Wir basteln uns Extremisten

Kein Tatnachweis, unterschlagene entlastende Indizien, ignorierte Unschuldsvermutung und die Forderung nach insgesamt fast vierzig Jahren Gefängnis: Beim Prozess gegen mutmassliche achtzehn Teilnehmer einer Demonstration gegen Rassismus in Basel spielt die Wahrheit nur eine Nebenrolle.

Von Daniel Ryser, 01.11.2018

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1. Eine für alle, alle für eine

Wir hatten im August erstmals über diesen Fall berichtet: Im Juni 2016 war es in Basel während einer Demonstration gegen Rassismus und Aufwertung zu Sachbeschädigung gekommen. Daraufhin klagte die Basler Staatsanwaltschaft 12 Männer und 6 Frauen im Alter von 20 bis 32 Jahren kollektiv in allen Delikten an, die während der Demonstration registriert worden waren. Die Angeklagten hätten, so die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, sich gegen 22 Uhr auf einem Schulhof alle gleichzeitig schwarz angezogen und vermummt und «gemeinsam den Entschluss gefasst, auf der anschliessenden Demonstrationsroute in gleichmassgeblichem und arbeitsteiligem Zusammenwirken möglichst viel und grossen Sachschaden zum Nachteil möglichst vieler Geschädigter zu verursachen».

Besagte Sachschäden beliefen sich auf insgesamt 160’000 Franken, unter anderem bei der SVP-Parteizentrale und einer UBS-Filiale. Zwei Polizeiautos wurden mit Steinen und Flaschen beworfen. Deswegen seien alle Angeklagten wegen Sachbeschädigung, Landfriedensbruch, Angriff, Körperverletzung und Drohung gegen Beamte zu verurteilen – egal ob einer einzelnen Person ein individueller Tatbeitrag zugeordnet werden könne oder nicht.

Die Anklage forderte nun hohe Strafen: von 22 Monaten bis zu 38 Monaten. Für die Hälfte der Angeklagten beantragte die Staatsanwaltschaft unbedingte Strafen, für drei weitere teilbedingte. Die übrigen hatten ihrer Ansicht nach eine Probezeit von 4 Jahren verdient.

Die Summe der begangenen Sachschäden war in den vergangenen zwei Jahren immer wieder korrigiert worden – von 300’000 in ersten Pressemitteilungen auf schliesslich 160’000 Franken vor Gericht. Dieser Sachschäden wegen hatten bereits acht der Beschuldigten mehrere Monate in Untersuchungshaft gesessen. Zwei waren nur unter Meldeauflagen freigekommen.

Die sechzehn Anwälte und zwei Anwältinnen plädierten allesamt auf Freispruch. Denn so schwer die von der Staatsanwaltschaft aufgefahrenen Geschütze bei der Strafzumessung waren, so unklar blieb das eigentliche Verschulden der Angeklagten. Der Prozess dehnte sich auf zwei Räume aus: achtzehn Angeklagte in einem Saal zusammen mit ihren Anwälten, in einem Nebenraum Presse und Besucher, die gezwungen waren, das Geschehen per Videoübertragung zu verfolgen.

2. Adieu, Unschuldsvermutung

Für die Staatsanwaltschaft war klar, dass alle Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Delikte gemeinsam verübt hatten. Dabei zeigte sich vor Gericht, dass in mehreren Fällen noch nicht einmal erwiesen war, ob die Angeklagten an jenem Abend überhaupt in Basel waren. Im Prozess wurde zudem deutlich, dass die Staatsanwaltschaft entlastendes Material in den Akten unterschlagen hatte, um möglichst viele Menschen anzuklagen.

Zum Beispiel im Fall jener Theaterpädagogin, über die wir im August berichtet haben: Der Frau war in der Anklageschrift und in einem Basler Online-Medium vorgeworfen worden, in «blinder Zerstörungswut» in Basel gewütet zu haben. Dabei gibt es keinen Hinweis darauf, ob sie sich tatsächlich an jenem Abend in der Stadt aufgehalten hat.

Was sie belastete, war eine SMS auf dem Handy eines Mannes, eines Mitglieds ihrer Theatergruppe: «Juhuuu hüt ab uf strass.. händer scho euäs zügs? kostüm? requesitä? freu mi uf eu!»

Der Empfänger dieser Nachricht wurde an jenem Abend in Basel angehalten. Was er dort angestellt haben soll oder ob er überhaupt an der Demonstration war, konnte die Staatsanwaltschaft im Übrigen ebenfalls nicht belegen.

Die Staatsanwaltschaft deutete die am Tag der Demonstration versandte SMS als eine Art «Code», der beweise, dass die Frau an jenem Abend ebenfalls in Basel gewesen sei und an der Demonstration teilgenommen habe. Entlastungszeugen, die bestätigt hätten, dass die Frau an jenem Abend nicht in der Stadt war, lehnte das Gericht ab.

Ihre Anwältin Manuela Schiller sagte damals gegenüber der Republik: «Meine Klientin ist Mitglied einer Gruppe für sogenannt unsichtbares Theater, das spontan an öffentlichen Plätzen aufgeführt wird. Der verhaftete Mann war einer ihrer Schauspieler. Der Inhalt ihrer SMS bezieht sich auf eine Aufführung an jenem Tag am späten Nachmittag an ihrem Wohnort. Meine Klientin hat ihre Stadt an dem Tag nie verlassen.»

Die Staatsanwaltschaft argumentierte, diese Argumentation ergebe keinen Sinn.

Vor Gericht stellte sich heraus, dass die SMS durchaus ganz viel Sinn ergibt, dass die Basler Staatsanwaltschaft sie einfach aus dem Kontext gerissen und dabei weitere Kurznachrichten, die die Verteidigung beim Durchforsten der 9000 Seiten Akten schliesslich entdeckte, unterschlagen hatte – SMS, welche die Frau entlastet hätten. Beispielhaft für diesen kafkaesken Prozess.

Am 3. April 2016 etwa schrieb die Theaterpädagogin an die Mitglieder ihrer Theatergruppe: «Haaii Liebstii lüüüt..morn gömmer ufdstrass..und versuechet eus züberwinde ide öffentlichkeits ufzfalle..oder au ned isch alles wie gseiht freiwillig..mi»

Am 30. Mai schrieb sie: «Yo!hello alle zusammen heute wider prooooobe! 17.45! uhr start!nach der probe werden wir noch eine besprechung haben bezüglich der aktion die gplant ist. so.»

Am 22. Juni 2016, zwei Tage vor der Basler Demonstration, schrieb sie: «Di ersti unsichtbari szene wir ufgführt.machet eui requistä ready unds kostüm..chömet sochli ungefair pünktlich..»

Die Staatsanwaltschaft hatte die ganze Zeit Kenntnis von diesen SMS. In der Anklageschrift tauchten sie aber nicht auf. Sie hätten die Code-Theorie platzen lassen. Forderung der Staatsanwaltschaft: zwei Jahre Gefängnis auf vier Jahre Probezeit.

«Es gab für die Staatsanwaltschaft aufgrund der Akten – Tausende Seiten ohne irgendeinen Beweis – gute Gründe, an der Schuld meiner Mandantin zu zweifeln. Aber das hat sie nicht getan, und somit hat sie die Unschuldsvermutung verletzt», sagte Verteidigerin Manuela Schiller im Gerichtssaal.

3. Kleider machen Leute

Die Kurznachricht der Theaterpädagogin war nicht die einzige SMS, die in diesem Prozess als Beweis herhalten musste. Auf dem Handy des in Basel verhafteten Schauspielers fand die Staatsanwaltschaft weitere Nachrichten, die sie als Beleg für die Anwesenheit zweier weiterer Personen deutete.

Eine junge Frau hatte dem verhafteten Schauspieler am Tag der Demonstration folgende Nachricht geschrieben: «ciao ja ich han no schön bis am mittag gschlofe. du hesch au no dis schwarze t shirt vergesse ich bring ders hüt mit bisou». Forderung der Staatsanwaltschaft für diese Nachricht: teilbedingte Gefängnisstrafe von 26 Monaten.

Die Staatsanwaltschaft konnte sich in ihrer Anklage auf die Arbeit von Untersuchungsbeamten stützen, die ihr Urteil offenbar ebenfalls längst gefällt hatten, wie ein Blick in die Akten zeigt: «Diese SMS wurde von ihnen am Tag geschrieben, als dieser Mob aus Chaoten durch die Innenstadt zog. Sie wollten dieses T-Shirt mitnehmen, damit er es anziehen kann. Und deswegen muss ich davon ausgehen, dass auch sie Teil vom Mob waren.»

«Schwarzes T-Shirt gleich schwarzer Block – das ist die Gleichung», sagte Verteidiger Martin Kubli. Und verwies darauf, dass die Untersuchungsbeamten bei ihrer Arbeit gegen die Strafprozessordnung verstossen hatten: Sie hatten seiner Mandantin die in diesem Fall zwingende anwaltschaftliche Vertretung während des Beweiserhebungsverfahrens vorenthalten. Aus diesem Grund war die SMS – selbst wenn sie irgendetwas bewiese – vor Gericht gar nicht verwertbar. Zum selben Verstoss gegen die Strafprozessordnung kam es auch im Falle anderer Angeklagter.

Dass der angehaltene Schauspieler gar kein schwarzes T-Shirt mit sich trug: geschenkt. Dass die Frau an besagtem Abend nie in Basel gesehen oder angehalten worden war, dass ihre DNA nicht mit Abgleichen am Tatort übereinstimmt: geschenkt.

Nicht geschenkt: dass die Frau von ihrem Schweigerecht Gebrauch machte. Das wertete die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer als Schuldeingeständnis. Zudem – und jetzt sollten Sie sehr genau lesen, denn derartige Konstrukte als Beleg für «Schuld» zogen sich durch den ganzen Prozess – sei die junge Frau einmal in Luzern beim Verlassen eines besetzten Hauses kontrolliert worden. Zwei Jahre teilbedingt. Adieu, merci.

«Meine Mandantin wird nicht angeklagt, weil es Beweise gegen sie gibt», sagte Anwalt Martin Kubli. «Sondern weil sie in den Augen der Staatsanwaltschaft in den falschen Kreisen verkehrt, weil sie der Hausbesetzerszene angehören und Leute kennen soll, die in Basel verhaftet wurden. Das ist Gesinnungsjustiz. Diese Anklageerhebung ist ein Missbrauch des Gerichts.»

Ein dritter Angeklagter soll ein Jahr ins Gefängnis, weil er besagtem Schauspieler an jenem Tag folgende SMS schrieb: «Ich fahre von Luzern aus.» Der Mann soll ebenfalls in der Hausbesetzerszene verkehren, so die Staatsanwaltschaft, womit auch belegt sei, wie die Textnachricht gemeint sei. «Mein Klient war an jenem Abend nicht in Basel. Auf tausend Seiten Akten findet sich kein einziger Umstand gegen meinen Mandanten, der belastend ist», sagte Anwalt Jonas Krummenacher. «In welchem Zusammenhang diese SMS steht, ergibt sich nicht aus den Akten. Es lässt sich nicht ableiten, wann und an welchem Tag der Verfasser wohin fahren wollte und weshalb und ob er überhaupt irgendwann irgendwohin fuhr. Dass er zu den Anschuldigungen schwieg, legt die Staatsanwaltschaft gegen ihn aus.»

Dabei steht es jedem Angeklagten frei, ob er sich zu Vorwürfen äussern will oder nicht. Das Aussageverweigerungsrecht ist durch die Strafprozessordnung geschützt – dieses Schweigen als Schuldeingeständnis auszulegen, verstösst gegen die Bundesverfassung.

4. Fataler Kleiderwechsel

Es wurde noch viel chaotischer und unübersichtlicher: 18 Angeklagte, 18 Anwälte, 3 Staatsanwälte (die Staatsanwältin, die die Anklageschrift verfasst hatte, war kurzfristig krankgeschrieben), 3 Tage für Beweisanträge und alle Plädoyers. Und immer wieder die Lebensführung der Beschuldigten als belastendes Indiz und offensichtlich als argumentatives Kompensatorium dafür, dass in keinem einzigen Fall ein individueller Tatbeitrag nachgewiesen werden konnte. Die Rede war von «einschlägigen Kreisen» und «Linksextremisten», einer Angeklagten (Nummer 13) wurde zur Last gelegt, dass man bei ihr eine Proseminararbeit gefunden habe über die «Teilnahme- und Vorsatzproblematik bei Gewaltdelikten».

«Nummer 2» soll ins Gefängnis, weil seine Kleidung, die er bei der Anhaltung trug, beweise, dass er «anarchistisch motiviert und eingestellt» sei, und das trage zur «negativen Legalprognose» bei. Dem Mann wird vorgeworfen, er sei an jenem Abend dabei gesehen worden, wie er in der Nähe der Demonstration seine Kleidung gewechselt habe – eine derartige Wechselkleidung existiert in den Akten aber nicht.

Bei einem weiteren Beschuldigten ebenso: Er habe bei der Anhaltung Handschuhe getragen. Diese seien während der Untersuchung verloren gegangen, so die Staatsanwaltschaft. Dafür tauchten bei einem anderen Beschuldigten Effekten auf, die bei der Anhaltung gar nicht sichergestellt worden waren. In einem anderen Fall wurden aus in früheren Jahren verübten Bagatelldelikten «einschlägige Vorstrafen» wie Körperverletzung oder Landfriedensbruch (was falsch ist). Wider die Unschuldsvermutung wurde demselben Beschuldigten ein eingestelltes Verfahren wegen Verstosses gegen das Waffengesetz zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft bastelte sich einen Extremisten.

5. Die ominöse Liste

Dreizehn Beschuldigte waren am 24. Juni 2016 irgendwo in Basel verhaftet worden. Die meisten aber nicht vermummt an der Demonstration, sondern im Nachgang irgendwo im näheren oder weiteren Umfeld. Mehrere Beschuldigte waren zudem laut sich widersprechenden Polizeiprotokollen an zwei verschiedenen Orten festgenommen worden, die einen Kilometer auseinanderliegen. Und das alles von einem Polizisten namens «Boxi», der an dem Abend gar nicht auf der Strasse war, sondern im Büro. Zwei Beschuldigte sollen ins Gefängnis, weil man ihre DNA gefunden hat, an einer Mütze und an einer Wasserflasche. Wo hat man sie gefunden? Das liess die Staatsanwaltschaft offen.

Die Köpfe rauchten längst, als die Staatsanwaltschaft schliesslich eine Liste präsentierte. Diese sollte belegen, dass es sich bei der «Demonstration gegen Rassismus und Aufwertung» eben nicht einfach um eine Demonstration gehandelt habe, bei der man durch die blosse Teilnahme (wenn man denn überhaupt teilgenommen hat) nicht habe davon ausgehen müssen, dass es eben nicht zu Gewalt komme. Sondern dass es sich quasi um eine paramilitärisch organisierte Operation gehandelt habe, weswegen auch belegt sei, dass alle Teilnehmenden sich gleichzeitig vermummten, wie es in der Anklageschrift heisst, und eben einen gemeinsamen Entschluss fassten. Diese Details sind entscheidend für das Konstrukt der Mittäterschaft.

Dann also tauchte eine Liste mit den Namen von mehreren Angeklagten auf. Das Dokument war ein paar Tage nach der Demonstration bei einer Hausdurchsuchung offenbar bei einer Frau gefunden und von einem Polizisten fotografiert worden. Wer die Liste erstellt hat, ist bis heute unklar. Die Frau aber, in deren Besitz sich die Liste befand, wurde vor Gericht von der Staatsanwaltschaft als «administrative Schaltzentrale» der Demonstration bezeichnet.

Die Sprache ist klar: Administration meint Organisation, Schaltzentrale meint hochgradig organisiert.

Das war ein neuer Punkt. In der Anklageschrift war die Liste nicht erwähnt, die Frau nicht aufgeführt worden. Journalisten, Anwälte und Angeklagte erfuhren erstmals von dieser Frau, von einer «administrativen Schaltzentrale».

Das hat auch einen einfachen Grund: Die Frau ist gar nicht angeklagt. Sie ist unschuldig.

Und das, obwohl sie die «administrative Schaltzentrale» des «Krawallmobs» sein soll? Wie ist so etwas möglich? Müsste diese Person nicht zwingend die Hauptangeklagte sein?

Mit der Behauptung warf die Staatsanwaltschaft nicht nur ein weiteres Mal die Unschuldsvermutung über Bord, sie widersprach sich auch gleich selbst. Das Verfahren gegen die angebliche Besitzerin der ominösen Liste war vor über einem Jahr eingestellt worden. Von der Staatsanwaltschaft selber.

Weil die Anklage diesen Widerspruch nicht erklären konnte, versuchte das der Verteidiger eines der Angeklagten, Stephan Bernard: «Drei Tage nach der Demonstration hat man eine Liste gefunden. Seit Jahrzehnten gibt es die Situation von Leuten, die verhaftet werden, und von Menschen, die ihnen juristisch helfen wollen. Das nennt man zum Beispiel ‹Rote Hilfe›. All das ist bekannt. Hier aber wird abgeleitet, wenn jemand eine solche Liste hat, drei Tage später, dann muss dies eine Liste sein, die schon vorher existiert hat und mit der generalstabsmässig ein Saubannerzug geplant wurde. Aber diese Liste ist eine Rechtshilfeliste. Und dass Sie hier eine Frau, die gar nicht angeklagt ist, als administrative Schaltzentrale bezeichnen – das entspringt dem Lehrbuch einer rein politisch motivierten Anklage.»

6. Vor Gericht steht der Rechtsstaat selber

Man muss es gar nicht wegreden: Hier sassen zum Teil tatsächlich Leute, die an jenem Abend gegen Rassismus und Aufwertung demonstriert hatten. Einige dieser Personen waren vor Ort vermummt festgenommen worden. Womöglich sassen im Saal also auch Personen, die Sachbeschädigungen in Ordnung fanden. Vielleicht sass auch einer der laut Staatsanwaltschaft sechs nicht weiter identifizierten Personen hier, die zwei Polizeiautos mit Flaschen beworfen haben sollen.

Womöglich.

Nur: Niemand kann das wissen. Denn das Einzige, was die Staatsanwaltschaft zu bieten hatte, waren Konstrukte und ein zweiminütiges Video, auf dem man gar nichts erkennen konnte – ausser dass eine Gruppe von Menschen hinter einem Transparent auf einer Strasse geht. Ausserdem sprüht eine einzelne Person im Schatten, weg von der Gruppe, «FTP» an eine Wand.

Je länger der Prozess dauerte, desto mehr machte sich das Gefühl breit, dass es hier nicht um Wahrheitsfindung ging. Sondern um eine lokale Abrechnung mit der eigenen aufmüpfigen linken Szene und deren Sympathisanten. Die Staatsanwaltschaft hatte schon in der Anklageschrift jede Sachlichkeit vermissen lassen und von «Krawallmob» und «Saubannerzug» geschrieben. Die Basler Presse hatte diese Begriffe übernommen, wie auch unkritisch den ganzen Rest der fragwürdigen Anklageschrift. Die lokalen Medien (mit Ausnahme der «Tageswoche») hatten ihr Urteil denn auch längst gefällt: «Saubanner-Linksextreme» betitelte die «Basellandschaftliche Zeitung» ihren «Live-Ticker» vor Gericht.

Am zweiten Tag begannen die Verteidiger mit dem Verlesen ihrer Plädoyers. In einem Prozess, bei dem erstmals für schwere Delikte eine derartige Mittäterschaft konstruiert wurde. Die plädierenden Anwältinnen machten die krassen Mängel der Anklageschrift deutlich. Die Journalisten konnten jetzt unmöglich nur noch einseitig und unkritisch die Geschichten der Basler Staatsanwaltschaft übernehmen. Doch als die Plädoyers begannen, war nur noch ein einziger Lokaljournalist vor Ort und bald gar keiner mehr, sondern nur noch die WOZ und die Republik. Die Lokalpresse hatte ihre mediale Vorverurteilung ja bereits publiziert.

«Das Verfahren war geprägt von einem massiven öffentlichen Druck», sagte Verteidiger Silvio Bürgi (dessen Mandant wegen eines früheren Bücherdiebstahls sowie eines Aufklebers mit der Aufschrift «Ewiger Hass der Polizei» 27 Monate ins Gefängnis soll, «obwohl es die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal zu behaupten wagt, dass meinem Mandanten ansatzweise individuell etwas vorgeworfen wird»).

«In unserer Empörungskultur erträgt es die Gesellschaft kaum, wenn es der Strafjustiz nicht gelingt, die Verantwortlichen auszumachen», sagte Bürgi. «Der Vorsteher des Basler Sicherheitsdepartements wurde deswegen in den Medien mehrfach hart angegangen. Er fahre eine zu lasche Linie gegen Demonstranten. Und das heute ist das Ergebnis. Freisprüche würden als Totalversagen gewertet. Die ‹Basler Zeitung› hat es ja schon geschrieben: Die Staatsanwaltschaft habe endlich ein klares Zeichen gesetzt, dass Krawallmacher nicht ungeschoren davonkämen. Hoffentlich würden die Basler Richter ihren Hamburger Kollegen folgen, die nach dem G20-Gipfel extrem harte Urteile fällten.»

7. Die Wiedereinführung der kollektiven Bestrafung

Alle sollen alles gemacht haben, weil die Teilnehmer der Demonstration zu Beginn einen gemeinsamen Entschluss gefasst hätten, gewalttätig zu sein – und deswegen müssten einzelne Taten nicht konkret zugeordnet werden können. Ja, es müsste noch nicht einmal nachgewiesen werden, dass die Leute vor Ort waren: Das ist die Logik der Basler Staatsanwaltschaft in diesem Prozess.

«Diese Anklageschrift ist ein Experiment, die Erleichterungen bei Beweisproblemen vom Landfriedensbruch einfach auf alle möglichen Gewalttaten auszudehnen», sagte der Basler Anwalt Christian von Wartburg. «Man weiss, es hat einen Schaden gegeben. Aber wo ist der Beweis für den gemeinsamen Tatentschluss? Es gibt ihn nicht», sagte er. «Die Staatsanwaltschaft verlegt das Individuelle ins Kollektive, aber in unserer Gesellschaft gilt das Schuldprinzip», sagte von Wartburg. «Individuell zurechenbare Schuld und kollektive Schuld sind nicht dasselbe. Kollektivstrafe hat in einem Rechtsstaat nichts zu suchen. Es passiert auch am 1. Mai in Basel immer mal wieder, dass es am Umzug zu Sachbeschädigungen kommt. Ich bin Mitglied der SP. Sie können mich nächstes Jahr anklagen. Mit dieser Anklageschrift untergraben Sie die Möglichkeit, an einer Kundgebung teilzunehmen.»

«Wer geltend macht, eine Versammlung beinhalte einen gemeinsamen Entschluss, Straftaten zu begehen, der greift die Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf Demonstration an», sagte Verteidiger Marcel Bosonnet.

«Das sind Anträge von zirka vierzig Jahren Gefängnis für ein paar Scheiben und Steine», sagte Verteidiger Bernard Rambert zu Beginn seines Plädoyers und stellte damit die Verhältnismässigkeit infrage. Dann sagte er noch etwas anderes, und zwar zum Kern der Anklage, dem angeblich «gemeinsam gefassten Entschluss» der Angeklagten, möglichst viele Straftaten zu begehen: «Wenn wir es genau nehmen, was wir ja sollten», sagte Rambert, «dann wissen wir aus den Akten weder, wie viele schwarz angezogen und vermummt waren, wie viele Steine geworfen haben, wie viele und in welchem Ausmass die Polizei angegriffen haben oder den Polizisten aus dem Weg gegangen sind, wie viele von Anfang bis zum Schluss dabei waren, wie viele die Aktion für gut befanden oder eben nicht. Ebenso wenig, wie viele Personen allenfalls irgendwo dazugekommen sind. Wenn wir das alles nicht wissen, können wir auch nicht wissen, worüber genau sich diese Personen einig waren.»

Man wisse einzig, dass die Demonstration gegen Rassismus, Repression, Vertreibung und Gentrifizierung gerichtet gewesen sei. Das impliziere zwar eine Mobilisierung, aber weder Sachbeschädigungen noch Angriffe auf die Polizei. «‹Und warum hat man sich denn vermummt?›, höre ich die Staatsanwaltschaft fragen. Wer sagt denn, dass alle vermummt waren?», sagte Rambert. «Es gibt keine Beweise, dass all diese Personen dort waren, dass sie sich vermummt haben, dass sie einen gemeinsamen Entschluss fassten, es wurden lediglich einige wenige vermummt vor Ort verhaftet, was nach der heutigen Gesetzeslage ein Urteil wegen Landfriedensbruch zulässig macht, aber noch nicht einmal bei diesen Personen gibt es irgendeinen Beweis für irgendetwas anderes.»

8. Und die Richterbank?

Zum Prozessauftakt vermittelte das Gericht den Eindruck, das Urteil in diesem aufgeladenen Fall bereits gefällt zu haben: Gerade mal einen Tag hatte es zur Beratung und Beurteilung aller achtzehn Anklagen eingerechnet, am nächsten Tag, am fünften Prozesstag, wollte es dann auch gleich alle Urteile verlesen. «Es geht darum, die Wahrheit herauszufinden und nicht einen Prozess zu verwalten», sagte Bernard Rambert am ersten Prozesstag, während die Anwälte das Gericht mit Beweisanträgen eindeckten. Gerichtspräsident Dominik Kiener sagte, er sei «ganz erschlagen wegen all der Anträge».

«Ich kann mir diesen Zeitplan auch nicht mehr erklären», sagte der Gerichtspräsident am zweiten Tag und verschob die Urteilsverkündung um mehrere Monate.

In diesen Monaten wird sich das erstinstanzliche Basler Strafgericht zum Beispiel mit der Frage befassen müssen, ob ein Aufkleber, ein Aufnäher, eine SMS oder der Besuch in einem besetzten Haus als Indiz ausreicht, um Menschen wegen schwerer Delikte ins Gefängnis zu stecken. Kann ein Staat eine Gruppe von Menschen für Taten bestrafen, die nur einige von ihnen begangen haben? Reicht es für eine Freiheitsstrafe, dass man Gedankengut teilt?

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