusikalisch in kleinen Gruppen. Die Musiker hörten einander unter der Leitung von Markus Stenz gegenseitig zu und spielten die Partitur so farbig, wie sie komponiert ist.

Auch das letzte Orchesternachspiel bleibt mir spontan im Gedächtnis haften: Kurtág spannt hier den Bogen zum Anfang – und doch wirkt die Musik anders als zu Beginn. Hat sich die Musik verändert, oder habe ich mich in den zwei Stunden als Hörer verändert?

«Fin de partie» am Teatro alla Scala

György Kurtágs Oper nach dem gleichnamigen Drama von Samuel Beckett ist noch heute sowie am 24. und 25. November in Mailand auf dem Spielplan. Alle nötigen Infos finden Sie hier.

Porträt György Kurtág

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Zum Autor

Neue und neuere Musik sind Schwerpunkte in seinem pianistischen Repertoire, Klassik und Romantik ergänzen es. Seine praktische Erfahrung gibt er weiter in Live-Veranstaltungen und Texten. 2016 erschien «Ich heisse Erik Satie wie alle anderen auch» – ein Buch, das an eine Website gekoppelt ist. Tomas Bächli ist in Zürich geboren und lebt in Berlin.

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