Binswanger

Konkrete Drohung

Die Midterm-Wahlen haben eigentlich vor allem eines klargemacht: Der Kampf geht weiter.

Von Daniel Binswanger, 10.11.2018

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Die Midterm-Wahlen sollten uns aufatmen lassen: Der Weltuntergang wurde noch einmal vertagt. Im Senat hat Trump seine Mehrheit zwar ausbauen können – aber entscheidend ist weniger, wie gross die Mehrheit ist, als die Tatsache, wer über sie verfügt. Eine demokratische Eroberung des Senats war von Anfang an sehr unwahrscheinlich.

Das Repräsentantenhaus hingegen ist wieder in der Hand der Opposition. Eine deutliche Mehrheit der Amerikaner hat sich gegen den korrupten, hetzenden, narzisstisch gestörten, permanent groteske Unwahrheiten behauptenden Präsidenten ausgesprochen.

Die Ad-absurdum-Führung des Regierungssystems löst bei einer Vielzahl amerikanischer Bürger also gesunde Abwehrreflexe aus. Wäre die Abstrafung nicht erfolgt, so würde heute wirklich alles möglich erscheinen, auch die allerfinstersten Entwicklungen. Aber der Widerstand hat sich geltend gemacht, eindeutig. Die rudimentärsten Korrekturmechanismen der amerikanischen Gesellschaft sind intakt. Warum also will sich ein Gefühl der Erleichterung nicht einstellen?

Es gibt eine Reihe von Gründen: Zunächst ist das Verdikt der Wähler zugunsten der Demokraten zwar äusserst deutlich – es drückt sich im Repräsentantenhaus aber in einer nur recht knappen Mehrheit aus. Die Tatsache, dass das demokratische Elektorat sich in den urbanen Gebieten konzentriert und dass die Republikaner durch «gerrymandering» (das heisst eine für sie vorteilhafte Einteilung der Wahlbezirke) die Resultate stark beeinflussen können, führt zu einer massiven Verzerrung der Sitzverteilung, welche die faktischen Mehrheitsverhältnisse immer weniger abbildet.

Noch viel krasser ist das Missverhältnis im Senat, wo die Demokraten zwar gut elf Millionen mehr Stimmen geholt haben als die Republikaner, aber mindestens zwei Sitze verloren. Es ist normal, dass in einem föderalistischen Staat nicht nur das Mehrheitsprinzip eine fundamentale Rolle spielt, sondern auch das Prinzip der Gleichberechtigung der Bundesstaaten (oder im Fall der Schweiz: der Kantone) – und dass deshalb das Mehrheitsprinzip eine Einschränkung erfährt. Die Tatsache jedoch, dass in den USA eine derart lose Kopplung zwischen Volksmehrheit und Regierungsmacht entstanden ist, droht die Legitimität der amerikanischen Demokratie zu zerstören – umso mehr, als die politischen Gräben (wie bei uns) immer mehr zwischen Stadt und Land, zwischen grossen, demokratischen und kleinen, republikanischen Staaten verlaufen. Die Republikaner sind eine klare Minderheit – und beherrschen dennoch das Land.

Es wird auch in Zukunft sehr ungewiss bleiben, ob die numerische Überlegenheit der Bürger, die Trump ablehnen, bei Senats- und Präsidentschaftswahlen den Ausschlag gibt. Der Machtkampf wird weiterhin mit letzter Rücksichtslosigkeit ausgetragen werden – und der faktische Mehrheitswille spielt dabei eine beinahe sekundäre Rolle. Die Midterms beweisen nicht nur die Ablehnung, die Trump bei der Bevölkerungsmehrheit auslöst, sondern eben auch, dass diese Ablehnung relativ begrenzte Folgen hat. Ein echter Sieg über den Populismus trumpschen Typs wird lange Jahre in Anspruch nehmen. Was die Midterms gebracht haben, ist die Gewissheit, dass der Kampf weitergehen kann. Viel mehr nicht.

Begrenzten Anlass zu Euphorie gibt aber nicht nur der Ausblick auf die Langwierigkeit der demokratischen Rückeroberung. Die Bedrohung des liberalen Verfassungsstaates ist ein globales Phänomen, für das die Trump-Präsidentschaft lediglich das schrillste und potenziell wirkungsmächtigste Symbol ist. Und in Europa zeigen gleich in zwei Ländern die jüngst publizierten Umfragen, dass die populistische Dynamik ungebrochen ist.

In Deutschland wurden Anfang Woche neue Umfragen veröffentlicht, sie bestätigen den sich beschleunigenden Bedeutungsverlust von CDU/CSU und SPD. Laut dem aktuellen Insa-Meinungstrend kommt die Union noch auf 24,5 Prozent, die SPD noch auf 13,5 Prozent Zustimmung. Grosse Sieger sind weiterhin die Grünen (19 Prozent) und die AfD (16,5 Prozent). Der Rückzug der Kanzlerin vom Parteivorsitz scheint nicht zu einer Stabilisierung der Situation zu führen.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie sich die deutsche Parteienlandschaft reorganisieren wird, aber eines scheint festzustehen: Die Veränderungen sind einschneidend und werden nicht nur kurzzeitig sein. Dass die AfD zu einem festen Bestandteil der deutschen Politik werden könnte, würde zum heutigen Zeitpunkt wohl kaum noch jemand als unplausibel betrachten. Auch für die Bundesrepublik gilt: Die Auseinandersetzung ist offen. Sie wird schwierig werden und Zeit brauchen.

Identische Signale erreichen uns aus Frankreich. Hier scheint sich zu bestätigen, was linke Macron-Kritiker schon immer befürchtet haben: dass sich im Windschatten der relativ wirtschaftsliberalen Politik des Präsidenten die Macht von Marine Le Pen konsolidiert. Im unmittelbaren Nachgang zu den Präsidentschaftswahlen war der Front national (FN) geschwächt, weil seine Spitzenkandidatin zwar in den zweiten Wahlgang kam, dort aber weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 eroberte der FN dann lediglich acht Mandate beziehungsweise 13,2 Prozent der Stimmen. Auch dieses Ergebnis wurde als enttäuschend eingestuft. Interne Konflikte und prominente Abgänge trugen zudem das Ihre dazu bei, die Krise des Front national, der sich nun in Rassemblement national umgetauft hat, zu verstärken.

Heute jedoch ist die Schwächephase vorbei. Das Rassemblement erweist sich momentan in den Umfragen mit 20 Prozent Stimmenanteil als die Partei, die die besten Erfolgsaussichten bei den im nächsten Mai stattfindenden Europawahlen hat. Macrons La République en marche kommt in derselben Umfrage auf 19,5 Prozent. Natürlich handelt es sich nur um Umfragen, und bis im nächsten Mai kann noch viel geschehen. Aber Marine Le Pen ist zurück. Und die Gefahr, dass Macron nicht die Parade findet, stellt heute eine konkretere Drohung dar als je seit seinem Amtsantritt.

Es sind extrem bewegte Zeiten, und die Zukunft ist offen. Und die Zukunft dauert lange.

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