Wie von unsichtbarer Hand

Warum traf es ausgerechnet ihn? Der Prozess gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow ist ein Lehrstück darüber, wie die Staatsmacht in Putins Russland funktioniert.

Von Maria Stepanova (Text) und Olga Radetzkaja (Übersetzung), 27.10.2018

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Die Proteste sind längst international: Die Schauspielerin Franziska Petri an der Schlusszeremonie der Berliner Festspiele im Februar 2018. Matthias Nareyek/Getty Images

Vor gut zwei Jahren war ich in einer Aufführung des «Barbiers von Sevilla» in der Berliner Komischen Oper. Es war der Premierenabend, der Saal war ausverkauft, das Publikum begeistert; am Ende stand der russische Regisseur in seiner schwarzen Mütze auf der Bühne und verbeugte sich, und ich dachte, dass die Vaudeville-Handlung mir an diesem Abend überraschend ihre tragische Seite zugekehrt hatte. Die Hauptfigur in Kirill Serebrennikows Inszenierung war der komische alte Bartolo mit seiner peinlichen, unerwünschten Liebe, seinen lachhaften Vorsichtsmassnahmen und seiner völlig grundlosen Hoffnung auf Glück. Die auch bei Serebrennikow vergeblich blieb: Der Alte wurde betrogen, hereingelegt und stand am Ende mit leeren Händen da, während Rossinis leichtfüssige Oper an ihm vorbei auf ihr heiteres Finale zurauschte. Die Inszenierung war ein grosser Erfolg.

Es folgten weitere: 2017 wurde der Regisseur mit dem hochkarätigen Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet, dieses Jahr lief sein Film «Leto» (Sommer) im Wettbewerb in Cannes, und Serebrennikow wurde zum commandeur im französischen Ordre des Arts et des Lettres ernannt.

Anfang November hat seine jüngste Inszenierung in Zürich Premiere, Mozarts «Così fan tutte» – noch eine Opera buffa über das Neben- und Ineinander von Liebe und Lüge.

Serebrennikows letzte Regiearbeit in Moskau, ein Ballett über Rudolf Nurejew, war eine Society-Sensation ersten Ranges: An Karten zu kommen, war unmöglich, sie gelangten gar nicht erst in den Verkauf, sondern wurden wie in sowjetischen Zeiten unter Partei- und Regierungsmitgliedern verteilt.

Und da sassen sie dann in den goldglänzenden Sesseln des Bolschoi-Theaters: Putins Pressesprecher Dmitri Peskow und Medwedews Sprecherin Natalia Timakowa, der Milliardär Roman Abramowitsch und der Generaldirektor des russischen Staatssenders Erster Kanal Konstantin Ernst, ranghohe Vertreter von Einiges Russland, Fernsehmoderatoren und Staatsbeamte ... und sahen der Geschichte eines Vaterlandsverräters, offenen Schwulen und erklärten Verächters der sowjetischen Wirklichkeit zu, der die erste Gelegenheit genutzt hatte, dieser zu entfliehen.

Regierungsmitglieder eines Landes, in dem «Propaganda für Homosexualität» seit fünf Jahren als Straftat verfolgt wird, klatschten eifrig und nahmen Selfies auf, als wäre das ganz normal. Massnahmen einzuleiten brauchten sie immerhin wirklich nicht: Die Hauptfigur des Balletts war lange tot, und gegen seinen Regisseur wurde bereits ermittelt.

Politische Justiz im Kleid des Strafrechts

Damals, im Dezember 2017, stand Kirill Serebrennikow bereits den fünften Monat unter Hausarrest. Unterdessen sind daraus vierzehn Monate geworden. Er darf nicht telefonieren und nicht ins Internet, er darf – bis auf einen täglichen kurzen Spaziergang – nicht das Haus verlassen und keinen Kontakt zu Journalisten haben. Er durfte nicht von seiner sterbenden Mutter Abschied nehmen.

Nichtsdestoweniger halten Russlands Machthaber das Vorgehen gegen den Regisseur für streng, aber gerecht. Wladimir Putin erklärte bei einer seiner Pressekonferenzen, er sehe nichts Besonderes in dem Fall – ein ganz normales Verfahren wegen Veruntreuung staatlicher Subventionen. «Wenn gegen Serebrennikow keine Untersuchung, sondern eine Kampagne liefe, dann hätte man ihn wohl kein Stück im Bolschoi-Theater inszenieren lassen.»

Man deklariert ein ungewöhnliches Vorkommnis als normal und ein politisches Verfahren als strafrechtliches (wegen Randalen oder Veruntreuung staatlicher Gelder), vertuscht auf diese Weise den realen Hintergrund und insistiert auf einer angeblichen Gleichheit vor dem Gesetz: Diese Rhetorik wird in Russland seit langem praktiziert. Sie kommt sogar dann zum Einsatz, wenn der Angeklagte selbst sein Tun ausdrücklich politisch versteht.

Aktionskünstler mit Benzinkanister: Pjotr Pawlenski hat die Tür zum Geheimpolizei-Gebäude in Moskau in Brand gesetzt. Nigina Beroeva/AFP PHOTO

In einer Novembernacht des Jahres 2015 betrat der Aktionskünstler Pjotr Pawlenski mit einem Benzinkanister in der Hand den Moskauer Lubjanka-Platz, wo seit hundert Jahren unter wechselnden Namen – Tscheka, GPU, NKWD, KGB, FSB – die Geheimpolizei des Landes residiert, und steckte deren Eingangstür in Brand. Die Aktion trug den Titel ugroza, Drohung: «Die Drohung der unausweichlichen gewaltsamen Vergeltung schwebt über jedem, der sich im Radius von Überwachungskameras, Abhörmassnahmen und Passkontrollen aufhält.» Die unausweichliche Vergeltung war auch Teil von Pawlenskis Konzept: Das Video der Aktion zeigt den Künstler, wie er mit dem Kanister vor der brennenden Tür steht und auf seine Verhaftung wartet.

Pawlenski hat darauf bestanden, eines Terroranschlags angeklagt zu werden, so wie der ukrainische Regisseur Oleh Senzow, der 2014 wegen eines «Brandanschlags auf die Bürotür der Partei Einiges Russland» auf der Krim verhaftet wurde. Dennoch wurde ihm zunächst nur «Sachbeschädigung» zur Last gelegt. Am Ende lautete die Anklage auf «Zerstörung oder Beschädigung von Gegenständen des kulturellen Erbes». Die Staatsanwaltschaft erklärte, da in dem Gebäude an der Lubjanka in den 1930er-Jahren «herausragende Kulturschaffende festgehalten wurden», sei dieses als Kulturdenkmal zu betrachten und als solches zu schützen.

Im Internet zirkulieren Fotos von Mahnwachen vor dem Gerichtsgebäude, in dem seit über einem Jahr der Prozess gegen Kirill Serebrennikow und seine Kollegen läuft. Die Demonstranten halten Porträts ebenjener herausragenden Kulturschaffenden in den Händen, die jahrzehntelang in Stalins Lagern sassen, die verleumdet, gefoltert, erschossen, aus dem Verkehr gezogen wurden und deren Namen heute dazu benutzt werden, die Folterkammern und Erschiessungskorridore von damals zum Kulturerbe zu erklären.

Der Bürger gehört dem Staat

Tote Kulturschaffende sind in dieser Hinsicht praktischer als lebende: Einmal verstorben, verwandeln sie sich rasch in eine Art Staatseigentum, das sich zu diversen kommerziellen und symbolischen Zwecken verwenden lässt. Mit den Namen der ermordeten Isaak Babel und Wsewolod Meyerhold schützt man das Gebäude an der Lubjanka gegen Pawlenski; Joseph Brodsky und Ossip Mandelstam werden von staatsnahen Kolumnisten als hypothetische («würden sie noch leben») Befürworter der Annexion der Krim bemüht. Auf einem Literaturfestival zu Ehren Sergei Dowlatows trat 2015 als special guest der «Kurator» auf, den der KGB ab Mitte der 1970er-Jahre auf den Schriftsteller angesetzt hatte. Der ehemalige Geheimdienstmajor führte durch eine Ausstellung und erzählte vergnügt über seine Kontakte zu dem Autor.

Hinter all dem steht ein konstantes Muster: ein Staat, der keine Sekunde an seinem Recht zweifelt, über seine Bürger zu verfügen – über ihre Person, ihr Vermögen, ihre Loyalität und die Früchte ihrer Arbeit. Angewendet wird dieses Recht selektiv, mit der Nonchalance des legitimen Eigentümers: Mal verlangt der russische Kulturminister, die sterblichen Überreste Sergei Rachmaninows müssten in die Heimat rückgeführt werden (um der «anmassenden Privatisierung» des Komponisten durch die böswilligen Amerikaner einen Riegel vorzuschieben), mal muss die Geschichte des letzten russischen Zaren entsprechend den gerade aktuellen Moralvorstellungen umgeschrieben werden. Das Privatleben der Toten wie der Lebenden steht unter permanenter Kontrolle.

So gilt im Fall Serebrennikow die Berliner Wohnung des Regisseurs als wichtiger belastender Umstand: Die lange vor den Ereignissen der «Theateraffäre» gekaufte Immobilie zeigt aus Sicht der Anklage – und angeblich auch Putins –, dass er erstens eindeutig schuldig und zweitens geneigt ist, sich der Justiz durch Flucht zu entziehen.

Serebrennikow und seinen Kollegen soll die Veruntreuung staatlicher Subventionen nachgewiesen werden, die sie 2011 erhalten haben – in jener fernen Zeit, als ein Bündnis zwischen dem Staat und der unabhängigen Kulturszene noch möglich schien. Ein zentrales Schlagwort der damaligen Jahre war Modernisierung, und auch das von Serebrennikow konzipierte Theaterprojekt «Platforma» sollte eine Art Versuchsgelände für eine moderne, mutige, kontroverse und sozial engagierte Kunst sein. Die Plattform existierte dreieinhalb Jahre lang; im veränderten gesellschaftlichen Umfeld nach 2014 war kein Platz mehr für sie.

Bis dahin aber fanden hier Dutzende Theaterabende, Konzerte, Performances und Workshops statt, die zum Bemerkenswertesten gehörten, was in dieser Zeit auf Moskauer Bühnen zu sehen war, und allein schon deshalb wirkte der Vorwurf der Veruntreuung von über 200 Millionen Rubel von Anfang an absurd. Noch seltsamer mutet das Verhalten des Kulturministeriums an, das den Bericht über die Verwendung der Gelder erst mit Freuden angenommen hatte, Jahre später aber plötzlich «Haltet den Dieb!» rief und sich sogar ausdrücklich gegen eine Freilassung der Angeklagten bis zum Prozessbeginn aussprach.

Tatsächlich leugnet keiner der Beteiligten, dass die Rechnungsführung der «Platforma»-Projekte in Teilen problematisch war. Die russische Gesetzgebung schreibt vor, dass Fördermittel im Rahmen solcher Projekte ausschliesslich in Form bargeldloser Zahlungen ausgegeben werden. Damit wird zum Beispiel der Kauf von Theaterrequisiten – oft seltene Einzelstücke – enorm erschwert. Vor dem Problem, über keinerlei Bargeld zu verfügen und auch kleine Anschaffungen nur auf dem Umweg über komplizierte Absprachen und Vereinbarungen tätigen zu können, stehen alle Theater in Russland gleichermassen, und es gibt Grund zur Annahme, dass sie das Problem auch alle auf ähnliche Weise lösen.

Die bestehende Gesetzgebung zwingt sie in eine Grauzone: Auch wenn die bewilligten Gelder ausnahmslos in die geförderten Produktionen fliessen, spiegeln die Abrechnungen nicht immer die realen Ausgaben wider. Jeder weiss das – die Praxis, die im Volksmund obnalitschka heisst (von nalitschnye dengi, Bargeld), gehört am Theater zum Alltag. Und doch ist es genau ein Projekt, dem jetzt der öffentlichkeitswirksame Prozess gemacht wird: Serebrennikows «Platforma».

Warum fiel Serebrennikow in Ungnade?

Bei aller Kühnheit seiner künstlerischen Arbeit war Serebrennikow nie ein kompromissloser Gegner des Regimes. Seine liberale, gemässigt-loyale Position, die in den gebildeten Schichten viele teilten, überschritt nie die Grenze zum offenen Konflikt mit der Staatsmacht; sein Theater war allseits beliebt, in ihm konnten sich sowohl Putin-Anhänger als auch Oppositionelle wiederfinden. Gleichzeitig war er für beide Seiten ein potenzielles Ärgernis: Mal brachte er mit «Nahe Null» einen Roman des Präsidentenberaters Wladislaw Surkow auf die Bühne, mal kündigte er die Vorführung eines Dokumentarfilms über Pussy Riot an oder demonstrierte auf dem Bolotnaja-Platz.

Serebrennikows Rezept schien aufzugehen, zumal im Vergleich mit anderen Moskauer Theatern wie dem von Michail Ugarow und Jelena Grjomina geleiteten Teatr.doc, das konsequent die schmerzhaften Fragen der russischen Gegenwart thematisierte – die Probleme von Migranten, die Verhaftungen von Oppositionellen, die Folterpraktiken in Gefängnissen und Straflagern, den Krieg in der Ukraine, das Geiseldrama in Beslan, die Proteste auf Moskauer Strassen – und ebenso konsequent von den Bühnen der Hauptstadt verdrängt wurde: Gekündigte Mietverträge, polizeiliche Durchsuchungen und Inspektionen brachten das Ensemble an den Rand des Verschwindens. Serebrennikows Theater ging es dagegen allem Anschein nach prächtig – bis zu den ersten Durchsuchungen und Festnahmen.

Kirill Serebrennikow (vorne rechts) während einer Anhörung vor Gericht, bei der es um die Aufhebung des Hausarrests für seinen Produzenten Alexei Malobrodski (im Hintergrund auf der Leinwand) geht. Sergei Chirikov/EPA/Keystone

Seit der Verhaftung des Regisseurs vor über einem Jahr wird über die Hintergründe gerätselt. Mit am häufigsten unter den zahlreichen – manchmal überzeugenden, manchmal abwegigen und immer unbeweisbaren – Spekulationen, die mir in dieser Zeit zu Ohren kamen (mit welchem Film, welcher Inszenierung, welchem Detail hatte der Regisseur sich ganz oben so unbeliebt gemacht?), war die Vermutung, die «Theateraffäre» sei Teil eines Dialogs der Regierenden mit einem ominösen Dritten, irgendeinem ebenfalls ganz weit oben anzusiedelnden Gönner Serebrennikows, oder womöglich gar mit der öffentlichen Meinung, so vermessen es klingt.

Das Gerichtsverfahren war in dieser Interpretation nicht der Zweck, sondern das Mittel, quasi eine archaische Form von verschlüsselter Botschaft – eine Art Sack mit sechs Fröschen, drei Mäusen, einigen Pfeilspitzen und dem abgetrennten Haupt des Gesandten.

Tatsächlich nimmt der Fall Serebrennikow in der Reihe der Aufsehen erregenden Prozesse im Kulturbereich eine Sonderstellung ein. Pussy Riot, Pjotr Pawlenski, der Regisseur Oleh Senzow, der Historiker Jurij Dmitrijew: Sie alle standen in stillem oder offenem, in jedem Fall aber bewusstem Konflikt mit Russlands Staatsmacht. Verglichen mit ihnen war oder schien Serebrennikow, der brillante Regisseur und Leiter eines Staatstheaters, der auf städtischer wie föderaler Ebene gute Kontakte zu hohen Funktionären hatte, vom Glück verwöhnt.

Vielleicht liegt gerade darin eine Erklärung für den Fall, und dabei ist es gar nicht so wichtig, wer der Absender und wer der Empfänger der verschlüsselten Botschaft ist.

Es kann jeden treffen

Von Zeit zu Zeit – gar nicht so selten, wie es die öffentlichen Reaktionen glauben machen – gibt es in Russland Verhaftungen, mit denen niemand gerechnet hat: Eine unsichtbare Hand scheint durch alle Schichten der Gesellschaft zu kämmen und willkürlich hier und dort eine Person herauszureissen.

Einige davon galten bis kurz zuvor noch als erfolgreich: Politiker, silowiki, Amtsträger; Leute, die die Spielregeln kennen und beherrschen. Manche Fälle – darunter bekannte, relativ liberale Politiker wie der ehemalige Finanzminister Alexei Uljukajew oder der ehemalige Gebietsgouverneur Nikita Belych, beide überraschend wegen Bestechungsvorwürfen festgenommen und verurteilt – lösen in der Öffentlichkeit ein diffuses Raunen aus, andere verschwinden sang- und klanglos in der Versenkung.

In den sozialen Medien entfaltet sich für kurze Zeit ein Spektrum typischer Reaktionen: von «recht so» und «alles Gauner» bis zu den üblichen Spekulationen über den wahren, wie immer verborgenen Grund der Verhaftung, dann wird es wieder still, und aus der spektakulären Geschichte wird Schnee von gestern.

In anderen Fällen – und auch sie sind nicht so selten – werden Leute für absolute Lappalien zur Rechenschaft gezogen: für das Teilen eines Fotos oder einer Karikatur, die als «extremistisch» eingestuft wird. Meist geschieht das irgendwo in der Provinz, und Kreml-Intrigen scheiden als möglicher Hintergrund aus. Die Wahl des Opfers ist hier vollkommen zufällig. Manchmal gelingt es, diese Fälle, die ihren Ursprung in den sozialen Medien haben, mithilfe eben dieser sozialen Medien breit publik zu machen, manchmal kommen die Betroffenen sogar wieder frei.

Mitwirkende des Films «Leto» im Mai 2018 bei der Vorführung am Festival in Cannes. Clemens Bilan/EPA/Keystone

Wer die Ereignisse verfolgt, kann mit der Zeit durchaus den Eindruck gewinnen, dass die erratischen Bewegungen der unsichtbaren Hand einem bestimmten Prinzip folgen, dass die verschlüsselte Botschaft einen Autor hat, dessen Ziele sich identifizieren lassen. Jemand wird wegen Bestechung angeklagt – aber wenn «alle Gauner» sind, warum dann gerade dieser? Der eine kämpft gegen das Regime und bleibt auf freiem Fuss, sein Nachbar tut dasselbe und wird als Strassenrowdy vor Gericht gestellt.

Unter diesen Umständen ist es unmöglich, sich richtig zu verhalten: Schuld und Unschuld verlieren ihre Bedeutung, die persönliche Entscheidung ist unerheblich, das Schicksal des Menschen hängt vom Zufall ab, wie in einer Lotterie. Der Staat gibt seinen Bürgern zu verstehen, dass er allein festlegt, worin jeweils Verbrechen und Strafe bestehen und wer der Schuldige ist – die Bürger haben auf diesen Vorgang keinerlei Einfluss, sie können ihn nicht einmal vorhersagen.

Eine Maschine, die Angst produziert

Im öffentlichen Bewusstsein in Russland existieren nebeneinander zwei Weltbilder, zwei Vorstellungen von der Staatsmacht. Das erste Weltbild besagt, dass alles, was im Land geschieht, bis ins Kleinste kontrolliert und durchdacht ist, dass alles ganz oben entschieden wird und jede Verhaftung, jedes Posting in den sozialen Medien und jede Strassenschlägerei Teil einer breit angelegten Aktion zur Bekämpfung Andersdenkender ist.

Das zweite lautet: Kontrolle gibt es schon lange nicht mehr, die linke Hand weiss nicht, was die rechte tut, und all die bizarren Geheimdienstoperationen, merkwürdigen Verhaftungen und abstrusen Gesetzesvorhaben sind eher zufällige Einzelinitiativen, die erst nachträglich und manchmal notgedrungen zu staatlichem Handeln stilisiert werden.

Im Ergebnis besteht zwischen beiden Vorstellungen jedoch kaum ein Unterschied: Selbst wenn wir es mit einer chaotischen, stümperhaften, kopflosen Form der Selbstkannibalisierung zu tun haben, ihre Wirkung ist die einer intelligenten und überaus robusten Maschine, die Angst im Massstab eines ganzen Landes produziert, und für diese Wirkung spielt es keine Rolle, ob die Maschine einen Besitzer hat und wer er ist.

Zudem verursacht diese Maschine wesentlich geringere Kosten als Stalins Terrorapparat. Man kann jeden Dritten für einen läppischen Witz erschiessen, aber man kann auch mit einfacheren Methoden dafür sorgen, dass das tiefe Gefühl der eigenen Verwundbarkeit alle Gesellschaftsschichten durchdringt. Man kann Millionen von Menschen einsperren, aber es geht auch anders: Diesen sperre ich ein, jenen nicht, und jetzt versuch zu verstehen, warum – und was du tun musst, damit du nicht selber hinter Gittern landest.

Man kann Regeln aufstellen und dafür sorgen, dass sie befolgt werden, aber eine Situation, in der niemand die Regeln kennt, ist langfristig vorteilhafter.

Der russische Staat braucht keine Anhänger, er kann mit Leuten, die gelähmt sind und vor jeder Bewegung Angst haben, viel besser arbeiten. Das politische Ideal, zu dem Putins Russland seit geraumer Zeit tendiert, ist die Stasis – und vollkommene Reglosigkeit scheint denn auch die einzige verlässliche Methode zu sein, um der Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden zu entgehen. Es gibt keine Abmachungen, keine Privilegien, keine Elitenzugehörigkeit mehr, die einem Bürger Sicherheit garantieren würden – doch genauso unsicher ist auch das «stille und unauffällige Leben» abseits der Sphären erhöhter Sichtbarkeit.

Die Opfer der Maschine kommen aus verschiedensten Schichten, als würde irgendwer eigens darauf achten, dass die Lektion auch gründlich gelernt wird: Um zum Opfer zu werden, braucht man weder im Unrecht noch im Recht zu sein. Das Privileg, seine Leute hinzurichten und zu begnadigen, zu bestrafen und zu belohnen, den Grad ihrer Schuld zu bemessen und ihnen eine wundersame Rettung zu gewähren, gebührt allein dem Herrn.

Der leibeigene Künstler mag im Ausland Erfolg haben, aber das heisst nicht, dass man ihn zu Hause nicht im Pferdestall auspeitschen wird. Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Macht, die über ihn herrscht, hat in Russland – wieder einmal – erschreckend intime Züge angenommen.

Zur Autorin

Maria Stepanova, geboren 1972 in Moskau, ist Lyrikerin, Essayistin und Journalistin und eine der markantesten Gestalten des gegenwärtigen literarischen Lebens in Russland. Chefredakteurin der Internetzeitschrift colta.ru. Demnächst erscheint bei Suhrkamp ihr Prosawerk «Nach dem Gedächtnis».

«Così fan tutte» im Opernhaus Zürich

Die Inszenierung von «Così fan tutte», die Kirill Serebrennikow mithilfe seines Assistenten Ewgeni Kulagin und dank technischer Hilfsmittel wie Videoaufnahmen und USB-Sticks trotz Moskauer Hausarrest leiten konnte, feiert am 4. November Premiere.

Am Sonntag, 28. Oktober, 15 Uhr findet im Spiegelsaal des Opernhauses ein Podium statt. Thema: «Wie frei ist die Kunst in Russland?»

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