Walter Kurt Wiemken, «Der Photograph», 1932.

Kunst

Surreale Enthirnung

«Surrealismus Schweiz» im Aargauer Kunsthaus

War Wilhelm Tell ein Surrealist? Mehrere Ausstellungen werfen ein Schlaglicht auf die Schweizer Tradition von Surrealismus und Dadaismus.

Von Stefan Zweifel, 19.10.2018

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«Die Schweizer neigen mehr zum Jodeln als zum Kubismus.»
Hugo Ball, 1916

Eine der ersten surrealen Installationen der Welt stand einst im Innersten der Innerschweiz: eine Stange und ein Hut. Ein Bild so einfach und stark wie Marcel Duchamps «Fountain» (ein gekipptes Urinoir), Joseph Beuys’ Fettecke oder René Magrittes Hut über einem schwebenden Apfel, das zurzeit für eine Ausstellung in Lugano wirbt.

Die Antwort der Inner- und Urschweizer? Eine dadaistische Aktion avant la lettre: So zeigt ein Holzschnitt aus dem 18. Jahrhundert Wilhelm Tell als Narren, der sich als idiotes (als sturer Eigenbrötler wie in der altgriechischen Bedeutung des Wortes) vor die Installation stellt und in seinem «Eigensinn» ihren Sinn nicht zu erkennen scheint. Er verweigert es, den Hut zu ziehen: nicht aus politischem Protest gegen fremde Richter, sondern aus gespieltem Stumpfsinn, der sich keiner Ideologie unterwerfen und das tyrannische Zeichen der Macht aus anarchischer Lust nicht richtig deuten will.

Neben diesem Tell steht ein Hund, der an die Fahnenstange pisst. Der Hund als Tier der antiken Kyniker, die seit je die Machthaber herausforderten und wie Diogenes zu König Alexander sagten: Ich habe nur einen Wunsch an dich – geh mir aus der Sonne.

Diese kynische Variante von Tell verweist auf die Einigelung im Eigensinn, die sich als Traditionsstrang durch die Schweizer Kunst zieht. Sie reicht von Adolf Wölfli über Fischli/Weiss bis zu Thomas Hirschhorns Aktion im Centre Culturel Suisse in Paris – die prompt vom Parlament instrumentalisiert wurde, um der Pro Helvetia Gelder zu streichen, da diese Gelder nicht hinreichend patriotisch verwendet würden. Die geistige Landesverteidigung, die 1939 vom frontistisch angehauchten Bundesrat Philipp Etter ins Leben gerufen wurde, hat hierzulande eben immer noch Tradition.

Doch jetzt wird in Ausstellungen von Zug bis Aarau die Geburt des Nonsens aus dem «idiotischen» Schweizertum gefeiert und jene Surrealität sinnlich greifbar, die 1968 von der Linken auf die Strasse getragen wurde und heute auch von der Rechten – wohl eher unfreiwillig – zelebriert wird. So etwa in Magdalena Martullo Blochers zum Klassiker gewordenen Englischkurs für Anfänger, der ja auch eine Art dadaistisches Lautgedicht darstellt.

Enthirnung total: Ubu und Trump

Doch unser Lachen beim Blick in Martullos «Nonsensolog» auf Youtube oder Trumps Tritte in alle erdenklichen Fettecken verkennt eine raffinierte Strategie der Gesellschaft des Spektakels, die uns vom Wesentlichen ablenkt und ausgerechnet am Fuss des Monte Verità greifbar wurde: Nicht fern vom Ort, wo einst Dadaisten und Naturisten von einer besseren Welt träumten, traf Steve Bannon auf seiner Werbetour durch Europa zum Lunch den Polit-Financier Tito Tettamanti, bevor er in Zürich Benito Mussolini als grossen Staatsmann feierte und mit grob geklöppelter Formulierungshilfe Christoph Blocher als Trump avant la lettre hochleben liess.

Die Dadaisten haben uns schon früh die Folie geliefert, vor deren Hintergrund wir bis heute faschistische Tendenzen entlarven können: Sie führten 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire Alfred Jarrys Stück «König Ubu» auf, dessen Titelheld alle Andersdenkenden seiner «Enthirnungsmaschine» ausliefert. Er unterhält seine enthirnten Untertanen, indem er mal in die Rolle des Königs, mal in die des Sklaven schlüpft. Er entlarvt die Ideologie von Herr und Knecht, von links und rechts genauso als eitles Rollenspiel und verlässt die Bühne stets als Sieger. Dieser Ubu beherrscht heute bekanntlich unsere Flachbildschirme mit frisch gefärbter Haartolle. Auch Trump höhlt schamlos die eigene Partei und alle ideologische Kohärenz aus. Auch er steht im ausschliesslichen Dienst seiner eigenen Interessen und lebt, wie man gerade wieder in der «New York Times» über die Steuerbetrügereien seines Vaters lesen konnte, von den undurchsichtigen Geldströmen der schon von Ubu gefeierten «Pfuinanzkraft».

Doch statt diese globalen Geldströme rechter Kreise zu analysieren, lassen wir uns von der twitternden «Gesellschaft des Spektakels» ablenken, wie es ein Erbe von Dada 1967 prophezeit hatte: Guy Debord. Seine hellsichtige These, dass es im falschen Schein kein wahres Leben und keine wahre Kunst mehr geben könne, liefert den wohl aktuellsten Kommentar zu den Algorithmen unserer Erregungs-Gesellschaft.

Surrealismus, wohin das Schweizer Auge reicht

Schon im 18. Jahrhundert wehte der Geist des Wahns durch die Bildwelt eines grossen Schweizer Künstlers: Johann Heinrich Füssli, dem eine grosse Ausstellung gewidmet ist, die heute im Kunstmuseum Basel beginnt*. Nachtmahre und Geister spukten durch seine Gemälde und spurten jener schwarzen Romantik vor, die für die Pariser Surrealisten um André Breton so entscheidend sein würde. Auch hat er in seinen «Symplegmata» erotische Verirrungen in Szene gesetzt, die an die Sexgespräche der Surrealisten in Paris 1928 erinnern. Man sieht darauf Frauen, die mit Dildos Männer vögeln oder ihren Hintern wie einen Altar der Blasphemie den Betrachtern präsentieren.

Johann Heinrich Füssli: «Symplegma eines Mannes mit drei Frauen», 1810. Victoria and Albert Museum, London

Gemälde von Füssli kann man zum Beispiel in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses sehen – wie ein Vorspiel zur wegweisenden aktuellen Aargauer Sonderausstellung «Surrealismus Schweiz», die von weiteren Schweizer Ausstellungen mit surrealem Einschlag umrahmt wird: Robert Delaunay im Kunsthaus Zürich, der 1924 das Titelblatt der Zeitschrift «Surréalisme» von Ivan Goll gestaltet hatte; Balthus im Beyeler-Museum, der für den Surrealisten Antonin Artaud ein Bühnenbild baute; René Magritte in Lugano, der quasi Gessners Hut auf einen Apfel zauberte; dadaistische Werke in der grandiosen Schau «Komödie des Daseins» in Zug, wo politische Karikaturen den Kampf der Kunst gegen die Staatsmacht zeigen. Das Landesmuseum Zürich erinnert unterdessen an 68, als man in Paris unter der Parole «Die Fantasie an die Macht» den Geist des Surrealismus auf die Strasse trug.

«anlogo bung»: Die Migration von Dada

Als André Breton in Paris 1918 am Ende des Ersten Weltkrieges die Zeitschrift «Dada 3» entdeckte, schlug sie ein, so sagte er, «wie eine Bombe». Dada legte die Lunte, die in Paris zum Funkenflug der Fantasie anregte und zur Initialzündung des Surrealismus führte.

Die Dadaisten waren mitten im Ersten Weltkrieg angetreten, um mit dem Unsinn ihrer Kunst gegen den Wahnsinn des Krieges zu protestieren. Ihr Nein zum Krieg gipfelte im Nein zur Sprache, auf der unsere ganze Kultur beruht. In jedem Satz, so meinten sie, herrscht so selbstherrlich wie der deutsche Kaiser ein Subjekt, das die Objekte wie Soldaten per Befehl in die Syntax-Schützengräben der Sätze schickt.

Mit dieser hierarchischen Ordnung wollten sie abrechnen. Und so zerschlugen sie die Sprache im Lautgedicht in Silben ohne Sinn: «jolifanto bambla o falli bambla» verkündete Oberdada Hugo Ball im revolutionären Lautgedicht «Die Karawane». Vollkommen «anlogo bung» – also unlogisch – raste dieser Elefant durch die Kehle und den Gaumen des Dichters: «kusagauma – ba-umf.» Rap trifft Slam Poetry. Das Gedichtgeschoss traf ins Herz des gesunden Menschenverstandes.

Kein Wunder, waren die Dadaisten in Zürich damals nicht gern gesehen: Sie verspotteten die jodelnde Schweiz, forderten das Recht, «in allen Farben auf die Konsulatsfahnen zu pissen», und verweigerten den Militärdienst, indem sie vor der Aushebungskommission Dadagedichte vorlasen – was als Zeichen für Schwachsinn in den Akten vermerkt wurde.

Nein, gern sah man diese Migranten nicht in der Stadt: Hugo Ball wurde von der Polizei wegen Drogenhandel überwacht, seine Geliebte Emmy Hennings wegen Prostitution. Das Hotelzimmer des rumänischen Dadaisten Tristan Tzara durchsuchte die Polizei, weil sie vermutete, dass er den revolutionären Umsturz versuchen wollte – schliesslich wohnte Lenin gleich neben dem Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse. Doch der eidgenössische Untersuchungsrichter Dr. Bickel gab zu Protokoll: «Was die Zeitschrift ‹DADA› bezweckt, wurde mir nicht klar.»

Die Dadaisten stellten damals – ausgerechnet in der Galerie Sprüngli am Paradeplatz – auch Bilder von Hans Arp, Max Ernst und Paul Klee aus, die in der surrealistischen Bewegung eine gewichtige Rolle spielen sollten. Am Ende des Krieges reisten Zürcher Dadaisten mit Tristan Tzara von Zürich nach Paris weiter, wo das radikale Nein nochmals auf weltoffener Bühne zelebriert wurde. Doch dieses insistente Nein endete schliesslich in einer Sackgasse.

Aus ihr erlösten es André Breton und Philippe Soupault mit dem Ja zum Wunderbaren, das die Surrealisten entdeckten. Im freien Spiel der Assoziationen, wie auf der Couch von Sigmund Freud, erkundeten sie die Triebe des Unbewussten und zeigten uns allen die verdrängten Triebe unserer Erotik und Fantasie.

In Bretons Definition des Surrealismus von 1924 klang das noch etwas papieren: «SURREALISMUS, männliches Substantiv: Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken versucht. Ein Denk-¬Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.»

In Militärspitälern hatte Breton als Hilfsarzt beobachtet, wie Kriegsverletzte mit Granatsplittern im Kopf sinnlose Sätze von rätselhafter Schönheit von sich gaben. So begann er mit seinen Freunden, den Wahnsinn zu simulieren und schizophrene oder paranoide Texte zu verfassen. Tabubrüche wurden Programm: Max Ernst malte die Jungfrau Maria, wie sie das Jesuskind schlägt, Luis Buñuel filmte Jesus als Helden in einer Parodie rund um den Marquis de Sade, Salvador Dalí malte Tell mit einem gewaltigen Schwanz.

Moralische Normen unterliefen die Surrealisten mit ungewohnter Radikalität und säten imaginären Terror: Breton meinte, dass der einfachste surrealistische Akt darin bestehe, auf die Strasse zu gehen und mit dem Revolver blindlings in die Menge zu schiessen. Das Grauen des Ersten Weltkrieges trugen sie in den Furchen der eigenen Gehirnwindungen – und ihre Werke hinterfragen auch unsere Schaulust an Terrorattacken im Live-Modus.

Die Wiederkehr des Verdrängten

Merkwürdig ruhig und gesittet ging es unterdessen in den 20er- und 30er-Jahren in der Schweiz zu – ganz so, als hätte der Sturm von Dada hier nie gewütet. Die «Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten» mit dem bürokratischen Kürzel GSMBA sorgte dafür, dass die Künstler an der Landi 1939 brav den Wehrwillen der Schweiz in Szene setzten. Man verbannte die einzige surreale Installation von Leo Leuppi auf einen Nebenschauplatz. Der Surrealismus war den Schweizer Machthabern nicht geheuer, verständlicherweise. Er koppelte die Bildproduktion radikal von allen konventionellen Wertevorstellungen ab, um durch Tabubrüche die morsche Gesellschaft nicht zu stützen, sondern zum Einsturz zu bringen. Es ist wohl kein Zufall, dass Hans Arp, Paul Klee und Ernst Maass die Schweizer Staatsbürgerschaft verweigert wurde.

Ernst Maass: «Maschinenmensch», 1931. Foto: Dany Schulthess

Dabei entwickelten die Surrealisten schon früh ein Sensorium für die Faszinationskraft des Faschismus, die sich auch in der Schweiz bemerkbar machte. Xaver von Moos, der Bruder des Schweizer Surrealisten Max von Moos, notierte nach dem Besuch einer Ausstellung von 1938 in der Kunsthalle Basel: «Dämonische Gestalten aus Urwelttagen, seit Jahrtausenden in einem verschütteten Orkus begraben, beginnen dumpf sich zu regen und erschüttern den Boden, auf dem wir unsere prekären, aber so bequemen und sicher aussehenden Häuser gebaut haben. (…) In der Kunst des Surrealismus stösst eine verdrängte jenseitige Welt ins europäische Bewusstsein empor.»

Davon wollte die offizielle Schweiz nichts wissen und verhöhnte in den Zeitungen die «artfremde Importware», die sich «dem wurzelechten Schollen-Heimatgefühl entzieht». In der Tat: Die Bilder von Max von Moos und seinen linken Genossen bildeten einen radikalen Gegenentwurf zum Landi-Geist. Nur auf Hans Ernis monumentalem Wandbild «Die Schweiz, das Ferienland der Völker» erinnerte die kühne Komposition da und dort an Dalí oder den Kubismus.

Ernis Plakate für die «Gesellschaft Schweiz - Sowjetunion» wurden allerdings verboten, und Bundesrat Philipp Etter sorgte dafür, dass Erni keine staatlichen Aufträge mehr erhielt und von internationalen Biennalen ausgeladen wurde. Etters Verdikt lautete: «Unter geistiger Landesverteidigung verstehe ich nicht etwa die Verteidigung wechselnder Formen (…), sondern das Bleibende, das Wesen, die Idee. (…) Ich denke an Ferdinand Hodler, den Gewaltigen, der wie kaum ein Zweiter die Wucht schweizerischer Landschaft und schweizerischen Wehrwillens ins Bewusstsein rief.»

Surrealismus jetzt!

Den staatlich geforderten Biedersinn des Schweizer Kunstschaffens inszeniert der Kurator Peter Fischer im ersten Raum des Museums Aarau, um fühlbar zu machen, wovon sich die damaligen Schweizer Surrealisten abhoben. Von dort zieht er die surrealistische Entwicklungslinie weiter – bis heute.

Man mag bei dieser Aktualisierung eine gewisse Beliebigkeit monieren oder bedauern, dass statt Hirschhorns «Monument für Georges Bataille» eine etwas fadenscheinige Arbeit zu 9/11 gezeigt wird. Grandios aber wird die Schau, wo sie das Füllhorn von wenig bekannten Arbeiten ausschüttet. Sie machen augenfällig, wie wichtig die Schweizer nach 1930 in der zweiten Phase der surrealistischen Bewegung wurden. Dort waren sie mit vier aktiven Mitgliedern vertreten, die oft ihr Leben mit der Bewegung verschweissten, wie etwa dem verblüffenden Gérard Vulliamy, der die Tochter von Paul Eluard heiratete.

Damals reimportierte die Schweiz über Ausstellungen wie «Abstrakte und surrealistische Malerei und Plastik» im Kunsthaus Zürich (1929) oder «These – Antithese – Synthese» in Luzern (1937) den Pariser Geist. Federführend war natürlich Meret Oppenheim, die zunächst lediglich als Muse der Pariser Dichter, Maler und Fotografen auftrat, Affären mit surrealistischen Autoren und Marcel Duchamp hatte, 1936 aber mit ihrer «Pelztasse» («Le déjeuner en fourrure») einen Meilenstein des Surrealismus ins Werk setzte.

Wo bleibt die Erotik?

Ähnlich einflussreich war Kurt Seligmann: Unter dem Titel «Ultrameuble» schuf er einen Stuhl, dessen Sitz auf vier Frauenbeinen ruhte und die sexistischen Möbel des Pop-Artisten Allen Jones vorwegnahm. Das Werk gilt als verschollen und ist nur noch auf Fotografien zu sehen.

Sublime erotische Anspielungen wie das pelzige Gefäss bei Oppenheim wurden damals von Balthus in den Schatten gestellt. Das Gemälde «Leçon de guitare», wo die Lehrerin das junge Mädchen über ihren Schoss wölbt und uns die unbehaarte Scham entgegenklaffen lässt, sucht man in der aktuellen Balthus-Ausstellung der Fondation Beyeler jedoch vergeblich. Nachdem in Essen eine Schau mit Balthus’ Polaroid-Bildern von jungen Mädchen in letzter Minute angesichts der drohenden Protestwelle abgesagt wurde, findet man im Beyeler nicht einmal die sanftere Version dieser «Leçon» auf einer frühen Skizze (die einst im Besitz des Schauspielers Richard Gere war).

Nun: Die Schweizer sind mit obszöner Kunst natürlich nie so weit gegangen wie Balthus, und so kann man in Aarau politisch korrekte Arbeiten wie Meret Oppenheims «Steinfrau» zeigen, wo die versteinerte Frau in Form von Geröllbrocken am Fluss der (männlichen) Triebe liegt.

Neben Oppenheim entdeckt man in Aarau jedoch auch gänzlich Unerwartetes und wenig Bekanntes: so etwa das Werk von Isabelle Waldberg, deren Mann Patrick Waldberg ein wegweisendes Werk über den Surrealismus veröffentlichte. Sein Buch liess allzu rasch vergessen, dass ihr verstörendes und vergessenes Werk viel direkter unsere Sinne anspricht. Es zeigt, wie sehr unbekannte Frauen die Befreiung aus Paris für ihre eigene Befreiung aus der Schweizer Enge nutzten.

So auch Henriette Grindat. Sie scheint ihre traumverlorenen und erotisch angehauchten Collagen-Fotos direkt in der Dunkelkammer unserer Gehirne entwickelt zu haben, während Eva Wipf die Nähe von Surrealismus und Phantastik in ihren Wahnwelten fühlbar macht und prachtvoll unterstreicht.

Auf dem Weg zu einer führerlosen Gesellschaft

Ihr Werk gräbt sich so nachhaltig ins visuelle Gedächtnis ein wie die Werke von Max von Moos. Als hätte er die Zeitschrift der abtrünnigen Surrealisten rund um Georges Bataille und André Masson gekannt, setzt er das Unförmige und Formlose ins Bild und zeigt damit den Schrecken der Schlachtfelder. Nun nicht mehr der Schlachtfelder des Ersten, sondern des Zweiten Weltkrieges: Wie gewaltige Hoden hängen die Eingeweide des Führers aus seinem verdrehten Rumpf.

Überhaupt besticht der Schweizer Surrealismus weniger durch leichten Witz als durch alptraumartige Wahnwelten: Bei Walter Kurt Wiemken sind die Menschen Winzlinge, die am Rande grosser Farbflächen kurz vor dem Absturz stehen. Ähnlich komponiert Otto Abt ein Gemälde, wo aus dem Kopf einer klitzekleinen «Dame Faschismus» ein Schlachtschiff wächst, das auf den ersten Blick so zart wie ein Blumenstrauss wirkt. Zu verspieltem Witz wird erst die nächste Generation mit Dieter Roth und André Thomkins zurückkehren, der bei von Moos zeichnen lernte.

Die Waffen der Ironie

Brandaktuell bettet die Ausstellung «Komödie des Daseins» im Kunsthaus Zug die dadaistischen Verulkungsattacken gegen die Weimarer Republik und den aufkommenden Nationalsozialismus in eine Ausstellung über den Humor, der als spitze Waffe Machthaber von Hitler bis Putin dem Gelächter der Welt preisgibt.

Im Zentrum: Nietzsche und Hugo Balls Cabaret Voltaire. Ihre Umwertung der Werte entfaltet vor dem Hintergrund der Zuger Petro- und Diamantenfirmen eine Kraft, die die subversive Kraft des Humors aus der Vergangenheit ins Jetzt hebt. Auch hier wird wie in Aarau der surrealistische Drive durch Arbeiten von Thomkins, Urs Lüthi oder Roman Signer in die nahe und nähere Gegenwart gehoben: Kunst als freies Spiel jenseits aller Ideologie unterwandert unsere Welt- und Selbstsicht.

Dada global und die Surreale Schweiz zündeten schweiz- und weltweit den Funken eines Geistes, der wohl auch für die Entstehung der Eidgenossenschaft entscheidend war: Alte Hüte auf ideologischen Fahnenstangen werden gestürzt durch Idiotie. Roman Signer könnte sie in die Umlaufbahn einer Gesellschaft sprengen, die nicht mehr sklavisch den Algorithmen der Trump-Gewitter folgt, sondern hinter dem Schein des medialen Spektakels jene verdrängten Triebe entdeckt, die mit kühnem Kalkül «enthirnt» werden.

Die Sinnlichkeit der Kunst aber kann uns von dieser Enthirnung retten, denn der Schweizer Eigensinn zeigt, dass man vor keiner Fahne, auch nicht der nationalen, den Hut ziehen muss, sondern sich den internationalen Bild- und Gedankenströmen aussetzen sollte, wie es die Schweizer Surrealisten vorgelebt haben. Dabei schwitzen die aktuellen Schweizer Fettecken ihren säuerlichen Geruch so deutlich aus, dass die Museen je und je zu einem Monte Verità werden, einem Berg der Wahrheit, wo der Schleier der Gesellschaft des Spektakels zerrissen wird.

* Heute Samstag beginnt im Kunstmuseum Basel eine grosse Ausstellung zu Johann Heinrich Füssli. Bedauerlicherweise haben wir die Erwähnung dieser Ausstellung in der ursprünglichen Version dieses Artikels übersehen.

Zum Autor

Stefan Zweifel ist studierter Philosoph, Übersetzer, Literaturkritiker und Ausstellungskurator. Von 2007 bis 2014 zählte er zum Team des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen, die letzten zwei Jahre als Moderator. Er lebt in Zürich.

Die im Text erwähnten aktuellen Ausstellungen

Kunstmuseum Basel: Füssli. Drama und Theater (noch bis zum 10. Februar 2019).

Aargauer Kunsthaus: Surrealismus Schweiz (noch bis 2. Januar 2019)

Kunsthaus Zürich: Robert Delaunay (noch bis 18. November 2018)

Fondation Beyeler Basel: Balthus (noch bis 1. Januar 2019)

MASI Lugano: Magritte. La ligne de vie (noch bis 6. Januar 2019)

Kunsthaus Zug: Komödie des Daseins. Kunst und Humor von der Antike bis heute (noch bis 6. Januar 2019)

Landesmuseum Zürich: Imagine 68. Das Spektakel der Revolution (noch bis 20. Januar 2019)

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