Serie «Let’s Talk About Drugs» – Teil 3

«Wir haben keine Opioid-Krise. Wir haben eine Krise der Ignoranz»

Nicht die Wissenschaft spielt bei der Drogen­politik eine Rolle, sondern struktureller Rassismus und die finanziellen Interessen einer Abhängigkeits­industrie aus Forschern, Medien und Polizei. Das sagt Carl Hart, weltweit führender Abhängigkeits­forscher. «Let’s Talk About Drugs», Teil 3.

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Reto Sterchi (Bilder), 16.10.2018

«Je mehr ich forschte, umso klarer wurde mir, dass am Elend in den Schwarzenvierteln nicht Crack schuld war.»

Carl Hart, Sie forschen seit dreissig Jahren mit Crack und Kokain. Sie fordern, dass alle illegalisierten Drogen legalisiert und reguliert verkauft werden sollen. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Aus einer medizinischen Perspektive ist es völlig klar, dass jede Droge verantwortungsvoll konsumiert werden kann. Der Körper macht keinen Unterschied zwischen legalen und illegalisierten Substanzen. Die grosse Mehrheit aller Drogenkonsumenten ist nicht abhängig. Wissenschaftliche Fakten haben beim Verbot von Substanzen jedoch keine Rolle gespielt. Es sind soziale und kulturelle Gründe.

Wie meinen Sie das?
Nehmen wir das Beispiel der Heroinabgabe in der Schweiz: Dass sie eingeführt wurde, hat nichts mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun, sondern mit den unhaltbaren Zuständen der offenen Drogenszene, die damals herrschten. Die Menschen hatten Angst vor Aids, den herumliegenden Nadeln. Es gab einen politischen Druck. Und dieser Druck hat den Wandel bewirkt.

Im Zuge unserer Recherchen haben wir in der Schweiz mit verschiedenen Suchtpsychiatern gesprochen, die Ihre Meinung teilen. Wir haben aber in Zürich einen bekannten Kokainforscher getroffen, der sagt, Kokain dürfe keinesfalls legalisiert werden, weil es verglichen mit anderen Substanzen ein grösseres Schadenpotenzial aufweise.
Als Wissenschaftler interessieren mich keine Meinungen, sondern Fakten. Wenn eine Person behauptet, Kokain sei gefährlich, antworte ich: Zeig mir die Daten. Nur darum geht es: um Daten. Um Fakten. Seit Jahren geben wir hier an der Universität im Rahmen unserer Forschung Zehntausende Portionen Kokain und Crack an Menschen ab. Wenn Kokain so gefährlich wäre, wie könnte ich das verantworten? Würde die Regierung mir das erlauben und bezahlen? Es wäre unmoralisch und falsch. Unsere Experimente zeigen: Die meisten Menschen, denen wir Crack oder Kokain abgeben, gehen sehr verantwortungsvoll mit ihrem Konsum um.

Trotz Ihren Ausführungen und Ihrer Forschung stehen in Debatten um Drogen häufig die Gefahren im Vordergrund. Zusammengefasst sagen Sie, dass bei dieser Debatte Wissenschaft keine Rolle spielt?
In Verbotsdebatten werden immer wieder angebliche wissenschaftliche Argumente eingebracht. Aber nur, wenn sie auch das sagen, was sie sagen sollen. Beim Verbot von Marihuana hat man Wissenschaftler angeführt, die behauptet haben, Marihuana mache wahnsinnig. Das sind pseudowissenschaftliche Argumente, die nicht belegbar sind. Nehmen wir das Beispiel des Schweizer Kokainforschers, der Ihnen gesagt hat, Kokain sei schlimm, schlimmer als Alkohol. Man muss verstehen lernen, dass Forscher ein grosses Interesse haben zu behaupten, Kokain sei ein Problem. Sie erhalten Millionen an Forschungsgeldern, um dies zu belegen. Ich selber habe jahrelang davon profitiert, habe für meine Forschung mehrere Millionen Dollar erhalten, solange ich behauptet habe, Kokain sei sehr gefährlich. Wenn ich heute meine Forschungsartikel von früher anschaue, schäme ich mich. Es sind aber nicht nur Wissenschaftler, sondern es ist eine ganze Industrie, die davon profitiert: Journalisten profitieren davon, Horrorgeschichten über Drogen zu erzählen, Strafverfolgungsbehörden bekommen Unsummen von Steuergeldern für mehr Personal und Waffen.

Serie «Let’s Talk About Drugs»

Wie könnte man in der Drogen­politik – analog zur regulierten Heroin-Abgabe zu Beginn der Neunziger­ – Fortschritte erzielen, die der organisierten Kriminalität schaden und Konsumenten sauberen Stoff garantieren? Über solche Fragen sprechen wir mit Fachleuten in der Schweiz und den USA.

Sie lesen: Teil 3

Carl Hart, Abhängigkeits­forscher

Teil 4

Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittel­gesetz-Experten

Teil 5

Toni Berthel, Präsident der Eid­ge­nös­si­schen Kommission für Sucht­fragen

Teil 6

Andrea Caroni, FDP-Ständerat

Schluss

Jessica Jurassica, Bloggerin

Wie kam bei Ihnen als Forscher dieser Meinungsumschwung zustande?
Ich bin in Carol City, Miami, aufgewachsen. Eine Gegend, von der man sagte, dass Crack alles zerstört habe. Wie alle in meiner Nachbarschaft glaubte ich, Crack sei die Ursache aller Übel. Ich glaubte, dass Suchtstörungen auf ein Problem im Gehirn zurückzuführen seien. Deswegen wurde ich Neurowissenschaftler. Mein Ziel war es, Crack aus der Gesellschaft zu verbannen. Im Zuge meiner jahrzehntelangen Forschung wurde mir immer klarer, dass ich kein Problem löste, sondern selbst ein Teil des Problems war. Nachdem ich fünfzehn Jahre lang Tausende Dosen von Crack und Kokain an Probanden abgegeben hatte und die meisten dieser Leute in den Studien keine Probleme gezeigt hatten, dämmerte es mir: Der Stoff ist nicht das Problem.

Was heisst das, der Stoff ist nicht das Problem?
Je mehr ich forschte, umso klarer wurde mir, dass am Elend in den Schwarzenvierteln nicht Crack schuld war. Mir wurde klar, dass die Probleme in meiner Nachbarschaft schon lange existiert hatten, bevor Crack überhaupt aufgetaucht ist. Ich realisierte, dass das Crack als Ausrede benutzt wurde, um nichts gegen die grassierende Armut in den Schwarzenvierteln tun zu müssen.

Was waren denn die Probleme?
Die hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Ausbildung, rassistische Diskriminierung. Themen, die unter den Teppich gekehrt wurden. Die Regierung sagte, das Problem sei das Crack. Kriegt man das Crack weg, sind auch die Probleme weg. Ich realisierte erst mit der Zeit, dass die grosse Mehrheit der Leute, die Crack konsumieren, gar nicht süchtig danach wird. Und vor allem realisierte ich, dass entgegen dem öffentlichen Bild die grosse Mehrheit der Crack-Konsumenten gar nicht schwarz, sondern weiss ist. Durch meine Forschung als Neurowissenschaftler kam ich zum unausweichlichen Schluss, dass die US-Drogenpolitik nicht auf pharmakologischen Argumenten gründet, sondern ein Kernstück rassistischer Diskriminierung ist.

Erklären Sie das.
Schauen Sie in die Geschichte der USA, wann und wo und mit welchen Argumenten Drogen verboten wurden. 1914, als man Opium und Kokain verboten hat, wurden diese Stoffe nicht verboten, weil zum Beispiel das Kokain den Leuten geschadet hat. Die Drogengesetze wurden verabschiedet, weil wir Kokain mit den Schwarzen assoziierten und Opium mit den Chinesen. Die Chinesen kamen, bauten unsere Eisenbahnen auf, und als sie fertig waren, wollte man sie wieder loswerden. Die amerikanischen Arbeiter sahen die Chinesen als Konkurrenz. Statt dass man aber hätte sagen müssen, man hasse die Chinesen und wolle sie loswerden, kriminalisierte man eine Aktivität, die man mit ihnen assoziierte. Und das war das Opiumrauchen. So lief es bei allen wichtigen Drogengesetzen in diesem Land, beim Verbot von Marihuana, von Kokain, von Crack.

Sie sagten, Crack sei in den Vierteln nicht das zentrale Problem gewesen, sondern Armut, struktureller Rassismus. In den Medien sprach man damals von einer «Crack-Epidemie» in den Schwarzenvierteln. Ein Bild, das sich bis heute zementiert hat. Sie sagen, dieses Bild ist falsch?
Als Wissenschaftler stehe ich Begriffen wie «Epidemie» oder «Krise» kritisch gegenüber. Als Erstes frage ich mich immer: Gibt es Daten, die das belegen? Es ist ein Fakt, dass in den Achtzigern diese neue Form von Kokainkonsum aufkam – Kokain, gemischt mit Backpulver, in Wasser aufgekocht, sodass man es billig kaufen und rauchen konnte. Rauchen statt wie bisher schnupfen. Crack war neu, also stieg automatisch die Anzahl von Konsumenten, die ja vorher bei null lag. Die Daten aber zeigen, dass erstens Kokain immer viel mehr geschnupft wurde, als dass es als Crack geraucht wurde. Zudem zeigen die Daten – und das ist anhand der über zweihundert Millionen Weissen in diesem Land eigentlich auch wenig erstaunlich –, dass eben immer mehr Weisse sowohl Kokain als auch Crack konsumierten. Trotzdem wurde in den Medien immer nur das Bild des verwahrlosten schwarzen Crack-Süchtigen gezeigt. Damit sind wir bei der Rassendiskriminierung: Hat man mal eine Gruppe mit einer Aktivität assoziiert, auf die sich das ganze Land eingeschossen hat, hat man ein Argument, gegen diese Minderheit mit massiver Repression vorzugehen. Wenn sich die sogenannte Drogenbekämpfung nur noch auf Schwarzenviertel konzentriert, wird die Drogenpolitik zum Feigenblatt rassistischer Politik.

Das ist auch die These eines der in den USA meistdiskutierten Bücher der letzten zehn Jahre: «The New Jim Crow. Mass Incarceration in the Age of Colorblindness» der Juristin und Bürgerrechtlerin Michelle Alexander. Sie schreibt, dass insbesondere durch den «Krieg gegen die Drogen» in den USA eine systematische Rassendiskriminierung etabliert wurde – mit verheerenden sozialen Folgen.
Lassen wir auch hier die Zahlen sprechen: 1986 hat der Kongress das berüchtigte Anti-Drogenmissbrauch-Gesetz erlassen. Gemäss diesem Gesetz wurde Crack hundertmal härter bestraft als Kokain, obwohl es sich dabei um die identische Substanz handelt, abgesehen davon, dass dem Crack noch Backpulver beigemischt ist, eine Substanz, die man in jedem Supermarkt kaufen kann. Menschen, die mit kleinen Mengen Crack erwischt wurden, mehr als 5 Gramm, bekamen eine Mindeststrafe von fünf Jahren. Als Vergleich: Um die gleiche Gefängnisstrafe mit normalem Kokain zu bekommen, müsste man 500 Gramm auf sich tragen. Obwohl wie gesagt viel mehr Weisse Crack konsumieren, sind 85 Prozent aller verurteilten Crack-Fälle Schwarze. Dasselbe beim Cannabis: Schwarze werden im nationalen Schnitt viermal häufiger verhaftet als Weisse. Dasselbe bei Opioiden: 80 Prozent der Menschen, die deswegen verhaftet werden, sind Schwarze oder Latinos. Noch krasser sichtbar wird es, wenn man in die Gefängnisse schaut: Dort sitzen 2,2 Millionen Menschen. 40 Prozent davon sind schwarze Männer, obwohl sie nur 6 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachen.

Die Repression der Drogenpolitik betrifft also vor allem «people of color», die nicht weisse Bevölkerung der US-Gesellschaft?
Seien Sie vorsichtig mit dem Begriff people of color. In der Wissenschaft müssen wir präzis sein. People of color ist ein unpräziser Begriff. Auf welche Minderheiten zielt die Drogenpolitik ab? Vor allem Schwarze und Latinos, vor allem Mexikaner. Vor hundert Jahren waren Chinesen ebenfalls Opfer rassistischer Drogenpolitik. Das ist schon lange nicht mehr so. Anders als bei Schwarzen und auch Latinos sitzen heute nicht überproportional viele Asiaten im Gefängnis. Und es sind nicht einfach people of color, die in diesem Land in einem überdurchschnittlichen Mass von Polizisten erschossen werden, sondern Schwarze.

Was ist mit Weissen, die in Armut leben?
Sie sind deutlich weniger von Repression betroffen. Je homogener eine Gesellschaft ist, desto rationaler ist in diesem Land die Drogenpolitik: Die Staaten, in denen in den USA Cannabis legalisiert wurde, sind jene Staaten mit dem niedrigsten Anteil von Minderheiten. Schauen Sie die Daten von Staaten wie Vermont oder Utah an: Dort werden kaum Leute wegen Drogen verhaftet, im Gegenteil zu Staaten mit grossen Gruppen von Minderheiten. Am Ende landen wir wieder bei der einen Zahl: Wenn 40 Prozent der Gefängnispopulation schwarze Männer sind, obwohl sie nur 6 Prozent der Gesamtpopulation ausmachen, kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass nichts schiefläuft. Auch hier, an Eliteuniversitäten wie der Columbia, ist die Diskriminierung klar sichtbar: Schwarze Männer und Frauen stellen 12 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber nur 3 Prozent aller Professoren sind hier schwarz. Diese Zahlen kann man nicht wegreden. Acht Jahre Obama hin oder her.

Es war ein Wahlversprechen von Obama, das berüchtigte sogenannte 100:1-Drogengesetz, das Crack hundertmal härter bestraft als Kokain, abzuschaffen. Was ist daraus geworden?
Er hat es nicht abgeschafft. Er hat es bloss reduziert. Von 100:1 auf 18:1.

Sie klingen enttäuscht.
Lassen Sie mich Malcolm X zitieren: «Es ist kein Fortschritt, wenn du mir ein Messer zwanzig Zentimeter in den Rücken stichst und es dann fünfzehn Zentimeter herausziehst.» Sie müssen verstehen, Obama ist Teil einer privilegierten Klasse. Er profitiert von diesem System persönlich und hat seinen persönlichen Gewinn über die Interessen der schwarzen Minderheit gestellt. Leute, die behaupten, dass die Wahl des schwarzen Präsidenten ein grosser Schritt war, sind verdammte Idioten. Als Wissenschaftler kann ich ihnen nur sagen: Schaut auf die Daten! Jeder Indikator, der in diesem Land etwas zählt, spricht eine klare Sprache: Die Lebenserwartung von Schwarzen Männern liegt bei 69 Jahren, diejenige von weissen Männern bei 78 Jahren. Eine noch grössere Diskrepanz gibts bei den Arbeitslosenquoten: In gewissen Gegenden, wo die durchschnittliche Arbeitslosigkeit zwischen 6 und 8 Prozent liegt, liegt sie bei den schwarzen Männern bei über 50 Prozent. Hingegen sind die Menschen, die die Gesetze schreiben und die Medien kontrollieren, fast ausschliesslich weiss.

«Leute, die behaupten, dass die Wahl des schwarzen Präsidenten ein grosser Schritt war, sind verdammte Idioten.»

Sie können uns nicht erzählen, dass Drogengesetze explizit rassistisch sind. Wie können generell und abstrakt formulierte Gesetze, wie Sie sagen, zu einem solch rassistischen Resultat führen?
Natürlich kommt niemand und sagt: Lass uns Schwarze verhaften. Oder lass uns Hispanics verhaften. Das Gesetz ist farbenblind. Es ist neutral. Es sind nicht die Crack-Pulver-Gesetze als solche, die das Problem sind. Das Problem ist, wie und wo die Gesetze angewendet werden. Wo setzen die Polizisten ihre Drogenpolitik um? Sie gehen in gewisse Gegenden und suchen dort nach Drogen. Da kommen mediale Zerrbilder wie jenes des cracksüchtigen Schwarzen ins Spiel. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass es vor allem Schwarze sind, die Crack verkaufen und konsumieren, muss sich die Polizei nicht dafür rechtfertigen, dass sie vor allem dort ihre Repression auffährt. Je mehr man sich mit diesen Daten auseinandersetzt, desto klarer wird, dass hier etwas gewaltig schiefläuft, und das, obwohl nie jemand offen gesagt hat, lass uns Schwarze verhaften.

Das hört sich ziemlich hoffnungslos an.
Ja, deswegen werde ich auch das Land verlassen.

Wie bitte?
Was ihr als Schweizer womöglich nicht verstehen könnt, ist, wie die Geschichte der Sklaverei in diesem Land weiterwirkt. Das geistige Erbe der Sklaverei, dass gewisse Menschen in unserer Gesellschaft weniger wert sind, lebt in den Köpfen weiter. Und daraus resultieren Handlungen. Manchmal subtiler, manchmal weniger subtil. Niemand spricht es laut aus.

Wohin wollen Sie gehen?
Vielleicht nach Spanien. Irgendwohin in Europa. Keine Ahnung. Ich habe die Schnauze voll von diesem Rassismus, dieser rassistischen Drogenpolitik. Ich kann so nicht leben. Der Rassismus, der hier stattfindet, ist offenkundig. Man braucht auch nicht unnötig zu differenzieren. Man muss Rassismus als solchen benennen. Tut man das nicht, will man nichts verändern. Sobald du realisierst, was wirklich in diesem Land vor sich geht, wird es schwer, hier zu leben. Und die Mehrheit der Menschen scheisst drauf. Das macht mich zu einer verbitterten Person. Diese Verbitterung färbt sich auf den Umgang mit meinen Mitmenschen ab. Ich möchte kein solcher Mensch sein. Ich möchte glücklich sein. Ich bin jetzt 51. Man hat meinem Grossvater gesagt: Es wird besser werden für euch Schwarze. Dann hat man es meinem Vater gesagt. Und dann mir. Und jetzt ist ein Arschloch Präsident, das sich öffentlich zu Gruppen bekennt, die die Vorherrschaft der weissen Rasse proklamieren. Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine Scheisse erleben werde.

Wie sind eigentlich schwarze Frauen von der Drogenpolitik betroffen?
Wenn man von der Masseninhaftierung der schwarzen Bevölkerung spricht, muss man sehen, dass schwarze Frauen in viel geringerer Zahl im Gefängnis landen als Männer. Sie leiden auf eine andere Art und Weise unter der Drogenpolitik. Man nimmt ihnen ihre Kinder weg.

Wie meinen Sie das?
Ich bin viel im Gericht und schreibe Gutachten für die Verteidigungen bei Drogenfällen, vornehmlich Marihuana. Wenn Sie in New York City als Mutter positiv auf Marihuana getestet werden, kann Ihnen der Staat Ihr Kind wegnehmen. Sehr häufig geraten diese Frauen ins System, weil sie ihre Kinder in ein öffentliches Spital bringen. Wenn die Spitalangestellten irgendeinen Verdacht hegen, können sie einen Drogentest veranlassen. Auch hier spielen rassistische Vorurteile eine Rolle: 95 Prozent der betroffenen Frauen sind Schwarze oder Latinos. Ein positiver Cannabistest, so die Gerichte, sei ein Hinweis auf Drogenabhängigkeit. Was völlig falsch ist. Derartige Fälle spielen sich an New Yorker Gerichten täglich ab.

Viele Menschen befürchten, die Legalisierung von Substanzen wie Kokain würde zu einem massiven Anstieg von Süchtigen führen.
Diese Angst kann ich nachvollziehen. Denn ich hatte sie früher auch. Bis ich durch meine Forschung realisierte, dass es keine Daten gibt, die diese Ängste bestätigen. Wir haben Tausenden Probanden Crack, Kokain, Methamphetamin verabreicht, und diese Experimente haben gezeigt, dass sich Drogenkonsumenten rational verhalten. Wir haben die Konsumenten vor die Wahl gestellt: einen hit Crack nehmen oder Geld nehmen. Wenn man die angebotene Geldmenge erhöht, nehmen die Testpersonen immer das Geld. Wenn man die Drogenmenge erhöht und die Geldmenge senkt, entscheiden sich die Konsumenten für die Drogen. Es funktioniert rational und zeigt, dass Drogenkonsum sehr flexibel sein kann. Die meisten Menschen konsumieren nicht einfach gierig drauflos. Der Konsum lässt sich sogar durch Alternativen steuern. Unter gewissen Bedingungen ist Kokain sicher nicht zu empfehlen. Genauso wie Alkohol. Oder zu viel Zucker. Aber zu behaupten, Kokain sei aus medizinischer Perspektive speziell gefährlich, das ist verantwortungslos und ignorant.

Trotzdem gibt es Menschen, die abhängig werden. Wie erklären Sie das?
Es gibt verschiedene Gründe, warum manche Konsumenten von Substanzen abhängig werden. Wir wissen, dass Menschen mit gewissen psychischen Problemen – Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, ADHS – ein Gefährdungspotenzial aufweisen. Wenn du – aus welchen Gründen auch immer – dein Leben nicht im Griff hast, erhöht sich die Gefahr, abhängig zu werden. Wer im Leben nicht zurechtkommt, sollte unbedingt die Finger von Substanzen lassen. So können Drogen auch zum Problem werden in Gegenden, in denen eine ökonomische Misere herrscht, keine Jobs, keine Alternativen. Aber gesunde, in der Gesellschaft gut integrierte Menschen entwickeln keine Abhängigkeitsstörungen. Es gibt immer diese Angstmacher, die behaupten: Aber du weisst nicht, ob du nicht auch diese Person werden könntest. Ich weiss, dass ich nie abhängig werde, weil ich einfach zu viel zu tun habe: meine drei Söhne, meine Arbeit, andere Verantwortlichkeiten. Ich könnte es mir gar nicht leisten, dass Drogen mein Leben bestimmen. Denn Leute zählen auf mich. Und würde ich süchtig werden, könnte ich letztlich nicht mehr so viel Geld verdienen, um mir qualitativ hochstehende Drogen zu kaufen.

Sie konsumieren selbst Drogen?
Alles Mögliche.

Was heisst das?
Nennen Sie etwas.

Heroin?
Hin und wieder.

Sie spritzen es?
Ich schnupfe es. Warum sollte ich es spritzen?

Ist das nicht die gängigste Konsumform?
Nein. Die meisten Leute, die Heroin konsumieren, schnupfen es. Und sind nicht abhängig. Ich mache jeden Tag Krafttraining, und ich möchte mir nicht meine Venen versauen. Es ist zudem tatsächlich so, dass Leute, die Heroin spritzen, die diese krasse Art des Konsums wählen, in der Regel Leute sind, die ein Abhängigkeitsproblem entwickeln, weil hier die krasse Konsumform ein Hinweis darauf ist, dass diese Menschen Probleme im Leben haben, die sie zu betäuben versuchen.

Heroin ist drogenpolitisch derzeit das grösste Thema in den USA. Man spricht heute nicht mehr von einer «Crack-Epidemie», sondern von einer «Opioid-Krise».
Es stimmt: Es heisst, viele Menschen sterben wegen Heroin. Als Wissenschaftler muss ich da genau hinschauen. Und wenn man genau hinschaut, sieht man: Nur eine sehr kleine Prozentzahl von Menschen stirbt an Opioiden allein. Die Mehrheit dieser sogenannten Herointoten stirbt am Mischkonsum. Und zwar Konsum von Opium gemischt mit anderen Sedativen, sogenannten Downern wie Alkohol oder Benzodiazepinen. Es sind also nicht die Opioide, die die Leute töten, es ist der Mischkonsum.

Was heisst das?
Wir haben keine Opioid-Krise. Wir haben eine Krise der Ignoranz. Wenn wir wollen, dass weniger Leute sterben, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Konsumenten richtig aufgeklärt werden, dass sie nicht mehrere Formen von Sedativen miteinander mischen. Wenn man zudem die Sterblichkeit der Leute nach Alter betrachtet, sieht man, dass viele Leute sterben, die zusätzliche Gesundheitsprobleme haben. Es wäre demnach wichtig, Risikogruppen zu identifizieren und dort gezielt aufzuklären. Zu behaupten, dass Opioide unglaublich gefährlich sind, das ist wiederum selbst gefährlich, unterkomplex und schlicht falsch.

In Europa nimmt man die Opioid-Krise auch als Phänomen der ökonomischen Misere in den deindustrialisierten Gegenden der USA wahr. Stimmt diese These?
Was meinen die Leute eigentlich damit, wenn sie von Krise sprechen? Meinen sie die Anzahl der Toten? Meinen sie die Anzahl der Süchtigen? Die Suchtraten als solche haben sich nämlich nicht verändert. Es stimmt, dass mehr Leute Opioide konsumieren. Aber Konsum und Sucht sind nicht dasselbe. Bei den Todesraten muss man wie gesagt sehen, dass 75 Prozent der Toten Opioide in Kombination mit Sedativen wie Alkohol, Benzos oder Antihistaminen konsumiert haben. Möchte man dieser sogenannten Krise auf den Grund gehen, muss man als Erstes entschlüsseln, woran die Leute wirklich sterben. Tut man das, könnte man auch von einer Benzodiazepin-Krise sprechen. Doch die Medien fokussieren auf Opioide, weil man damit geile Geschichten machen kann.

Was bei uns bekannt ist, ist, dass das Medikament Oxycodon sehr leichtfertig von Ärzten verschrieben wurde. Nachdem die Vorschriften für die Verschreibung verschärft worden waren, haben sich die Leute auf der Strasse mit Heroin eingedeckt.
Ich habe bisher keine empirischen Daten gefunden, die das belegen. Sicher ist es wahr, dass die Pharmaindustrie zeitweise das Medikament Oxycodon aggressiv vermarktet hat. Zudem ist es von der chemischen Struktur her dem Heroin sehr ähnlich. Ich habe Oxycodon selbst oft verschrieben bekommen und dieses Medikament extensiv konsumiert. Das ist keine grosse Sache. Diese einfache Geschichte von: Irgendwann habe ich mein Rezept nicht mehr bekommen und habe dann einfach angefangen, Heroin zu konsumieren – sie scheint mir zu simpel.

Klingt sie nicht plausibel?
Mag sein. Aber es ist letztlich auch die klassische Einstiegsdrogentheorie, die sich in anderen Fällen als falsch herausgestellt hat. Das Gleiche hat man zum Beispiel bei Marihuana gesagt. Man hat gesagt: «Wenn du Marihuana rauchst, wirst du irgendwann Kokain oder Heroin nehmen.» Auch das hört sich irgendwie vernünftig an, ist aber komplett falsch. Es gibt keine Daten, die das unterstützen. Die Mehrheit der Leute, die Marihuana rauchen, werden nie Kokain konsumieren und nie Heroin nehmen. Natürlich wissen wir, dass die Mehrheit der Leute, die Heroin oder Kokain konsumieren, zuerst gekifft haben. Aber wenn die grosse Mehrheit der Leute, die Marihuana rauchen, später nicht Heroin konsumieren, können wir die Einstiegstheorie nicht bestätigen.

Sie sagen, dass die «Opioid-Krise» eine medial konstruierte Geschichte ist?
Es ist zu einfach, auf die Medien zu zeigen. Sie haben sicher eine wichtige Rolle gespielt. Aber die Wissenschaft hat auch ihren Teil dazu beigetragen. Damit wären wir wieder bei den vielen Leuten, die von der aktuellen Situation profitieren. Es sind Leute mit sehr starken Lobbys. Politiker tragen ihren Teil dazu bei, Strafverfolgungsbehörden tragen ihren Teil dazu bei, Akteure wie Suchtkliniken tragen ebenso ihren Teil dazu bei, weil sie alle Geld damit verdienen. Ich nenne das die Abhängigkeitsindustrie. Drogen werden seit 1914 von der Polizei als Argument dafür benutzt, sich grössere und bessere Waffen zu beschaffen, weil die Süchtigen untötbar seien. Das hat man vor hundert Jahren beim Kokain gesagt, dann beim Crack, und heute sagt man es im Zusammenhang mit Crystal Meth. All diese Player sind Teil der Addiction-Industrie. Das ist nichts Neues. Das Gleiche ist beim Crack passiert. Es ist ein Kreis, der sich immer wiederholt.

Zur Person

Carl Hart ist Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der Columbia University in New York sowie Vorsteher des Psychologiedepartements der Ivy-League-Universität. Der 51-Jährige war der erste Afroamerikaner, der an der Columbia zum Professor berufen wurde und gilt als einer der erfahrensten und führenden Abhängigkeitsforscher weltweit.

Was ist Ihre Meinung zur Drogenpolitik?

Gibt es Alternativen zum Krieg gegen die Drogen? Hat Repression eine Chance? Was halten Sie von einer regulierten Abgabe von Kokain? Wir freuen uns auf Ihren Beitrag!

Serie «Let’s Talk About Drugs»

Sie lesen: Teil 3

Carl Hart, Abhängigkeits­forscher

Teil 4

Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittel­gesetz-Experten

Teil 5

Toni Berthel, Präsident der Eid­ge­nös­si­schen Kommission für Sucht­fragen

Teil 6

Andrea Caroni, FDP-Ständerat

Schluss

Jessica Jurassica, Bloggerin