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Folge 10: Gespräch mit dem Neurobiologen Iddo Magen am Weizmann-Institut in Israel mit den Fachgebieten Molekular-Genetik, Neurologie und Biochemie.

Von Sibylle Berg, 06.11.2018

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Der Neurobiologe Iddo Magen forscht am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rehovot, Israel, derzeit über die Funktion von microRNAs bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS): Profilerhebung der microRNA-Signatur bei ALS-Patienten mittels Next-Generation-Sequenzierung.

Guten Morgen, Dr. Magen, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

Wenn es etwas gibt, das mich als Wissenschaftler beunruhigt, dann ist es, dass die Menschen an Fake News, an erfundene Nachrichten, glauben, dass sie nicht an den Aussagen ihrer Führer zweifeln, deren Aussagen nicht überprüfen. Das beste Beispiel ist natürlich Donald Trump, der über so viele Dinge lügt – und seine Anhänger glauben ihm. Aber auch in Israel verbreitet unser Premierminister Netanyahu Fake News und «alternative Fakten», zum Beispiel darüber, dass der Mufti für den Holocaust verantwortlich sei. Er macht es wissentlich.

Aber natürlich. Verwunderlich ist ja nur, dass diese lose verbundene Einheit von Populisten, Faschisten, Marktradikalen und Diktatoren so lange brauchte, um die Tricks des Hitler-Regimes neu aufleben zu lassen. Endlich verständliche Erklärungen und Lösungen für die denkfaule Weltbevölkerung. Weg mit dem unverständlichen Zeug. Wissenschaft ist Humbug, ich kann selber operieren, ich hab da ein Tutorial gesehen. Das Ausmass der Blödheit, das gerade sichtbar wird, ist überwältigend.

Auf jeden Fall ist es gut, dass ich an dieser Stelle ein wenig von meiner Arbeit erzählen kann.

Bei der Sie auch permanent mit Lügen konfrontiert werden.

Ermüdend, dass die meisten offiziellen Behörden – ob es nun die Polizei, die US-Drogenvollzugsbehörde (DEA) oder die Gesundheitsministerien sind – die Lüge wiederholen, dass Cannabis schädlich und gefährlich sei. Und leider glauben die Menschen immer noch daran, obwohl es so viele Beweise dagegen gibt.

Der Loop von falschen Behauptungen wirkt.

Ja, zum Beispiel glauben viele immer noch, Cannabis könne Schizophrenie verursachen, obwohl noch nie jemand einen kausalen Zusammenhang aufgezeigt hat. Und dass es sich um eine «Einstiegsdroge» handle, die den Konsumenten zum Konsum härterer Drogen wie Heroin und Kokain verleitet. Die Leute sollten die Fakten überprüfen! Es ist nicht sehr schwer, nach Statistiken über die Zahl der Cannabiskonsumenten und die der Heroinabhängigen zu suchen und zu sehen, wie sie im Vergleich zueinander stehen. In Israel benutzen 27 Prozent der Erwachsenen Cannabis. Das sind 1 bis 1,5 Millionen Menschen. Gleichzeitig gibt es rund 20’000 Heroinabhängige, das heisst 1 bis 2 Prozent – also auf keinen Fall die Mehrheit der Cannabisnutzer.

Ehe wir weiter in die Details gehen, könnten Sie Ihren Beruf kurz in drei Sätzen zusammenfassen?

Ich bin Neurobiologe, der die Wirkungsweisen von neurodegenerativen Erkrankungen erforscht, die Möglichkeiten, sie zu diagnostizieren und zu behandeln.

Wie genau kamen sie, um bei populärer Verständlichkeit zu bleiben, zu den Drogen?

Ich wollte in meinem Bachelorstudium Biologie studieren, weil ich dachte, dass die Biologie mit ihren Teilgebieten wie Genetik, Biochemie oder Ökologie ein sehr breites und faszinierendes Fach ist. Damals wurde an der Hebräischen Universität in Jerusalem ein neues Lehrangebot namens Psychobiologie eröffnet, das auf biologische Verhaltensgrundlagen ausgerichtet sein sollte. Es klang für mich perfekt, weil ich immer auch an ein Studium der Psychologie gedacht hatte. Ich habe mich dann in die Neurobiologie «verliebt» und entschieden, dass es das ist, was ich werden will, wenn ich gross bin. So habe ich meinen Master über die Alzheimer-Krankheit, meine Doktorarbeit über die Wirkung von Cannabis bei einer neurologischen Erkrankung durch Leberschäden bei Mäusen und meinen Postdoc über die Parkinson-Krankheit geschrieben.

zvg
«Das ist einer der Mythen, die ich zu zerstören versuche: Cannabis ist keine «Einstiegsdroge.»
Iddo Magen

Das Interesse an Drogen – nicht nur im biologischen, sondern auch im sozialen und politischen Bereich – entstand, nachdem ich von meinem Postdoc zurückgekehrt war und dieses Thema in Israel öffentlich diskutiert wurde. Ich habe beschlossen, dass ich Teil dieser Debatte sein und meine Meinung als Forscher äussern möchte, basierend auf Fakten. Ich habe auch ein Gutachten für eine Petition beim israelischen Obersten Gericht gegen die Kriminalisierung des Selbstkonsums von Cannabis verfasst.

Jeder sollte in der Zeit des um sich greifenden Wahnsinns in seinem Gebiet politisch aktiv werden. Aber lassen Sie mich noch einmal kurz zum Anfang zurückkommen. Sie umschreiben Ihre Tätigkeit mit «Erforschung der Funktion von microRNAs bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS): Profilerhebung der microRNA-Signatur bei ALS-Patienten mittels Next-Generation-Sequenzierung».

Klingt grossartig, und ich weiss natürlich, worum es sich handelt, aber vielleicht gibt es bei einigen Lesern Unklarheiten. Könnten Sie das Ganze in Menschensprache übersetzen?

Sicher – microRNAs sind kleine RNAs, die die Umwandlung von Proteinen aus mRNAs regulieren, und ihre Ausprägung wird bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen gestört, einschliesslich bei der ALS, die eine Erkrankung der Bewegungsneuronen ist. Daher denken wir, dass sie möglicherweise bereits im Frühstadium der Erkrankung verändert werden können. Wir hoffen, solcherart Veränderungen zu finden, die uns sagen können, ob eine Person die Krankheit entwickeln wird oder nicht, wenn sie noch nicht manifest ist.

(Frau Berg hüstelt) Na sehen Sie, und schon ist die Sache klar.

In Ihrer Dissertation beschäftigten Sie sich also mit den Auswirkungen von CBD – dem nichtpsychedelischen Teil von Cannabis – auf Lebererkrankungen bei Mäusen.

Ich fand heraus, dass CBD die Verhaltensdefizite – kognitive und motorische – bei den Mäusen umkehrt, deren Gallengang – der Kanal, der die Galle von der Leber zum Darm leitet – ligiert wurde. Die Gallenwegsligatur führt zu einer Leberschädigung, die sich auf das Gehirn ausbreitet und zu Verhaltensänderungen führt. CBD hat auch Veränderungen in der Genexpression im Zusammenhang mit Entzündungen und neuronalem Wachstum korrigiert, sodass wir glauben, dass dies der Mechanismus ist, der die Wahrnehmung als Folge von Leberschäden beeinträchtigt.

Und sind diese Erkenntnisse auch auf den Menschen übertragbar?

Soweit ich weiss, gab es klinische Studien mit CBD beim Menschen, aber nicht speziell bei Lebererkrankungen. Die klinischen Versuche mit CBD für Epilepsie waren erfolgreich und führten dazu, dass die FDA CBD für eine seltene Form der Epilepsie genehmigt hat.

Dann haben wir das geklärt. Zurück zum gesellschaftlichen Umgang mit Drogen. Sie wissen sicher um den Ursprung des Cannabisverbotes.

In den 1930er-Jahren wurde das Prohibitionsgesetz in den Vereinigten Staaten abgeschafft. Infolgedessen wurden viele der Beamten, die an der Vollstreckung des Verbots beteiligt waren, arbeitslos, also suchte man nach einer neuen Substanz, die man verbieten konnte, um all diesen Menschen Arbeit zu verschaffen. Cannabis war bis zu diesem Zeitpunkt nicht illegal, aber dann wurde ein neuer Leiter an das FBN, das Bundesamt für Betäubungsmittel, berufen, und er beschloss, Cannabis zu kriminalisieren, weil es von mexikanischen Einwanderern verwendet wurde. Und wahrscheinlich auch, weil die Nutzung von Cannabis als Quelle für die Papierproduktion eine Bedrohung für Hersteller, die Papier aus Holz produzierten, darstellte. Das führte dazu, dass ein Gesetz gegen den Konsum und Handel von Cannabis verabschiedet wurde, ohne es vorher zu diskutieren oder die tatsächlichen Folgen des Cannabiskonsums zu bewerten.

Sie stellen eine Verbindung her zwischen rassistischer Politik und dem Verbot von Drogen.

Das Drogenverbot verfestigte auf jeden Fall die rassistische Politik, denn Polizisten setzen die Verbotsgesetze gegenüber Minderheitengruppen unverhältnismässig stark durch: In den USA werden Schwarze und Lateinamerikaner häufiger als Weisse wegen Drogenkonsums verhaftet. Ich denke, das geschieht durchaus vorsätzlich, denn die Polizei kann nicht wirklich sagen, ob jemand Cannabis konsumiert oder nicht – also ist der einfachste Weg, sie anhand ihres Aussehens zu «erfassen». Man sieht das auch in Israel, wo Menschen äthiopischer Herkunft häufiger als andere wegen Drogendelikten verhaftet werden, obwohl sie nur 1,5 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Unzusammenhängend fällt mir die Studie der Universität Lausanne ein, die anhand von Rückständen nachweist, dass in der Schweiz täglich 22 Kilo Kokain verbraucht werden …

Ja, die Gesetzgeber – und das sind ja Politiker – erlassen diese Verbotsgesetze im Wissen, dass Polizisten dazu neigen, Menschen aus Minderheitengruppen häufiger als andere zu verhaften, denn im Gegensatz zu anderen Straftaten wie Mord oder Vergewaltigung gibt es keine Verdächtigen, die auf Beweise am Tatort zurückzuführen sind, und Drogenkonsum ist ein Verbrechen ohne Opfer.

Aber Drogenpolitik kann auch gegen politische Gegner gerichtet sein. Einer von Nixons hochrangigen Regierungsvertretern bestätigte später, dass der «Krieg gegen Drogen» in den 1970er-Jahren erklärt wurde, weil die meisten Drogenkonsumenten Hippies waren – in gewisser Weise war es also eine Möglichkeit, diese Gegner der Nixon-Administration zu bekämpfen, ohne dies ausdrücklich zu sagen.

Ich vermute auch, dass die Pharmalobby sehr lange gegen die Legalisierung von Cannabis war. Und die Regierungen natürlich das anarchistische Moment, das sie mit dem Drogenkonsum verbinden, fürchten.

Ja, das war der Grund für das Verbot von LSD und anderen Psychedelika in den 1960er-Jahren. Denn der Einsatz dieser Medikamente war mit dem Anti-Vietnam-Protest und der «Gegenkultur» verbunden.

Reden wir über das Märchen «Einstiegsdroge Cannabis».

Das ist einer der Mythen, die ich zu zerstören versuche. Cannabis ist keine «Einstiegsdroge» – es wurde kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Konsum von Cannabis und dem Konsum anderer Drogen nachgewiesen. Es ist möglich, dass Menschen, die zum ersten Mal Cannabis konsumieren, später auch andere illegale Drogen konsumieren, aber es ist weit hergeholt, zu sagen, dass der Konsum von Cannabis zum Konsum von Kokain und Heroin führe.

Es gibt auch die populär heruntergebrochene Aussage, Cannabis führe zu Schizophrenie. Richtig, aber schwerer eingängig ist, dass Variationen in einigen Genen sowohl für den Cannabiskonsum als auch für die Schizophrenie ein Risiko darstellen, daher der höhere Anteil schizophrener Individuen unter den Cannabiskonsumenten. Aber es wurde keine Kausalität nachgewiesen, in dem Sinne, dass Cannabiskonsum zu Schizophrenie führen würde. Es könnte auch sein, dass Schizophrene Cannabis als Selbstmedikation verwenden.

Was ist mit der Abhängigkeit?

Auch so eine Legende. In der Tat hat Cannabis eine viel geringere Suchtwirkung als Nikotin und eine etwas geringere Suchtwirkung als Alkohol. Und dann gibt es den Mythos, dass Cannabis das Risiko für Autounfälle erhöhen könne – wo es doch weniger riskant ist, unter Einfluss von Cannabis zu fahren als unter Einfluss von Alkohol, und kaum riskanter, als unter keinerlei Drogeneinfluss zu fahren.

Haben Sie noch ein paar schöne Drogen-Schauergeschichten?

Was psychedelische Drogen wie LSD, MDMA oder Psilocybin betrifft, so gibt es einen Irrglauben, dass sie zu Selbstmorden führen, obwohl das Risiko, Selbstmord zu begehen oder den Selbstmord zu planen, wenn man unter dem Einfluss von Psychedelika steht, geringer ist als bei Nichtnutzern, also Menschen, die keine Psychedelika konsumieren.

Gibt es so etwas wie eine suchtaffine Persönlichkeit? Oder ist das auch ein Mythos? Wobei Gier ja auch eine Sucht ist, die das Wesen unserer Gesellschaftsordnung ausmacht, und Drogenabhängige bei weitem weniger gesellschaftlichen Schaden anrichten als gierige Politiker und Unternehmer, wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf.

Beim Thema Abhängigkeit kommt es auf viele Faktoren an – zum Beispiel auf die Genetik, die Umwelteinflüsse auf Drogenkonsumenten, Armut, soziale Notlage. Einige Menschen haben eine genetische Suchtveranlagung, zum Beispiel, weil sie Veränderungen in Genen haben, die für jene Rezeptoren kodieren, welche die Wirkung von Medikamenten oder Drogen vermitteln.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass wir eine unverwechselbare genetische Signatur für Menschen mit einer suchtgefährdenden Persönlichkeit haben, aber so weit sind wir noch nicht. Mit der Evolution der Sequenzierungsmethoden – etwa der Next-Generation-Sequenzierung, die ich oft verwende – beginnen wir, den Zusammenhang zwischen genetischen Veränderungen – auch von einer DNA-Basis – und bestimmten Verhaltensweisen zu verstehen. Ich hoffe, dass wir in Zukunft allein anhand des genetischen Fingerabdrucks sagen können, welche Menschen ein höheres Risiko haben, abhängig zu werden.

Wäre Abhängigkeit ohne ihre Kriminalisierung ein Problem?

In viel geringerem Masse, denn Menschen, die das Gefühl haben, abhängig zu werden, fürchten oft, um Hilfe zu bitten, weil sie dann kriminalisiert werden.

Würden – auch so ein Dauerargument – mehr Menschen Drogen nehmen, wenn sie legal wären?

Überraschenderweise nicht. Wenn überhaupt, kann die Legalisierung von Drogen die Konsumrate senken, das hat sich in Colorado gezeigt. Warum ist das so? Für viele Menschen, insbesondere Teenager, macht die Tatsache, dass es sich um eine «verbotene Frucht» handelt, die Attraktivität grösser, als wenn die Sache legal ist. Viele Teenager in Colorado sagten, sobald es legal sei, sei es nicht mehr «cool».

Im Wesentlichen glaube ich, dass die Illegalität von Drogen ihre Verfügbarkeit nicht beeinträchtigt und auch keine Abschreckung darstellt, denn Abschreckung resultiert aus einer harten Durchsetzung des Gesetzes. In Israel beispielsweise werden jedes Jahr 20’000 Strafverfahren wegen Cannabiskonsums zur Eigenverwendung eröffnet. Davon betroffen ist nur ein winziger Teil der Gesamtzahl der Cannabiskonsumenten, die in der erwachsenen Bevölkerung über eine Million beträgt. In diesem Sinne wird das Gesetz gegen den Cannabiskonsum so gut wie nicht vollstreckt, und die Menschen wissen, dass sie relativ sicher sind, wenn sie zu Hause rauchen.

Warum ist es dann so wichtig, es überhaupt zu legalisieren? Um Steuergelder zu sparen, die für die Erreichung eines unrealistischen Ziels verschwendet werden; um Steuergelder aus der Kommerzialisierung zu erhalten; um den Handel regulieren zu können; und weil wir in einem demokratischen Land leben, in dem die Menschen in der Lage sein sollten, alles zu tun, was sie wollen, solange sie niemandem schaden. Selbst wenn man nicht von der Polizei verhaftet und nicht vor Gericht gestellt wird, ist schon die blosse Erfahrung der Vernehmung für einen normativen, gesetzestreuen Bürger hart.

Der Traum jeder Regierung ist die absolute Kontrolle. In den meisten Ländern des Westens können die Bürger weitgehend straffrei hetzen, sexuell übergriffig werden, den Arm zum Führergruss heben, sich besaufen, Kinder schlagen. Aber gepflegt in einen freundlichen Heroinhalbschlaf zu versinken, ist kriminell.

Worin besteht der Unterschied zwischen den Wirkungen der Ihnen bekannten Drogen?

Jede Droge beeinflusst einen anderen Mechanismus oder ein anderes Neurotransmitter-System im Gehirn. Kokain zum Beispiel wirkt auf das Dopamin-System, das eine Rolle bei Belohnung und Vergnügen spielt, während Heroin auf das Opioid-System – ein natürliches System zur Schmerzlinderung – wirkt und Cannabis auf das Endocannabinoid-System, das an vielen Prozessen in unserem Körper beteiligt ist, darunter Immunmodulation, Entzündung, Schutz der Neuronen vor Schäden und Appetitanregung.

Ist der Ablauf von Botenstoffen nach Jahren harten Drogenkonsums irreparabel geschädigt?

Er ist nicht «geschädigt», aber das Gehirn aktiviert Kompensationsmechanismen, um die Auswirkungen der Drogen zu bekämpfen, wie zum Beispiel die Senkung der Anzahl der Rezeptoren, die die Botenstoffe binden, sie werden Neurotransmitter genannt. Das ist aber ein umkehrbarer Vorgang – sonst könnten sich die Menschen nicht von den Drogen entwöhnen.

Verwenden viele Menschen Ihrer Erkenntnis nach Drogen, um sich selbst zu behandeln?

Ich bevorzuge es, wenn die Leute Cannabis zur Schmerzlinderung benutzen anstatt verschreibungspflichtige Opioid-Medikamente, die stärker abhängig machen und lebensbedrohlich sind. Ferner denke ich, dass man Drogen verwenden kann, um seine Depression zu behandeln, und es gibt nichts Falsches daran.

Ich lehne die Unterscheidung zwischen illegalen Drogen – wie Cannabis, Kokain oder Heroin – und verschreibungspflichtigen Medikamenten ab. Beide können gefährlich sein, und es ist allein eine Frage der Dosis und der Häufigkeit des Konsums. Immerhin beinhalten alle illegalen Drogen einen Wirkstoff, der isoliert und separat als Medikament für medizinische Zwecke verabreicht werden kann. Heroin enthält den gleichen Wirkstoff wie Morphium, ist aber viel konzentrierter.

Kopieren Antidepressiva Kokain oder Heroin?

Keineswegs! Sie arbeiten nach einem gänzlich anderen Wirkprinzip. Kokain wirkt auf Dopamin, Heroin im Opioid-System und Antidepressiva im serotonergen System.

Meine Naivität bezüglich praktischer Drogenwirkungen ist abenteuerlich. Ich erkenne nie, ob jemand Drogen nimmt, es ist mir vermutlich auch zu egal, was andere Menschen mit ihrem Leben machen, solange sie nicht nerven. Könnten Sie mir die Zustände, die unterschiedliche Drogen hervorrufen, erklären?

Jede Droge verstärkt unterschiedliche Gefühle. Kokain ist ein starkes Stimulans und bewirkt, dass die Menschen sehr energiegeladen sind.

(Kokainrückstände im Grundwasser der Schweiz, denkt Frau Berg, und die gespeedeten Anzugträger im Strassenbild Zürichs.)

Dopamin verursacht eine Euphorie, und Antidepressiva verbessern die Stimmung. Die Abhängigkeit, die Drogen und Medikamente hervorrufen, hängt von der Freisetzung von Dopamin ab. Und Heroin, die vielleicht am stärksten abhängig machende Droge, bewirkt eine Freisetzung von Dopamin durch einen indirekten Mechanismus – durch die Wirkung auf das Opioidsystem, sozusagen das natürliche Schmerzreduktionssystem des Körpers. Kokain macht ebenfalls abhängig, aber in geringerem Masse als Heroin, wahrscheinlich, weil es in einer anderen Hirnregion wirkt, und auch, weil das Wirkungsmuster kurzlebig ist. Es gibt jedoch keine klare Antwort, warum einige Drogen suchterzeugender sind als andere, und alles, was ich hier sage, ist mit Vorsicht zu geniessen – das sind nur Annahmen.

Fassen wir doch nochmals die Absurdität der Kriminalisierung einiger Drogen und der Legalität der von der Pharmaindustrie erzeugten Medikamente zusammen.

Der Vorteil der Legalität eines Medikaments beziehungsweise einer Droge, auch wenn das Mittel suchterzeugend ist, besteht darin, dass sein Konsum reguliert werden kann. Andernfalls wird alles durch den Schwarzmarkt geregelt, und es besteht keine Verpflichtung, irgendwelche Standards für die Arzneimittelzusammensetzung und so weiter zu erfüllen. Darüber hinaus kann, wenn es legal ist, die Regierung die Einnahmen besteuern und das Geld aus den Steuern verwenden, um die Menschen aufzuklären, wie man das Präparat verantwortungsbewusst anwendet. Es wird so viel Geld in die Kriminalisierung von Drogenkonsumenten investiert, obwohl sie im Extremfall wenig oder gar keinen Einfluss auf die Konsumrate hat, im schlimmsten Fall einen negativen Effekt. Wenn Medikamente legal sind, können Menschen zudem Hilfe suchen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie abhängig werden könnten, ohne die Angst zu haben, ins Gefängnis gesteckt zu werden.

Der Versuch, Drogen, die schon immer Teil der Kulturen waren, zu unterbinden – bei Alkohol etwa durch Prohibitionsgesetze –, ist immer ein Misserfolg, der nur die organisierte Kriminalität fördert.

Sind Substitutionstherapien nicht eigentlich Unsinn – und führen nur zu einer Verlagerung in eine andere Sucht?

Warum sagen Sie das?

Weil der Wechsel zu einem anderen Medikament Schrägstrich Droge nur die Symptome behandelt, nie die Ursache – die meistens das Leben ist. Oder gibt es einen medizinischen Hintergrund für Substitutionsbehandlungen?

Eine Substitutionstherapie ist keine eigenständige Therapie der Drogenabhängigkeit. Sie hilft zuerst einmal beim «Weitermachen», während der Drogenabhängige auf vielfältige Weise behandelt wird, die eher auf die Ursache des Problems als auf die Symptome abzielt – warum er oder sie das Medikament ursprünglich eingenommen hat –, Psychotherapie. Der Vorteil des Ersatzstoffes besteht darin, dass man ihn weniger häufig verabreichen muss, da seine Wirkung länger anhält als die des Rauschgifts, sodass sich der Süchtige allmählich von der Droge lösen kann.

Glauben Sie, dass auch Heroin entkriminalisiert oder legalisiert werden sollte?

Ich bin mir nicht sicher in Bezug auf die Legalisierung, aber es sollte definitiv entkriminalisiert werden. Heroinabhängige sollten nicht wie Kriminelle behandelt werden, sie brauchen Hilfe, um ihre Abhängigkeit zu überwinden, und wenn sie ins Gefängnis kommen, verringert sich die Chance auf einen erfolgreichen Entzug, da Heroin im Gefängnis leicht verfügbar ist. In Portugal hat sich die Entkriminalisierung aller Drogen als erfolgreich erwiesen.

Warum haben viele Menschen einen solchen Abscheu gegenüber Drogenabhängigen? Ist es die gezielte Kriminalisierung? Angst, die Kontrolle zu verlieren? Der Hass auf die eigene Anpassung an das System?

Ich denke, das liegt daran, dass unsere Gesellschaft Menschen würdigt, die Selbstkontrolle haben – und Drogenabhängigkeit bedeutet den Verlust von Selbstkontrolle. Denn Menschen, die sich selbst kontrollieren können, leisten viel.

Sollten nicht alle, die danach verlangen und erwachsen sind, sich ungestraft betäuben dürfen? Das Leben ist nicht unbedingt ein Geschehen, das mit Klarheit ertragen werden sollte.

Philosophisch gesehen glaube ich, dass es Erwachsenen über 18 Jahren erlaubt sein sollte, Drogen zu nehmen. Erwachsene Menschen können Verantwortung für ihr Leben übernehmen – zumindest die meisten von ihnen –, und die Regierung sollte kein Babysitter sein.

Lassen Sie uns mit etwas Positiven enden, der Überschrift des Gesprächs geschuldet: Ich wünsche mir eine friedliche, unter Drogen stehende Weltbevölkerung. Und Sie? Sehen Sie etwas Positives?

Natürlich! Wir sehen schon, dass viele Substanzen, die als tabu galten, heute zulässig für therapeutische Zwecke sind. Cannabis ist jetzt weitestgehend legal oder entkriminalisiert in vielen Staaten in den USA und in manchen anderen Ländern. In Israel, wo es noch nicht komplett entkriminalisiert wurde, gibt es jetzt ein Gesetz, das sagt, man zahlt erst Bussgeld, wenn man zum vierten Mal mit Cannabis erwischt worden ist. Es bewegt sich also in die richtige Richtung.

Herr Doktor Magen, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihren Optimismus!

Illustration Alex Solman

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