Ein Gesicht des amerikanischen Rechtsextremismus: Mitglied der White Brigade. Mark Peterson/Redux/Laif

Wie der Faschismus in den USA Fuss fasst

Sie bezeichnen sich als Separatisten, als Chauvinisten, keinesfalls als Faschisten. Alles halb so wild? Die extreme amerikanische Rechte erlebt einen Höhenflug. Was heisst das für die Midterm-Wahlen am 6. November?

Von Robert Evans (Text) und Michael Rüegg (Übersetzung), 31.10.2018

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Sie gelten als Volksreferendum über den politischen Kurs von US-Präsident Donald Trump: die anstehenden Kongress- und Senatswahlen am 6. November. Doch es steht noch mehr zur Debatte. Nämlich die Frage, ob der Faschismus sein Comeback in der amerikanischen Politlandschaft auf eine nächste Stufe heben wird. Mindestens fünf chancenreiche Kandidaten für die Wahlen haben sich in faschistischer, antisemitischer und rassistischer Weise geäussert.

Werden republikanische Politiker als Rassisten oder Faschisten entlarvt, stellen gemässigte Konservative die schwarzen Schafe in den eigenen Reihen in der Regel an den Pranger. Allerdings nur dann, wenn die Beweise für deren Ansichten zu deutlich sind, um sie ignorieren zu können.

Ein gutes Beispiel hierfür ist Paul Nehlen, der die republikanischen Vorwahlen im 1. Wahlkreis von Wisconsin verlor. Nehlen wurde zuerst von prominenten konservativen Figuren wie Ex-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin oder Trumps ehemaligem Berater Steve Bannon unterstützt – bis Journalisten aufdeckten, dass sich der Kandidat für die Bewegung der weissen Nationalisten starkmacht. Nehlen war zu Gast beim antisemitischen Podcast «Fash the Nation», wo er vorgeschlagen hatte, dass der jüdische Chefredaktor einer Zeitschrift «sich selbst deportieren» und «eine Kugel fressen» solle.

Nehlens Unterstützerinnen liessen ihn daraufhin fallen. Doch ähnliche Kandidaten stehen am 6. November zur Wahl, so etwa der Neo-Konföderierte Corey Stewart in Virginia. Im Juni dieses Jahres bot Präsident Trump Stewart seine Unterstützung an – dies, nachdem der Kandidat an Wahlveranstaltungen mit der Flagge der konföderierten Staaten aufgetreten war. Das wäre vor ein paar Jahren noch kein Stein des Anstosses gewesen: Die Flagge des Südens aus dem Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 galt als traditionelles Symbol von southern pride. Doch sukzessive wurde sie umgedeutet. Spätestens seit der Ermordung schwarzer Kirchengänger in Charleston im Juni 2015 durch einen jungen Rassisten und seit den Demonstrationen Rechtsextremer in Charlottesville im August 2017 ist sie untrennbar mit Rassismus und Separatismus verbunden.

Männer wie Paul Nehlen und Corey Stewart verneinen selbstredend, dass sie mit dem Faschismus sympathisieren. Selbst nach seinem Auftritt in einem faschistischen Audio-Podcast legt Nehlen nach wie vor Wert auf die Feststellung, er selber sei kein Faschist.

Das sehen viele Beobachter anders, für sie stehen Männer wie er an der Spitze eines neuen amerikanischen Faschismus. Doch bevor wir diesen genauer anschauen, ist ein Blick auf die Geschichte nötig.

Die Wurzeln der amerikanischen Faschisten

In den 1930er-Jahren unterhielt der Deutsch-Amerikanische Bund – eine nationalsozialistische Jugendorganisation – zwanzig Trainingslager und siebzig lokale Niederlassungen in den USA. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden dieser Bund und andere faschistische Gruppen verboten. Doch bereits 16 Jahre nach Kriegsende gründete ein gewisser George Lincoln Rockwell die Amerikanische Nazi-Partei und sorgte damit für eine Wiederbelebung des amerikanischen Faschismus. Rockwell war Verfechter einer typisch amerikanischen Taktik: Rassen sollen nicht ausgelöscht, sondern lediglich getrennt werden.

Wenn heute moderne Faschisten wie der Alt-Right-Ideologe Richard Spencer behaupten, sie seien weisse Separatisten, nicht Rassisten, wandeln sie damit auf George Lincoln Rockwells Spuren. Rockwell war unter anderem bekannt dafür, dass er die militante Schwarzen-Organisation Nation of Islam finanziell unterstützte und sogar an deren Veranstaltungen auftrat. Er sah die Organisation als Verbündete in seinem Kampf für Rassentrennung. 1967 wurde Rockwell von einem seiner eigenen Mitstreiter ermordet, woraufhin die Bewegung jahrzehntelang im Halbdunkel vor sich hin vegetierte.

George Lincoln Rockwell (vorne Mitte) gründete 1959 die Amerikanische Nazipartei und galt als Verfechter der Rassentrennung. Lee Lockwood/The LIFE Images Collection/Getty Images
Mitglieder der First-Wave-Gruppe League of the South an einer rechtsextremen Demonstration in Shelbyville, Tennessee, im Oktober 2017. Der Slogan der #BlackLivesMatter-Bewegung, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze einsetzt, wurde von rechtsradikalen Gruppen adaptiert. Mark Peterson/Redux/Laif

Als Donald Trump 2015 seinen Vorwahlkampf hochfuhr, löste er damit die Wiedergeburt der amerikanischen Faschisten aus. Zwei unterschiedliche Wellen solcher Gruppierungen sorgen seither für Aufsehen. Die erste umfasst Organisationen wie die «Traditionalist Worker Party», «Vanguard America» und «Identity Evropa». Sie alle existierten bereits vor den Wahlen 2016, sind aber mit Trumps Aufstieg zum Präsidenten erstarkt.

Diese Gruppen der first wave, der ersten Welle, bezeichnen sich als weisse Nationalisten oder weisse Separatisten, aber vermeiden in der Regel das Rassismus-Label der «White Supremacists». Auch weisen sie den Vorwurf von sich, Faschisten zu sein. Allerdings wurden in den vergangenen zwei Jahren dem Medienkollektiv Unicorn Riot diverse geleakte Chats aus dem Inneren dieser Gruppierungen zugespielt. Fast eine Million Postings auf dem Videogamer-Chat «Discord» sind auf diese Weise öffentlich geworden. Darin bezeichnen sich die Aktivisten regelmässig selbst als Faschisten:

«Kombat-Unit #tradoworker: Matt hats sehr gut gesagt, […] ich bin Faschist, weil ich meinen eigenen Leuten helfen will, das ist richtig und basta. Es ist gerecht.»

Diese Gruppen erlebten ihren Höhepunkt bei der bereits erwähnten Unite-the-Right-Kundgebung 2017 in Charlottesville. Eine Gegendemonstrantin wurde damals durch einen Kundgebungsteilnehmer getötet, zwei Polizisten starben, als ein Polizeihubschrauber crashte. Damit wendete sich das Blatt: Viele Sympathisanten nahmen Abstand von diesen Gruppierungen der ersten Welle.

Doch damit lag der amerikanische Faschismus nicht etwa darnieder. Die second wave, also Organisationen der zweiten Welle, hatten längst aus den Fehlern ihrer Vorgängerinnen gelernt. Sie waren erst nach Trumps Wahl entstanden. Ihre Namen: «Proud Boys» und «Patriot Prayer».

Diese Second-Wave-Gruppen weisen jede rassistische Motivation strikt von sich. So nehmen zum Beispiel die Proud Boys Personen aller Rassen und Religionen als Mitglieder auf. Sie sehen sich als «westliche Chauvinisten», nicht Rassisten. Die andere Gruppe, Patriot Prayer, definiert sich als Gegnerin der Antifa, der linken antifaschistischen Netzwerke, von denen es in den USA diverse gibt. Der Gründer von Patriot Prayer, der einstige Senatskandidat Joey Gibson, ist selber asiatischer Herkunft. Seine Organisation will sich nicht als faschistisch oder rassistisch verstanden wissen. Wieso werden sie also dennoch immer wieder als Faschisten bezeichnet?

Woran man in den USA des Jahres 2018 eine Faschistin erkennt

Nehmen wir eine der bemerkenswerten Stories im amerikanischen Politjournalismus. Sie dreht sich um Zina Bash, eine Anwältin aus Washington D.C. und ehemalige juristische Mitarbeiterin des frisch bestätigten Richters am Obersten Gerichtshof, Brett Kavanaugh. Bash machte live im nationalen Fernsehen die «OK»-Geste. Diese gilt als Erkennungszeichen unter Mitgliedern der extremen Rechten. Bash wurde umgehend vorgeworfen, damit für die Überlegenheit der weissen Rasse geworben zu haben.

Auf Twitter ging die Geschichte ab wie eine Rakete. Bis schliesslich ihr Ehemann, ein Bundesstaatsanwalt, sich zu Wort meldete. Seine Frau sei sowohl Mexikanerin als auch Jüdin – und Enkelin von Holocaust-Überlebenden. Damit war der Beweis dafür erbracht, die twitternden Linken und Antifaschisten als paranoide Spinner zu entlarven.

Doch sie hatten allen Grund, genau hinzuschauen. Nur fünf Tage vor der TV-Übertragung hatte der «Atlantic» aufgedeckt, dass Ian Smith, ein Einwanderungs-Analyst im Ministerium für Heimatschutz und regelmässiger Sitzungsteilnehmer im Weissen Haus, wiederholt in E-Mail-Kontakt mit Exponenten rassistischer Organisationen stand.

In seinen E-Mails machte Smith einen Witz mit dem Nazi-Wort «judenfrei» und sprach den Wunsch aus, ein Bier trinken zu gehen mit Matthew Parrott, damals Sprecher der Traditionalist Worker Party – jener Gruppierung, die als treibende Kraft hinter der fatalen Kundgebung in Charlottesville stand.

In den geleakten Discord-Chats der Worker Party wird die Obsession deren Mitglieder für geheime Zeichen deutlich. Unzählige Male wird die OK-Geste genannt. Die Aktivisten erwähnen regelmässig die Notwendigkeit, ihr «Machtlevel» zu verstecken – was im Wesentlichen bedeutet, dass sie ihre faschistische Gesinnung verschleiern wollen. Typischerweise raten sie einander davon ab, auf Veranstaltungen Hakenkreuze zu zeigen, weil «Normalos keine Nazis mögen».

Joey Gibson, Gründer von Patriot Prayer, gibt vor, sowohl gegen Antifaschisten als auch gegen «Rassisten, Nazis oder wen auch immer» zu sein. Doch in Wahrheit sind Gibsons Kontakte zu Rassisten gut dokumentiert. Zahlreiche faschistische Aktivisten sind an Veranstaltungen von Patriot Prayer gesichtet worden.

Gavin McInnes ist Mitgründer des Lifestyle- und Jugendmagazins «Vice», das unter anderem auch in der Schweiz tätig ist. McInnes ist aber auch Gründer der Proud Boys. Seiner Meinung nach ist seine Gruppierung eine «westlich-chauvinistische» Bruderschaft. Es ist jedoch nicht schwer, öffentliche Statements auf Twitter der Proud Boys Canada zu finden. Es beglückwünscht indirekt Nazideutschland zu seinem «effizienten Völkermord»:

«Wenn Migranten im Geburtsland des Nazismus Scheisse bauen, soll man sich nicht wundern, dass die Stimmung kippt. Das sind die unterdrückten Abkömmlinge der Leute, die einen effizienten Völkermord begangen haben. Vielleicht wärs besser, höflich zu bleiben und sich zu integrieren?»

Zugegeben, die Proud Boys und Patriot Prayer sind öffentlichkeitstauglicher als Gruppen wie die Traditionalist Worker Party. Sie loben in der Regel nicht Hitler, sondern drücken ihre Sympathie für ansatzweise salonfähigere Faschisten wie den chilenischen Diktator Augusto Pinochet aus. So gesehen sind sie der «Alt-Light» zuzuordnen, wie die faschistischen Gruppen der ersten Welle die zweite nennen. Doch gerade weil sie etwas moderater und damit mehrheitsfähiger sind, sind diese frischen Gruppierungen auch gefährlicher als die älteren Organisationen. Indem sie sich vom Fanatismus distanzieren, gewinnen sie in der öffentlichen Meinung an Boden – und können leichter neue Mitglieder anwerben.

Gemässigte Second-Wave-Gruppen agieren vordergründig vernünftiger als ihre Vorreiter: Joey Gibson (Mitte), Gründer der Patriot Prayer, sagt am 26. August 2017 ein in Crissy Field, San Francisco, geplantes Treffen ab, da er vermeiden wolle, dass unschuldige Menschen verletzt werden. Zuvor hat er in Videoposts zu Provokationen gegen die Antifa aufgerufen. Marcio Jose Sanchez/AP Photo/Keystone
Ein Hipster wird zum rechten Provokateur: Gavin McInnes, Gründer der Proud Boys, an einer Alt-Right-Demonstration in New York. Susan Watts/NY Daily News/Getty Images

Wie moderne Faschisten Mitglieder rekrutieren

Im Chat zur Planung der Unite-the-Right-Kundgebung in Charlottesville schrieb der Aktivist Jason Kessler: «Die Flagge der Konföderierten ist DAS BESTE Symbol, weil sie von den Südstaatlern geliebt wird, die kurz davor sind, wie wir zu werden, wenn wir sie von der Haltung ‹Tradition, nicht Hass› abbringen können.»

Das ist ein Beispiel für «Entryismus», den Versuch von Faschisten, normale Konservative für extremeres Gedankengut zu gewinnen. Ultrarechte Aktivisten wissen, dass sie in den USA nur eine kleine Minderheit sind. Ihre Ziele können sie nur dann erreichen, wenn sie möglichst viele neue Leute auf ihre Seite ziehen. Um dies zu bewerkstelligen, mischen sie sich an Kundgebungen unter normale Trump-Anhänger und provozieren aus deren Mitte heraus linke Gegendemonstranten – damit diese handgreiflich werden. Die Wahrnehmung der Gewalt von links schweisst so die Rechte zusammen.

Im Discord-Chatraum schrieb der bereits zitierte Jason Kessler: «Ihr seid alle eingeladen, dieses Wochenende nach Charlottesville zum Proud-Boys-Event zu kommen. Wir werden Antifa-Proteste auslösen und die Alt-Light in Zugzwang bringen. Tragt einfach eure MAGA-(Make America Great Again)-Hüte und mischt euch unter die Proud Boys. Das wird lustig.»

In einem anderen Chatbeitrag schrieb er: «Bringt euren MAGA-Hut, wenn ihr einen habt. Wenn die Antifa uns anpöbelt, siehts aus, als ob sie durchschnittliche Trump-Anhänger und Alt-Light attackieren würde.»

Die äussere Wahrnehmung ist der Schlüssel für diese Gruppierungen. Sie haben früh gemerkt, dass ihnen eine Positionierung gegen die Antifaschisten mehr bringt als eine für ihre Ideologie. Wer ihre Chatlogs durchforstet, stösst auf mindestens einen Aktivisten, der zum Faschismus fand, indem er sich eigentlich für die Antifa interessiert hatte.

Mitglieder dieser Chatforen tauschen sich regelmässig darüber aus, was ihren Einstieg in die Szene auslöste. Sonderbar wirkt, dass eine der häufigsten Einstiegsdrogen «Kekistan» ist, ein von Videospielern erfundener «Ethnostaat». «Kekistani» geben sich als Angehörige einer unterdrückten ethnischen Minderheit aus. Der populäre britische Youtuber Carl Benjamin, der sich selber «Sargon of Akkad» nennt, versuchte die Kekistani sogar als ethnische Minderheit in der britischen Volkszählung anzugeben. Die ganze Übung wurde zur Gamer-Parodie der echten Flüchtlingskrise.

Bis jetzt habe ich in den Discord-Chats drei Aktivisten gefunden, die Kekistan oder Kekismus als ihr Tor zum amerikanischen Faschismus angegeben haben. Witze über Flüchtlinge und Rassenidentität scheinen als Katalysator für weissen Nationalismus zu dienen. Dabei gilt es zu erwähnen, dass die Flagge von Kekistan bloss eine farblich umgestaltete Variante der deutschen Reichskriegsflagge ist.

Flaggen von Kekistan bieten daher amerikanischen Faschisten ein probates Mittel, um gegenüber anderen ihre Ideologie sichtbar zu machen – und sich gleichzeitig bei Bedarf davon distanzieren zu können. Solche Flaggen tauchen bei Protesten der extremen Rechten häufig auf. Man trifft derartige Symbole etwa beim «Unite the Right 2.0» in Washington D.C. an. Auch während eines Patriot-Prayer-Marsches in Portland, Oregon, tauchte ein Demonstrant mit Kek-Symbolen auf.

Lustig und harmlos? Oder Erkennungsmerkmal faschistischer Gesinnung? Der fiktive Ethnostaat Kekistan, in Washington D.C. vertreten an einer rechten Freedom-of-speech-Rally am Lincoln Memorial. Mark Peterson/Redux/Laif

Recherchen zeigen, dass moderne Faschisten nicht sofort in ihren Überzeugungen ankommen, sondern sich Schritt für Schritt dorthin bewegen. Das beginnt mit Youtube-Videos von Sargon of Akkad oder Verschwörungstheoretikern wie Alex Jones. Witze über Nazis und den Holocaust auf der Social-Media-Site «4chan» werden nach und nach zu echten Überzeugungen. Es existiert ein ganzes Ökosystem von Inhalten, die junge Männer von der ironischen Bemerkung über den Faschismus zur Übernahme von faschistischer Gesinnung führen.

All das kann man in diversen archivierten Discord-Chats nachlesen. Etwa die Konversation eines Mannes, der beim Thema Juden bereits überzeugter Faschist ist, sich dennoch damit schwertut, an den Nationalsozialismus zu glauben. Unmittelbar erhält er eine Liste mit Lesestoff, inklusive eines 10-seitigen PDFs mit Nazi-Regeln und eines Youtube-Videos mit dem Titel «Adolf Hitlers Warnung».

All die Memes mit dem zum Hasssymbol mutierten Cartoon-Frosch Pepe, Verweise auf Kekistan und andere Nischenaspekte der Gamer-Kultur lassen Konversationen über Faschismus als Geschwätz unter Idioten erscheinen. Bedenkt man zudem, dass zur «Unite the Right 2.0» gerade mal dreissig faschistische Demonstranten aufgetaucht sind, liegt die Vermutung nahe, dass diese Gruppen ihren Zenit längst überschritten haben. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Flirts mit Uniformierten

Im Mai 2018 verlangte William Most, ein Bürgerrechtsanwalt aus dem Staat Louisiana, aufgrund des Öffentlichkeitsprinzips polizeiliche E-Mails, die Hassrede oder Ausdrücke wie «weisser Genozid» enthalten. Seinem Antrag wurde stattgegeben, Ende August erhielt er die bestellten Dokumente. Sie zeigen, dass Polizeibeamte ein Dokument teilten mit dem Titel «full list of antifa.doc». Die Liste, die Tausende Namen enthielt, stammte aus einer Petition gegen Donald Trump. Besorgte Bürgerinnen wurden so als Staatsfeinde gebrandmarkt. Benutzer von «8chan», einer zeitweise abgeschalteten Social-Media-Site, die auch als Rekrutierungsplattform für faschistische Bewegungen diente, liessen das Dokument monatelang zirkulieren: Zweck der Übung war eine Desinformationskampagne. Nicht zum ersten Mal waren amerikanische Gesetzeshüter auf Tricks wie diesen hereingefallen.

Am 22. April 2018 trafen sich Neonazis in Newnan, Georgia, um ein Hakenkreuz zu entflammen. Rund hundert Protestierende aus der Antifa-Szene tauchten vor Ort auf. Ihnen standen siebenhundert Polizeibeamte gegenüber. Zehn Aktivisten der Antifaschisten wurden festgenommen. Eine Anfrage bei den Bundesbehörden aufgrund des Öffentlichkeitsprinzips ergab, dass die übertriebene Polizeiaktion das Ergebnis von gefälschten Informationen war, die eine rechtsradikale Facebook-Gruppe fabriziert hatte. Die falsche Quelle – der die Polizei offenbar Glauben schenkte – suggerierte, dass zehntausend Gegendemonstranten am Nazi-Event aufkreuzen würden.

All dies folgt einem Muster. Diverse Faschisten haben in den USA das vergangene Jahr damit zugebracht, ihr Verhältnis zu den Gesetzeshütern zu verbessern – um die Polizei für ihren Kampf gegen die Antifaschistinnen zu instrumentalisieren. In einem Artikel für das Rechercheportal «Bellingcat» sind von mir solche Vorgänge dokumentiert. Die Strategie entstand aus der Erkenntnis der Faschisten, dass die Antifaschisten derzeit in der Überzahl sind. Rechtsextreme versuchen deshalb, die Polizei zu ihrem Schutz auf ihre Seite zu ziehen. Und sie glauben, dass ihnen die Ordnungshüter im Kampf gegen die Antifa nützlich sein können. Das scheint zu funktionieren: In Kalifornien etwa wurden Polizisten dabei erwischt, wie sie Faschisten behilflich waren, Antifaschisten zu identifizieren.

Ein Video einer Patriot-Prayer-Demo in Portland vom 4. August dieses Jahres legt den Schluss nahe, dass die Strategie der Nähe zur Polizei Früchte trägt. Die lokale Polizei eröffnete das Feuer auf friedliche Gegendemonstrantinnen, eine Schockgranate traf einen Mann am Hinterkopf – ein Gewaltakt, den die Anhänger von Patriot Prayer selber nie gewagt hätten.

Die Zahl der Mitglieder von Hassgruppen stieg in den Vereinigten Staaten während der letzten drei Jahre stetig an. Und während Faschisten auf den Strassen marschieren, gewinnen ihre Ansichten in der Mainstream-Politik an Boden. In einem Artikel vom 10. August im «Atlantic» unter dem Titel «Die weissen Nationalisten gewinnen», schreibt der Autor Adam Serwer, dass bekannte moderate Konservative wie die Moderatorin und Kommentatorin Laura Ingraham oder der Journalist Tucker Carlson am nationalen Fernsehen immer häufiger Positionen weisser Nationalisten und Faschisten wiederholen.

Vergangenen Juli etwa steigerte sich Carlson vor laufender Kamera in einen Wutanfall hinein, der würdig gewesen wäre, in die geleakten Discord-Chats aufgenommen zu werden: Lateinamerikanische Länder würden absichtlich die Wahlen in den USA beeinflussen, indem sie einen Wandel in der Demografie forcierten. Mit anderen Worten, sie entsenden aktiv Latinos, um die Stimmkraft der weissen Amerikanerinnen zu schwächen. Chris Cartwell, ein White Supremacist, der in Charlottesville mitmarschiert war, sagte dazu, dass Carlson dem weissen Amerika mehr oder weniger deutlich mitteile, «sich auf einen Krieg vorzubereiten».

Neonazis, Alt-Right-Anhänger und White Supremacists nehmen am 11. August 2017 in Charlottesville, Virginia, an einem Fackelzug teil, rassistische und antisemitische Parolen skandierend. Zach D Roberts/NurPhoto/Getty Images

Derzeit haben amerikanische Faschisten allen Grund zum Optimismus. Nicht zuletzt, weil sie einige Kandidaten für die anstehenden Midterm-Wahlen in ihren Reihen zählen.

  • Arthur Jones, der in Illinois kandidiert. Er war bis 1980 Mitglied der Amerikanischen Nazi-Partei. Jetzt führt er eine Organisation mit Namen «America First», er leugnet den Holocaust und glaubt nicht an das «Mischen von Rassen».

  • Bill Fawell, noch ein Kandidat aus Illinois. Er gab zu Protokoll, dass der Anschlag vom 11. September 2001 aufs World Trade Center in New York seiner Meinung nach ein Gemeinschaftswerk der Geheimdienste CIA und Mossad sei. Auch bezüglich der Massenschiesserei von Sandy Hook im Jahr 2012, bei welcher zwanzig Kinder getötet wurden, glaubt er an eine Verschwörung.

  • John Fitzgerald kandidiert im 11. Wahlbezirk von Kalifornien. Seine Website besteht hauptsächlich aus Hasstiraden gegen Israel. Fitzgerald ist Holocaust-Leugner und warnt regelmässig davor, dass die Juden die Macht in den USA übernehmen würden.

  • Der bisherige Kongressabgeordnete Steve King, der in Iowa wiedergewählt werden will, vertritt die Ansicht, dass «die westliche Zivilisation nicht mit den Babys anderer» aufrechterhalten werden kann. Er ist ein grosser Fan von Geert Wilders und ein entschiedener Gegner jeglicher nichtweisser Zuwanderer.

  • Corey Stewart, dem wir eingangs begegnet sind, ein Anhänger der Südstaatenflagge. Er kandidiert als Republikaner in Virginia für den Senat. 2017 besuchte er zusammen mit dem rechtsextremen Jason Kessler, Organisator der Unite-the-Right-Demos, eine Konferenz zu konföderierten Denkmälern.

Die Beispiele zeigen: Auch wenn sie wenige sind, haben die Faschisten es geschafft, weit über ihrem Kampfgewicht an Einfluss zu gewinnen – sowohl auf der Strasse als auch im nicht enden wollenden Kulturkampf der amerikanischen Nation. Sie sind seltsame und zum Teil lächerlich wirkende Gestalten. Aber sie sind eine Gefahr für das Land, seine Bewohnerinnen und den Rest der Welt.

Am 6. November wird sich zeigen, ob sie ihren Zenit erreicht haben. Oder ob sie lediglich einen Zwischenhalt auf ihrem Aufstieg hinlegen.

Zum Autor

Robert Evans war Kriegsberichterstatter im Irak und in der Ukraine. Zu seinem Spezialgebiet gehören auch terroristische und extremistische Gruppierungen. Er untersucht, wie diese das Internet für Kommunikation, Rekrutierung und Radikalisierung nutzen. Evans arbeitet unter anderem mit dem Investigativrecherche-Netzwerk Bellingcat.

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