Ruinenlandschaft mit Bäumen: ausgetrocknete Olivenbäume bei Alezio, östlich von Gallipoli.

La malattia

Ein unsichtbarer Killer hat die Landschaft im süditalienischen Salento verwüstet: Tausende Olivenbäume sind Xylella fastidiosa zum Opfer gefallen – und das Bakterium hat einen tiefen Graben in der Gesellschaft der Region aufgerissen.

Von Benjamin von Wyl (Text) und Evan Ruetsch (Bilder), 16.11.2018

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Xylella è mafia!, schreit das Graffito an der Autobahnbrücke. An den Heckscheiben mancher Autos klebt der Schriftzug La Xylella è una truffa – Resistere è un dovere: Xylella ist ein Betrug, Widerstand ist Pflicht.

Das sind die offensichtlichsten Zeichen eines Kampfes, der sich im äussersten Südosten Italiens abspielt. Er tobt um etwas, das klingt wie ein Zahnpastawirkstoff. Aber Xylella fastidiosa hat nichts mit Mundhygiene zu tun, es ist eine Krankheit. Eine Krankheit, la malattia, die gestandene Männer weinen und Demonstrantinnen Politiker niederbrüllen lässt. Sie spaltet die Gesellschaft und zersetzt Vertrauen in die Wissenschaft und die Institutionen. Obwohl sie bloss Pflanzen befällt. Vor fünf Jahren wurde Xylella im Salento nachgewiesen, im Stiefelabsatz Italiens. Seither hat das Killerbakterium die Landschaft verwüstet.

Viel mehr als eine Pflanze

Links und rechts der Autobahn stehen sie: tote Bäume, vertrocknete Haine. Nur das Navigationsgerät im Auto weiss nichts vom Baumsterben und zeigt auf dem Satellitenbild Tausende der mächtigen, silbergrünen Kronen. Doch viele der zwölf Millionen Olivenbäume sind für immer verloren.

Xylella trägt die Schuld daran – das sagt die Wissenschaft, sagt die Europäische Union, sagt mittlerweile auch die italienische Regierung. Nur will das ein grosser Teil der Bevölkerung im Salento nicht glauben.

Der Olivenbaum ist für Apulien nicht irgendeine Pflanze. Hier besitzen viele Familien ihre eigenen Bäume. Die Salentiner ernten die Oliven, lassen sie in einer Mühle pressen und decken damit den Eigenbedarf. Ist eine Ernte gut, schicken sie ein paar Flaschen zu den Verwandten nach Norditalien, in die Schweiz, nach Deutschland. Apulien ist seit Generationen eine Auswanderungsregion – und konnte trotzdem ihren tausendjährigen Reichtum bewahren: die Silberbäume.

Im Salento seien die ersten Olivenbäume des europäischen Kontinents gewachsen, erzählt ein Lokalhistoriker.

Im Salento hätten die Frauen während der Olivenernte ihre ersten Gleichstellungskämpfe ausgefochten, erzählt eine pensionierte Lehrerin.

Im Salento sei die erste Gewerkschaft Italiens von Landarbeitern in den Olivenhainen gegründet worden, erzählt der Lokalhistoriker.

Der verehrte Geistliche Don Tonino Bello habe einen Bischofsstab aus Olivenholz getragen, weiss wiederum die Lehrerin. An dessen Grab wächst heute: ein Olivenbaum. Unter diesem hat schon Papst Franziskus gebetet.

Auch auf dem Wappen der Region Apulien blüht ein Olivenbaum.

Das Werk einer «gigantischen Verschwörung», wie viele Menschen – inklusive hochrangige Politiker – glauben? Trostlose Szenerie bei Parabita.

Ob katholisch oder sozialromantisch: Der ganze Salento bezieht sich auf seine Bäume. Sie stehen für Reichtum ebenso wie für Widerstandsfähigkeit. Sie sind die gewachsene regionale Identität, in einzelnen Exemplaren bis zu 1200 Jahre alt. Manche Silberbäume haben Blitzeinschläge überstanden, Brände ebenso. Ihr Stamm ist verkohlt, vielleicht auch gespalten, der Baum wächst krummer. Aber er wächst einfach weiter.

Und jetzt soll Xylella alles vernichten? Ein Bakterium, etwas für das menschliche Auge Unsichtbares?

Das Bakterium hat auch die Schweiz erreicht

Im Jahr 1900 erschien die erste wissenschaftliche Analyse der Pierce’s Disease, die kalifornische Weinreben innert zweier Jahre austrocknen lässt. Die Krankheit breitete sich seither vom Südwesten der USA bis nach Venezuela aus. Heute weiss man: Das Xylella-Bakterium ist die Ursache der Pierce’s Disease. Die verschiedenen Subspezies von Xylella lösen viele weitere Krankheiten aus, die seit Jahrzehnten in Nord- und Südamerika wüten, darunter den «Zitruskrebs» und den coffee leaf scorch, der Kaffeepflanzen verkümmern lässt.

Xylella wird von Zikaden übertragen. Die in Europa von Spanien bis Schweden verbreiteten Insekten ernähren sich am sogenannten Xylem, am Gewebe, das Wasser und Salze im Inneren einer Pflanze transportiert. Einmal mit dem Xylella-Bakterium infiziert, bleiben die Zikaden ihr Leben lang Träger der Krankheit. Entsprechend alarmiert verfolgen die EU und die nationalen Pflanzenschutzbehörden die Epidemie.

Im Salento haben Wissenschaftler Xylella im Oktober 2013 entdeckt. Erstmals in Europa, erstmals an Olivenbäumen. Kurz darauf sind Unterarten des Bakteriums auf den Balearen, auf Korsika und an der Südküste Frankreichs entdeckt worden. 2016 wurde in einem Treibhaus in Deutschland ein Oleander positiv auf Xylella getestet. Auch Schweizer Boden hat das Bakterium bereits erreicht – eingereist an Kaffeepflanzen aus Costa Rica. Diese wurden allerdings sofort vernichtet. Die Einfuhr von Kaffeepflanzen aus Costa Rica und Honduras ist seither verboten; dasselbe gilt für die Einfuhr gewisser Pflanzen aus den in Europa infizierten Gebieten.

Die EU-Kommission führt eine Liste von 563 Pflanzenarten, die vom Xylella-Bakterium befallen werden. Dazu zählen Lavendel, Rosmarin, Zwetschgen-, Kirsch-, Pflaumen- und Mandelbäume. Könnte sich das Bakterium in der Schweiz etablieren, rechnet das Bundesamt für Landwirtschaft mit «beträchtlichen wirtschaftlichen Auswirkungen für die Landwirtschaft».

Denn: Einmal etabliert, kann Xylella nicht gestoppt werden. Es gibt kein Mittel, das das Bakterium vernichtet. Die von ihm ausgelösten Krankheiten sind nicht heilbar.

Die Hoffnung heisst Leccino

Lucio Pisanello lebt fünf Autominuten vom ersten Infektionsherd des Kontinents entfernt. Als Pisanello die ersten braunen Zweige an seinen Bäumen bemerkte, wusste er, dass das eine neue Krankheit ist. Anders als alles, was er bislang kannte.

Lucio Pisanello kann diese Bäume nicht mehr retten, aber er hat noch nicht aufgegeben.

Trifft man den 57-Jährigen vor seiner Kleinstadtwohnung, hält man ihn für einen Buchhalter. Dicke Brillengläser, Bauchansatz, silbergrauer Haarkranz, schwertfischblauer Fiat Punto. Läge auf dem Rücksitz des Kleinwagens nicht eine Mistharke, käme man nie auf die Idee, dass Pisanello bis zum Ausbruch der Seuche von den Oliven gelebt hat. Schon als Kind hat Lucio, das jüngste von sieben Geschwistern, in den familieneigenen Hainen bei der Olivenernte geholfen.

Der Rosenkranz am Rückspiegel des Fiat Punto schwingt bei jedem Schlagloch. Pisanello bebt, als er von früher erzählt: «Dieser Olivenhain besteht aus Erinnerungen an meine Kindheit.» Als Pisanello erfahren hatte, dass die Krankheit unaufhaltbar ist, verlor er die Lebensgrundlage. «Es hat mich kaputtgemacht», sagt er. Früher erntete Pisanello 90 Tonnen Oliven im Jahr. Und heute? Er zeigt seine blanken Hände. Heute sei es fast nichts, kaum zehn Liter Olivenöl bleiben ihm.

Doch eines Tages bemerkte er, dass einer seiner Bäume der Seuche zu trotzen schien. Und Lucio Pisanello schöpfte wieder Hoffnung.

Die Melancholie weicht aus seiner Stimme, als Pisanello den Wagen vor einer Trockensteinmauer parkt. Stolz, fast eitel klingt er nun, «die Forscher sind auf Knien zu mir gekommen», verkündet er. Der Grund für seinen Stolz steht hinter der Mauer, besser: Er durchbricht sie, hat mit seiner Wurzelkraft die losen Trockensteine von sich gestossen.

Sein mannshoher Stamm ist dick. Die geschwungenen Rindenstränge, die die Schönheit anderer Olivenbäume ausmachen, fehlen ihm. Wie eine Prothese setzt aber in zwei Metern Höhe ein anderer Olivenbaum an, windet sich, streckt sich in drei Richtungen und vor allem: Er blüht. Der Baum trägt starke, silbergrüne Blätter.

Blühender Hoffnungsträger: Unten der alte, tote Stamm, oben die Leccino-Pflanze, die wächst und gedeiht.

Vor 25 Jahren hatte Lucio Pisanello diesen Baum auf den 300-jährigen Stamm gepfropft. Die junge Pflanze gehört zur Sorte Leccino, die fettere und grössere Oliven bringen soll. Damals hatte Pisanello in der Hoffnung auf höheren Ertrag Baum auf Baum gezüchtet. Heute ist der Leccino als eine von zwei Olivensorten bekannt, die gegen Xylella relativ resistent sind. Seit seiner Beobachtung und deren wissenschaftlicher Bestätigung züchtet Pisanello Leccino-Triebe auf den Stämmen kranker, aber noch nicht komplett ausgetrockneter Bäume. So stellen die weit verzweigten Wurzeln der todgeweihten Bäume all ihre Energie dem jungen Leccino zur Verfügung. Pisanello hat einen Weg gefunden, gegen die Krankheit vorzugehen.

Vendesi, zu verkaufen, steht auf dem Schild, das den Besucher auf dem Feld hinter dem Hoffnungsbaum begrüsst. Pisanello will seine Silberbäume zwar gar nicht mehr verkaufen – aber da niemand einen Olivenhain im Epizentrum der Xylella-Seuche kaufen wolle, könne das Schild auch hängen bleiben.

Die Mafia, Monsanto – und Xylella

Pisanello hat akzeptiert, dass eine Krankheit, eine unsichtbare Seuche, seine Lebensgrundlage dahingerafft hat. Aber damit ist er eine Ausnahme. Zahlreiche Bauern, einige Journalistinnen und mehrere Nichtregierungsorganisationen misstrauen der Wissenschaft und den Behörden bis heute. Unterstützt werden sie von professionellen Zweiflern aus ganz Italien: Der Politiker Beppe Grillo, Kopf der 5-Sterne-Bewegung, poltert aus Genua gegen «die gigantische Verschwörung» und lässt auf seinem Blog eine bekannte Krimiautorin und Anti-Mafia-Journalistin aus Venedig erklären, wie alles mit allem zusammenhängt. Die Mafia, [*], der Agrochemiekonzern Monsanto, Betreiber von Ölpipelines, karrieregeile Wissenschaftler: Sie alle sollen sich irgendwie gegen Süditalien verbündet haben.

Zum Lieblingsfeindbild der Verschwörungstheoretiker fährt man auf der Autobahn anderthalb Stunden durch Apulien nach Norden. Zuerst sind die Bäume links und rechts der Autobahn kahl. Dann folgen Bäume mit braunen Flecken zwischen den silbergrünen Kronen. Und noch bevor die ersten Wohnblocks von Bari erscheinen, leuchten die Olivenbäume links und rechts der Autobahn wieder: Der Feind residiert ausserhalb des infizierten Gebiets.

In einem niedrigen Bau hinter der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bari arbeitet Donato Boscia vor einem Röhrenbildschirm und ignoriert die dröhnende Lüftung. Wer sich mit dem Thema Xylella auseinandersetzt, begegnet zwingend seinem Namen, denn er ist Mitautor der meisten wissenschaftlichen Artikel zu OQDS, dem Olive Quick Decline Syndrome, wie die Olivenbaumseuche fachsprachlich genannt wird.

Boscia ist Leiter des Istituto per la Protezione Sostenibile delle Piante Bari, wo 28 Wissenschaftlerinnen forschen. «Schauen Sie sich die beschränkten Mittel an, mit denen wir arbeiten – und dann behaupten die, dass wir von Monsanto gekauft sind», meint er nach der Führung durch die zwei Gewächshäuser, in denen nicht einmal ein Drittel der Belegschaft gleichzeitig Platz fände. Hier testen die Wissenschaftler Sprösslinge unterschiedlicher Olivensorten auf ihre Resistenz gegen Xylella.

Der Lieblingsfeind der Verschwörungstheoretiker: Donato Boscia, Wissenschaftler.

Olivensorten, die wie Pisanellos Leccino eine gewisse Resistenz gegen das Bakterium zeigen, geben dem Salento Hoffnung. Die Arbeit von Boscias Team ist aber auch eine Vorsichtsmassnahme für den Fall, dass sich die Krankheit ausbreitet. Wenn ihre Kategorisierungsarbeit abgeschlossen ist, werden auch Bauern in Portugal oder Griechenland wissen, ob und wie sich ihre Pflanzen gegen Xylella zur Wehr setzen können. Boscia beschwichtigt: «In mehr als 99 Prozent der Fläche der EU ist Xylella nicht vorgedrungen. Es gibt keinen Grund zur Panik.»

Zweifel an der Wissenschaft

Wieder vor seinem uralten Röhrenbildschirm, rekapituliert Boscia die letzten fünf Jahre. Fast jeden Satz leitet er ein mit: «Wir sind Wissenschaftler, das waren Behördenentscheide auf nationaler und internationaler Ebene. Wir fällen und kommentieren diese Entscheide nicht. Ich fasse bloss zusammen ...»

Boscias Vorsicht hat Gründe, denn über die Jahre hinweg ist seine wissenschaftliche Lauterkeit mehrmals infrage gestellt worden. Sogar von der Justiz: Im Jahr 2010 fand ausgerechnet in Bari ein weltweiter Forschungskongress zu Xylella statt, zu dem gefriergetrocknete Proben des Bakteriums für einen Workshop eingeführt wurden. Die Proben wurden danach zerstört. Trotzdem ist später der Vorwurf aufgekommen, die Wissenschaftler hätten Xylella selbst eingeführt und verbreitet. Die Staatsanwaltschaft hat sogar eine Untersuchung eröffnet. Seit 2016 ist davon aber nichts mehr an die Öffentlichkeit gedrungen.

Boscia und sein Team haben die Krankheit als Erste in Europa diagnostiziert. Und das durch eine Konstellation, die nicht ins Bild des entwurzelten Karrieremenschen passt, das seine Gegner von ihm zeichnen: Auch seine Schwiegereltern besitzen einige Olivenbäume. Auch er, der in der Grossstadt Bari lebt und mit Pflanzenpathologinnen in Spanien, Finnland und Grossbritannien in Ausschüssen sitzt, kennt den Salento, seine Lebensweise und seine Gesellschaft. Seine Stimme wird warm, wenn er von Weihnachtsfeiern, Fischessen und dem alljährlichen Urlaub spricht.

In den Sommerferien vor fünf Jahren nahm ihn der Schwiegervater nach dem Abendessen beiseite. Er habe an einigen Bäumen eine sonderbare Verfärbung der Blätter beobachtet, sagte er und bat Boscia, sich die Sache mal anzuschauen.

Das war im August 2013. Boscia betrachtete die Bäume und schöpfte Verdacht. Da Xylella ein Quarantäneorganismus ist, machte er Meldung, sobald er sich sicher war.

Ausrotten klappt nicht

Im Oktober 2013 schlug die Europäische Union Alarm. 8000 Hektaren im Salento wurden als infiziert deklariert, Italien verhängte den Notstand, zum ersten Mal überhaupt bot die Regierung den Zivilschutz für einen Notfall im Zusammenhang mit Pflanzen auf. Kranke Bäume mussten gefällt werden; gesunde im Radius von 100 Metern ebenfalls. Die Behörden bekämpften die Zikaden mit Pestiziden, die auch für Bienen besonders schädlich sind. Die Olivenbauern zwang man ebenfalls, Pestizide einzusetzen. Manche weigerten sich aus ökologischer Überzeugung, manche fürchteten um ihr Biolabel, anderen fehlten die Mittel, um Pestizide zu kaufen.

Der Ausrottungsplan ist gescheitert. In den fünf Jahren seit 2013 wurde die Karte des infizierten Gebiets mehrmals erweitert. Heute umfasst dieses fast die ganzen 4000 Quadratkilometer des Salento. Die EU hat Italien mehrmals ermahnt und in diesem Sommer verklagt, weil das Land zu wenig für die Eindämmung der Krankheit unternehme.

Boscia und sein Team stehen im Wettlauf mit dem Bakterium. Sie lernen und festigen ihre Erkenntnisse über die Pathogenität der Krankheit. Eine Erschwernis: Nicht in allen Bäumen, die die Symptome aufweisen, kann Xylella effektiv nachgewiesen werden. Es seien einfach zu viele Bäume zu diagnostizieren. In einer kontrollierten Studie von 500 Pflanzen mit Xylella-Symptomen konnte Boscia jedoch in 100 Prozent der Fälle das Bakterium nachweisen. Es bestehe also kein Zweifel über die Existenz von Xylella in Apulien. Von allen Seiten erhält der Forscher Kritik, Tadel und Ratschläge dazu, wie mit der Epidemie umgegangen werden soll. Die Nichtregierungsorganisation Spazi Popolari beispielsweise verkündet, eine Behandlung der kranken Bäume mit Kupfer rette die Pflanzen. Boscia dagegen hält es für «denkbar», dass der Einsatz von Kupfer den Krankheitsverlauf zumindest etwas bremst. «Jeder Vorschlag ist mir willkommen – solange er die lautere Absicht unserer Arbeit nicht infrage stellt», schliesst Boscia.

Hat er dieses Misstrauen erwartet, als er das Killerbakterium 2013 entdeckt hatte? «In diesem Ausmass nicht», sagt er. Aber immerhin: Das Vertrauen in die Wissenschaft sei über die Jahre gewachsen: «Wenn 2014 vielleicht 5 Prozent der Salentiner unserer Einschätzung vertraut haben, sind es heute knapp weniger als die Hälfte.»

Braucht ein Politiker keine klare Position?

Im Salento geht es heute nur noch um Eindämmung: Darum, zu verhindern, dass das Bakterium weiter nach Norden wandert. Im Grossteil des Salento schreibt der Staat den Bürgern nicht mehr vor, wie sie mit ihren halb toten Olivenbäumen umgehen sollen. Sie sind ohnehin verloren. Nur in der Puffer- und Quarantänezone müssen kranke Bäume und die gesunden im Radius von 100 Metern gefällt werden. Das ist jedoch gar nicht so einfach, denn Spazi Popolari, die bis heute Verschwörungsthesen vertritt, organisiert allen Baumbesitzern einen Anwalt, um das Fällen zu verzögern.

«Alle müssen zusammenkommen. Jemand muss die Bürgerinnen und Bürger, die Bauern, die Umweltschützer und die Politiker zusammenbringen. Bis jetzt gab es viel Polemik, aber keine Versuche eines echten Austausches», sagt Cristian Casili zwischen zwei Zügen an seiner E-Zigarette. Der Agrarpolitiker sitzt für die 5-Sterne-Bewegung im Regionalparlament von Apulien. Die Partei bildet dort die zweitgrösste Fraktion.

Casili war einer der Politiker, die wegen Xylella von Demonstranten niedergeschrien worden sind – weil er die Existenz der Krankheit anerkannt hat. Bei Spazi Popolari betrachten sie ihn als Verräter.

Die Politik soll die Menschen in der Krise zusammenbringen, sagt Politiker Cristian Casili. Also er? Nein, er nimmt sich da raus.

Jetzt sitzt der studierte Agronom im Büro seines Beratungsunternehmens für Landschaftsplanung. Hohe Decken, aus dem Nebenraum dringt Jazz. Wer muss die Bürgerinnen und Bürger des Salento zusammenbringen? Die Politik? «Die Politik, ja.» Also auch er selbst? «Nein, ich nehme mich da raus», sagt er.

Die E-Zigarette befüllt er während des Gesprächs dreimal mit neuen Kapseln. Casili dampft nur dann nicht, wenn er zeichnet. Er skizziert während seiner Ausführungen zwei Kreise auf einen Block. Den einen beschriftet er mit «wissenschaftlich», den anderen mit «antiwissenschaftlich und verleugnend». Einige Sätze später ergänzt er die Skizze um einen Strich zwischen den beiden Kreisen: die Mitte. «Da positioniere ich mich. Beide Seiten haben gute Argumente.» Die klare Position sieht der Politiker nicht als seine Aufgabe.

Beppe Grillo tweetete im Juli an seine 2,5 Millionen Follower: «Xylella ist eine gigantische Fake-Nachricht!» Die Linke, die Rechte, die Wissenschaft und multinationale Konzerne sollen das Pflanzenbakterium gemeinsam erfunden haben. Casili hat sich im Radio und im Fernsehen zum Tweet seines politisch-ideologischen Übervaters positioniert: Das sei Grillos persönliche Meinung. Mehr nicht. Casili hat nicht gesagt, die Meinung sei falsch. Er will in der Mitte bleiben, zwischen Wissenschaft und Antiwissenschaft.

«Ich achte nicht mehr auf das, was stirbt»

Dem Bakterium ist der Streit zwischen der Wissenschaft und den Verschwörungstheoretikern egal. Xylella folgt nur einem Ziel: der Ausbreitung des eigenen Organismus. Und darin ist es erfolgreich. In den Ausbruchsgebieten auf dem spanischen und französischen Festland versuchen die Behörden, den unsichtbaren Killer auszurotten. Auf den Balearen siechen die Mandelbäume, auf Korsika Akazien, Rosmarin und Lavendel. Auch auf diesen Inseln ist der Ausrottungsplan gescheitert, aber wenigstens ohne Theorien einer Verschwörung von dunklen Mächten, Konzernen und korrupten Wissenschaftlern. Nirgends hat Xylella das Vertrauen der Bevölkerung in Wissenschaft und Behörden so erschüttert wie im Salento.

Wenn sich die Krankheit in Italien Richtung Norden ausbreitet, kann sie absurderweise vielleicht gerade dank den grossen Konzernen gestoppt werden: Die Olivenölproduktion im nördlichen Apulien und im Rest des Landes ist industrieller. Die Eigentümer kommerzieller Olivenhaine müssen nicht erst in mühevoller Recherchearbeit ausfindig gemacht werden. Und wenn es ums Fällen von Bäumen geht, sind die Unternehmen wahrscheinlich pragmatischer. Sie sind versichert und müssen keine Rücksicht darauf nehmen, dass eine Familienidentität abgeholzt wird.

Auf dem Wappen von Apulien blüht ein Olivenbaum – die Realität liefert andere, erschreckende Bilder.

Dass der Salento aber nicht ein einziger Baumfriedhof werden muss, liegt an Menschen wie Lucio Pisanello, dem Bauern mit den dicken Brillengläsern. Seine Leccino-Sprösslinge verschaffen ihm noch keine Ernte. Momentan verdient Pisanello sein Geld mit Kursen, in denen er anderen Bauern seine Methode beibringt. Die Nachfrage ist gross. «Vereinzelt kommen sogar Xylella-Leugner», erzählt er.

Zehn Jahre wird es dauern, bis die jungen Leccino-Bäume Pisanello wieder nennenswerte Erträge verschaffen. Dann ist er 67. «Solange ich lebe, muss ich meine Bäume retten.» Und was tut er, wenn die Leccini der Krankheit doch zum Opfer fallen? «Nein, das werden sie nicht.» Bei erneuter Nachfrage: «Leccini sind resistent. Es ist ein Fakt.»

Die Wissenschaftler in Bari stufen die Olivensorte nicht als komplett resistent ein, aber er lässt keine Zweifel zu. Lucio Pisanello tut das, was man im Fall einer unheilbaren Krankheit tun kann: mit ihr leben lernen. «Ich achte nicht mehr auf das, was stirbt. Sondern auf das, was wächst.»

Zum Autor

Benjamin von Wyl, geboren 1990, ist Journalist und Autor. Regelmässig schreibt er unter anderem für «WOZ», «Swissinfo», «Medienwoche» und die «bz Basel». Einmal pro Monat verbringt er für die «Tour de Kaff» im «AAKU» einen Tag in einem kleinen Aargauer Dorf. 2017 ist sein Debütroman «Land ganz nah» bei Lectorbooks erschienen. Die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich prämierte das Buch 2018 mit einem Anerkennungsbeitrag. Benjamin von Wyl hat für die Republik bereits über den rumänischen Politiker Liviu Dragnea und «Menschen zwischen den Gesetzen» geschrieben.

* An dieser Stelle nahm der Text Bezug auf Chemtrail-Giftwolken. Der betreffende Blogpost erwähnte diese nicht. Wir haben den Begriff entfernt.

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