Der europäische Muslim: Das ist Tariq Ramadans grosser Diskurs. Dafür kennen und lieben ihn Tausende Muslime in ganz Europa (hier bei einer Veranstaltung der Union of Islamic Organisations of France, UOIF, in Le Bourget im April 2012). Für seine Kritiker blieb er immer der Enkel von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft. Jacques Demarthon/AFP

Bruder Tariq, wie hast du es mit den Frauen?

Für Europas Muslime war der Schweizer Starintellektuelle Tariq Ramadan eine Heilsfigur. Seit Februar sitzt er wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Untersuchungshaft. Was bedeutet das für seine Anhänger?

Von Solmaz Khorsand, 17.10.2018

Teilen0 Beiträge

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Scheisse ist das. Als Feministin. Als Muslimin. Als Freundin. Lucia Dahlab seufzt. Kann sie als Feministin einen mutmasslichen Vergewaltiger schützen? Soll sie einem Rechtsstaat vertrauen, der einen Muslim neun Monate lang in Untersuchungshaft hält, während all die Nichtmuslime mit denselben Vorwürfen frei herumlaufen? Darf sie als Freundin die Unschuld eines Freundes anzweifeln? Lucia Dahlab zieht die Luft ein. Ihre braunen Augen schauen ernst durch die runde Hornbrille. Ja, es ist richtig scheisse. Anders kann es die 53-jährige Primarschullehrerin nicht ausdrücken, wenn es um Tariq Ramadan geht. Gequält stochert sie in ihrem Lachssalat. Sie sitzt im Café Restaurant de l’aviation beim Bahnhof Vernier, unmittelbar beim Genfer Flughafen. Um sie herum schneiden Anzugträger mit Badges um den Hals ihr Mittagssteak.

Die Primarschullehrerin Lucia Dahlab ist die einzige Schweizerin in Tariq Ramadans Brüsseler Thinktank European Muslim Network. Pierre Abensur/Tribune de Genève

Hier um die Ecke haben sie früher gewohnt, Tariq Ramadan und seine Frau Iman. Lucia Dahlab schaut aus dem Fenster und nickt mit dem Kopf gegen einen Punkt in der Ferne. Vor zwanzig Jahren hat sie dort zum ersten Mal an die Tür geklopft. Sie, die frische Konvertitin, hatte es so satt, als Muslimin nur Gesprächsthema, aber nie Gesprächspartnerin zu sein. Freunde haben ihr geraten, sich mit ihren Flyern und ihrer Wut doch mal bei Iman Ramadan vorzustellen. Iman sei die Richtige für den Kampf. Sie hatten recht. Iman Ramadan war die Richtige. Gemeinsam gründeten sie einen Verein für muslimische Frauen. Seither sind sie Freundinnen.

Auch Imans Mann Tariq hat sie kennengelernt. Den grossen Philosophen, den brillanten Redner, den Islamwissenschaftler. Durch harte Zeiten habe er ihr geholfen. Damals, 1998, als Dahlab für Schlagzeilen sorgte, als sie in Strassburg beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ihr Recht einklagte, als Lehrerin im Unterricht das Kopftuch tragen zu dürfen. Sie verlor. Durfte sie das Kopftuch abnehmen, um ihren Job zu behalten? Würde sie dann noch eine gute Muslimin sein? Tariq sagte Ja. Schliesslich war sie doch die Alleinverdienerin der fünfköpfigen Familie. Natürlich durfte sie unter solchen Umständen das Kopftuch ablegen.

Tariq sagte Ja. Lucia Dahlab lächelt bei diesem Satz. Sie ist keine Frau, die blind Autoritäten folgt. Sie ist eine, die Fragen stellt, viele Fragen. In der Moschee durfte sie das nicht. Da sagte man nur: Akzeptiere. Bei Tariq durfte sie fragen, so viel sie wollte: «Ich habe mich bei ihm nie minderwertig gefühlt. Bei all den Imamen und Islamwissenschaftlern schon, die haben mich von oben herab behandelt», erzählt sie.

Als Muslim hat man einen Druck, all die Regeln und Vorschriften. Als Muslimin erst recht. Das kann einen schon ersticken, wenn es dann Leute gibt, die behaupten, es gebe nur einen Weg, seinen Glauben zu leben, und keinen anderen. Tariq Ramadan war anders. Er bot ihr einen Fächer an Möglichkeiten. «Er hat immer gesagt: ‹Entscheide dich für den Weg, der dein Herz beruhigt›», sagt sie, «das war erfrischend für mich.»

Und jetzt?

Lucia Dahlab richtet sich das rosafarbene Kopftuch. «Es ist kompliziert», murmelt sie.

Tariq Ramadan, 56 Jahre alt, vierfacher Familienvater, Schweizer, sitzt seit dem 2. Februar in Frankreich in Untersuchungshaft. Drei Frauen beschuldigen ihn, sie vergewaltigt zu haben. Mitte September hat auch die Genfer Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Eine Schweizerin wirft ihm ebenfalls Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vor. Zudem zitiert die «Tribune de Genève» ehemalige Schülerinnen, dass sie Ramadan in seiner Zeit als Französischlehrer in den Achtziger- und Neunzigerjahren, als die Frauen noch minderjährig waren, sexuell bedrängt haben soll. Die Genfer Regierung hat seit März eine externe Untersuchung dazu am Laufen.

Tariq Ramadan weist alle Anschuldigungen von sich.

Die Gegner jubeln

In Frankreich macht der Fall Ramadan seit Monaten Schlagzeilen. Frauen erzählen im Detail ihr Martyrium mit dem würgenden, schlagenden Analfetischisten. Wie sie sich in einem Stadium der Schwäche an ihn, diesen charismatischen Starintellektuellen, wandten, seinen Rat als Muslim, als Gelehrter, als Bruder suchten und er das ausnützte. Wie er sie manipulierte, ihnen romantische Avancen machte, bis er eines Nachts in Hotelzimmern über sie herfiel. Später soll er einigen mit dem Tod gedroht haben, wenn sie irgendwem was verraten würden. Er kenne genug Leute, die ihn schützen und sie vernichten würden.

Seine Gegner jubeln über diese Berichte. «Tariq Ramadan ist ein Feind der Republik, und seine Werte widersprechen all dem, was Frankreich verkörpert. Lasst die Justiz ihre Arbeit machen», twitterte Frankreichs ehemaliger Premier Manuel Valls unmittelbar nach Ramadans Festnahme.

Jahrelang hat man sich an Ramadan gerieben, diesem Pop-Islamisten, der ganze Hallen von Paris bis Wien füllte mit seinen Reden, nein, Predigten über einen europäischen Islam. Er sagte, dass es kein Widerspruch sei, Europäer und Muslim zu sein, dass man die westlichen Werte verinnerlichen könne, ohne seine religiöse Zugehörigkeit zu verleugnen. Balsam waren diese Worte für eine Generation von jungen Muslimen und Musliminnen, die seit dem 11. September 2001 in ihrer europäischen Heimat für ihre Mitmenschen nur mehr eines waren: tickende Zeitbomben. Ramadan ermächtigte sie mit seinem Diskurs. Nahm ihnen das Gefühl der Ohnmacht und Verbitterung und forderte sie auf, sich aus ihrer Opferstarre zu lösen. Nein, sie sind keine Opfer. Sie sind vollwertige Mitglieder der westlichen Gesellschaften. Zeit, sich auch so zu benehmen.

Seine Kritiker, wie die Journalistin Caroline Fourest, sahen in Ramadan nur eines: den Wolf im Schafspelz. Für sie war er vor allem der Enkel des Ägypters Hassan al-Banna, des Gründers der Muslimbruderschaft, der das Werk seines Grossvaters in schöneren Worten und schneidigen Anzügen zu Ende bringen wollte: nichts Geringeres als eine Islamisierung der Gesellschaft. Seinen Aufruf an seine Anhängerschaft, sich doch in der Gesellschaft zu engagieren und politisch aktiv zu werden, begriffen sie als den Marsch einer fünften Kolonne durch die Institutionen der europäischen Demokratien. Wäre das einmal vollbracht, könnten sie von innen das System aushöhlen und so den islamistischen Putsch vorbereiten.

«Sein Diskurs hat uns befreit», sagen viele Musliminnen, die sich von starren Interpretationen ihrer Religion eingezwängt sahen. Jacques Demarthon/AFP

Mit den Vergewaltigungsvorwürfen scheint diese Apokalypse abgewendet zu sein. Endlich haben sie ihn an den Eiern. Buchstäblich. Ramadan ist hinter Gittern. Seit neun Monaten wird gegen ihn ermittelt. Eine Freilassung auf Kaution lehnten die Richter ab. Seine Anhänger vermuten ein Komplott von Zionisten, Islamhassern und einer französischen Elite, die sich schon immer von ihm bedroht sah. Wie einen Märtyrer stilisieren sie Ramadan in den sozialen Medien. Seine Kinder – das Gros der Familie lebt in Katar – melden sich regelmässig über Facebook und füttern die «Free Tariq Ramadan»-Kampagne mit Erzählungen ihrer Telefonate und Gefängnisbesuche. Sie berichten, wie stark ihr Vater in den vergangenen neun Monaten abgenommen hat, seine Krankheit, multiple Sklerose, habe ihn in der Isolationshaft dermassen geschwächt, dass er sich nur mit einer Gehhilfe bewegen könne. Zum ersten Mal habe er dieses Jahr im Ramadan nicht fasten können, weil er zu schwach gewesen sei. Und dennoch fordere er seine Anhänger auf, doch bitte nicht Rache zu üben an den Frauen, die ihn beschuldigen, und sie nicht zu attackieren, ob real oder virtuell, wie es seit seiner Festnahme bereits passiert ist.

Zu intellektuell für die antiintellektuelle Schweiz

In der Schweiz hält sich das Interesse für den Aufstieg und den Fall des Genfers, den das «Time Magazine» 2004 zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt gezählt hat, in Grenzen. Zu esoterisch und abgehoben sei für viele hierzulande Ramadans Diskurs gewesen, meint der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. Er ist einer von zwei Doktorvätern, die Ramadans Dissertation über die Rehabilitierung seines Grossvaters Hassan al-Banna im zweiten Anlauf betreut und als «noch passabel» bewertet haben (die Erstversion war von der Universität Genf als reaktionäres Kampfmanifest abgelehnt worden).

Die Schweiz sei nie Ramadans Terrain gewesen, behauptet Schulze, vor allem nicht die Deutschschweiz: «In Frankreich ist es einfacher, da gibt es die Rolle des Intellektuellen, der kann sich da äussern, da hat er seinen Platz.» In der Schweiz gibt es diese Arena nicht. Es gibt nicht die Talkshows, die Radiosendungen, die Kommentarspalten, in denen er sich mit anderen Geistesgrössen hätte messen können. In der Öffentlichkeit blieb er höchstens der Softislamist, der kleine Bruder von Hani Ramadan, dem Hardliner vom Genfer Islamzentrum, der die Steinigung von Ehebrecherinnen forderte. Mehr Aufmerksamkeit bekam Tariq Ramadan in der Schweiz nicht. Für die Mehrheitsgesellschaft war er uninteressant.

Für die Schweizer Muslime sah die Sache anders aus.

Knapp eine halbe Million Muslime leben in der Schweiz. Auch sie spüren, wie argwöhnisch sie betrachtet werden, wenn auch nicht im selben Ausmass wie ihre Glaubensbrüder und -schwestern in Frankreich, Deutschland oder Österreich. Nur vereinzelt stehen die Schweizer Muslime in der Schusslinie, etwa bei der Minarettinitiative, beim Burkaverbot, bei extremistischen Rülpsern des Islamischen Zentralrats und Jihadisten-Prozessen. Ansonsten führten sie ein eher unaufgeregtes Dasein, eines abseits des medialen Trommelwirbels, sagen selbst muslimische Vertreter.

Dennoch: Auch hierzulande fiel Ramadans Diskurs auf fruchtbaren Boden. Auch hier gibt es Verbitterung, gar Wut. Vor allem bei jungen Gläubigen, den jungen Frauen, die wegen ihres Kopftuchs keine Lehrstelle finden können, und den Männern, die es leid sind, von der NZZ bis zur «Tribune de Genève» als gefährliche Fremdkörper identifiziert zu werden.

Auch ihnen war Ramadan ein Idol. Doch ist er es immer noch? Kann man seine Bücher nach den Vergewaltigungsanschuldigungen noch lesen? Kann man seinen Diskurs über Moral und Ethik noch ernst nehmen? Kauft man es ihm ab, ihm, der zugegeben hat, aussereheliche Affären geführt zu haben?

«Das hat mich schon enttäuscht», sagt Farid, «niemand ist perfekt, aber das war ein bisschen viel.» Er schaut ernst in die Runde. Seine zwei Kollegen erwidern seinen Blick. Sie sitzen im Freien auf einer der Sitzlounges unter der Polyterrasse der Universität Zürich. Sie kommen gerade vom Gebet, das jeden Freitagnachmittag im Raum der Stille im obersten Stock der Uni stattfindet. Eine Stunde können sich hier die muslimischen Studenten der Uni besinnen. 35 sind heute gekommen, darunter 5 Frauen. Über Ehrlichkeit und Selbstreflexion hat der Vorbeter, ein pakistanischstämmiger IT-Fachmann aus England, auf Englisch referiert. Dann wurde gebetet.

Farid hat genau zugehört, wie jedes Mal. «Du bist zu spät gekommen», neckt er seinen Kollegen, «ich habe es genau gesehen.» Sein Kollege zuckt mit den Schultern. Farid nimmt die Religion sehr ernst. Traditionell sei er, sagt er, seit seinem 18. Lebensjahr praktiziere er. Geboren und aufgewachsen ist der 25-jährige Elektroingenieurstudent in der Romandie, seine Eltern stammen aus dem Nahen Osten. Details sollen nicht verraten werden, auch nicht, wie er wirklich heisst, das ist ihm wichtig. Misstrauisch ist er gegenüber Medien. Vor allem bei diesem Thema. Die meisten jungen Muslime, vor allem jene, die in der Vergangenheit Events mit Ramadan in der Schweiz organisiert haben, wollen nicht öffentlich und offiziell über das Thema sprechen. Zu heikel sei die Sache. Sie bitten um Verständnis.

Farid kam mit Ramadan als Jugendlicher in Berührung. Seine Eltern sind nicht besonders gläubig, trotzdem hatte seine Mutter im Auto manchmal Ramadans Kassetten laufen. Es ging viel um Liebe und um den Islam, nicht darum, ihn zu verteidigen, sondern darum, Dinge aus der muslimischen Perspektive zu erklären. Das hat Farid gefallen. Später hat er auch Ramadans Bücher gelesen, ihn in französischen Talkshows gesehen. Die berühmteste Konfrontation ist wohl jene zwischen Ramadan und Frankreichs damaligem Innenminister Nicolas Sarkozy. Ikonisch ist dieses Gespräch, wie Ramadan auf mehreren Bildschirmen, überdimensional wie ein Tele-Gott, aus Genf ins Pariser Studio zugeschaltet wird, während Sarkozy im Sitzen die Fragen beantwortet. An die Wand habe der Intellektuelle den Politiker geredet. Noch heute schicken sich junge Muslime diese Youtube-Clips aus dem Jahr 2003. Noch heute flösst es ihnen Respekt ein, dass einer von ihnen einem westlichen Politiker so Paroli geboten hat.

«Er hat viel für uns Muslime in der Frankofonie getan», erklärt Farid. Ramadan hat seine Generation verstanden. Er konnte das bieten, wozu die Generation seiner Eltern nicht imstande war. Zu wenig kannte sie ihre neue Heimat, zu schlecht sprach sie die Sprache. Ramadan kennt die Heimat der Eltern, und er spricht die Sprache ihrer Kinder. Er ist kein gammeliger Prediger im Kaftan in einer Hinterhofmoschee, der auf Arabisch, das sie nicht verstehen, vor sich hinwettert, und den man der Mehrheitsgesellschaft unmöglich vorsetzen kann, ohne gleich die schlimmsten Stereotype zu bedienen. Ramadan ist der geschmeidige Professor, mit dem Lehrstuhl in Oxford – finanziert von Katar –, der auf Französisch und Englisch seine Zuhörerinnen stolz sein lässt auf ihre Religion, auf ihre Identität. Macht er das immer noch? Macht er sie noch stolz?

Farid zuckt mit den Schultern. «Es ist gut für die Umma, wenn die Leute jetzt schockiert sind», sagt er, das könne gesund sein für die muslimische Gemeinschaft. «Es ist unislamisch, einfach zu folgen. Der Koran sagt schon: Folgst du deinen Eltern, wenn sie auch Falsches tun?»

Der Fall Ramadan könnte Muslime weltweit aufrütteln. Sie motivieren, Autoritäten zu hinterfragen, egal, wie telegen, eloquent oder attraktiv sie sind. Trotzdem. Auch wenn sich die Vorwürfe bestätigen sollten, Farid bleibt dankbar: «Er hat viel für uns getan. Das muss anerkannt werden. Ich lasse ihn wegen dieser Sache nicht fallen.»

Im Sommer protestierten Frauen und Männer auf der ganzen Welt für die Freilassung von Tariq Ramadan. Mittlerweile haben über 170’000 Personen eine Petition dafür unterschrieben. Auch führende Intellektuelle wie Noam Chomsky und Ken Loach haben einen Brief unterzeichnet, in dem die Umstände seiner Festnahme kritisiert werden und die umgehende Freilassung verlangt wird. Jean-Marc Quinet/picture alliance/dpa

Andere tun das schon. Auch sie möchten anonym bleiben. So anonym, dass sie sich mit Medienvertretern noch nicht einmal treffen möchten. Über Telefon, das muss reichen, sagt die 33-jährige Muslimin. Sie ist Schweizerin, hat im Ausland studiert, lebt und arbeitet in der Romandie. Sie entschuldigt sich bereits im Voraus für ihre Emotionalität. Das Thema nimmt sie mit. Das ganze Genöle in der Community halte sie nicht mehr aus, wie sie Ramadan zum Märtyrer machten, sich die Augen ausweinten, weil er im Knast ein paar Kilo abgenommen habe. «Und was ist mit den Frauen?!», brüllt sie ins Telefon. «Wo ist unsere Empathie mit diesen Frauen, unseren Schwestern?! Es ist unsere Pflicht, ihnen zu glauben. Das könnte ich sein, meine Schwester, meine Mutter.»

Sie hat verfolgt, was die Frauen zu Protokoll gegeben haben. «Haben Sie gelesen, was da steht? Er hat sie geschlagen! Er hat sie angepinkelt! Welcher normale Mensch macht das?», brüllt sie weiter aufgebracht in den Hörer.

Für sie ist der Fall klar. Sie hat ihr Urteil. Wieso nicht die anderen? Wo bleibt der Aufschrei in den eigenen Reihen?

«Den wird es nicht geben», sagt sie jetzt ruhig. Zu sehr werden die Muslime seit Jahren angefeindet. In manchen Medien werde ein Krieg gegen sie geführt, meint sie. In so einem Klima stellt man sich nicht gegen den Einzelnen, wenn er am Pranger steht. In so einem Klima hält man zusammen.

Die Chance auf ein muslimisches #MeToo?

Lucia Dahlab hat ihren Lachssalat aufgegessen. Sie ist beim Espresso. Es ist Mittwochnachmittag, ihr freier Tag an der Schule. Am Vormittag hat sie ihre Gesangsstunden. Jazz singt sie. Das ist ungewöhnlich für viele, eine Frau im Kopftuch zu sehen, die auf der Bühne abgeht. Sie lächelt. Sie passt in keine Schublade. Weder für die Muslime noch für die Nichtmuslime. Ihr Freund Tariq Ramadan hatte das verstanden. Sie glaubt an seine Unschuld. Unmöglich ist es für sie, dass er diese Frauen vergewaltigt haben soll. Zu inkohärent seien diese Zeugenaussagen, zu oft hätten sie Daten und Hotels verwechselt. Doch was, wenn sich die Vorwürfe erhärten sollten? Dahlab schnauft leise. «Dann wird er seine Strafe absitzen», sagt sie ruhig. Und danach werde man ihn wieder in die Gesellschaft integrieren. «Jeder hat eine zweite Chance verdient», sagt Dahlab. So hat sie es mit Kriminellen immer gehalten. Ob Freund oder nicht. Das ist die politische Haltung der grünen Lokalpolitikerin. Dazu steht sie.

Kann der Fall auch eine Chance für die Community sein? Dass offen über Missbrauch gesprochen wird? Dass all die Tabus rund um Sexualität und Keuschheit nicht den Blick verschliessen, wenn Dinge aus der Bahn laufen?

Dahlab verzieht den Mund. «Wissen Sie, was dann passiert? Die Muslime werden sagen: Männer und Frauen dürfen sich nicht vermischen. Schaut euch an, was dann passiert!»

Wie oft war sie früher bei den Ramadans zu gemischten Soirées eingeladen. Bis zu dreissig Gäste sind gekommen, Männer und Frauen. Gemeinsam haben sie bei ihm zu Hause über Gott und die Welt gesprochen. Wie viele Männer und Frauen sind gemeinsam in seinen Vorlesungen gesessen, in den Konferenzen, in den Konzerthallen, haben sich Autogramme geholt, Selfies gemacht. Immer Seite an Seite.

Nein, das werde kein muslimisches #MeToo werden, resümiert Dahlab. Die Leute würden die falschen Schlüsse ziehen. Am Ende werde es heissen, nicht die Männer sollten nicht belästigen, sondern die Frauen sich anständig benehmen. «Es tut mir sehr leid, aber da bin ich Realistin», sagt sie und schüttelt den Kopf.

Aber wer weiss. Sie schaut zur Decke. Dann lächelt sie. «Allahu alam», sagt sie zum Abschied.

Es bedeutet: Nur Gott weiss.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!