Am Wegesrand

Lenin bleibt zuversichtlich

Von Michael Kuratli, 13.10.2018

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Gestern sei auch schon ein Paar gekommen, sagt der Grenzpolizist, der in privater Kleidung im Bahnhofsgebäude steht und uns mustert. Ein Architektenpaar. An der Strada Karl Liebknecht seien sie abgestiegen. Nationalität, Hausnummer und Stock nennt er ungefragt dazu. Dann schweigt er und schaut uns bedeutungsvoll an.

Zwei Beamte blättern in unseren Pässen, brüten über unseren Einreiseformularen, und wir nicken, um ein Lächeln bemüht.

Tiraspol in der Pridnestrowischen Moldauischen Republik, besser bekannt als Transnistrien, an einem Sonntagmorgen im Sommer. Dem einzigen Zug, der an diesem Tag das Land durchquerte, entstiegen wir auf ein karges Perron. Keine Ortstafel weit und breit. Zwei rauchende Militärs in braunen Uniformen betrachteten uns stumm, als wir dem Kondukteur das Fahrgeld in zwei verschiedenen Währungen zusammenkratzten. Er war nervös. Er und sein voller Zug aus Chisinau wollten nur schnell weg aus diesem Zwischenland und die reisenden Moldawier pünktlich an den Stränden der ukrainischen Schwarzmeermetropole Odessa ausspucken.

Wir blieben alleine mit den beiden militärischen Würdenträgern und der eigentümlich touristischen Nervosität zurück. «Zu irgendeinem Zeitpunkt musst du sowieso Schmiergeld bezahlen. Entweder bei der Ein- oder Ausreise oder irgendwann zwischendurch», lasen wir auf irgendeinem Reiseblog. Der Satz hallte nach, als wir durch die Schalterhalle schritten.

Endlich reichen die Beamten uns beiläufig unsere Pässe zurück. Wir tauschen unsere verbliebenen moldawischen Ley in zum Verwechseln ähnliche transnistrische Rubel. Wechselkurs: eins zu eins. Aber schliesslich sind wir in einem neuen Land, auch wenn nur Russland es offiziell anerkennt. Ein Streifen, der im Westen von der wild mäandrierenden Dnjestr begrenzt wird und im Osten an den gezackten Rücken der Ukraine stösst. Ein Land im Lande Moldawien, Grenzland – mehr Grenze als Land.

Mit jedem Schritt vom Bahnhof in die Innenstadt legen wir ein paar Jahre in die Vergangenheit zurück. Entlang einer grosszügigen Prachtallee hängen kyrillische Spruchbänder, umrahmt von sowjetischen Ährenkränzen und roten Sternen. Es herrscht kaum Verkehr, nur wenige Menschen schleichen durch die ausgetrocknete Parkanlage im Zentrum oder verkaufen an Ständen Gasmasken und Orden. Die rot-grün-rot gestreifte Flagge des Landes trägt Hammer und Sichel, einen Stern darüber. Schlapp hängt sie von der Fahnenstange, daneben die russische Trikolore; sie bewachen das einschüchternde Denkmal eines Generals.

Während das restliche Moldawien 1990 die sowjetische Besatzung abstreifte, sich westwärts wandte, die rumänische Mehrheitsbevölkerung die kyrillische Schrift verbannte und proaktiv Plätze mit riesigen EU-Flaggen-Mosaiken verzierte, fror die kleine Provinz jenseits der Dnjestr die Geschichte ein. Irgendwo entlang des verzettelten Flusslaufs stehen noch Panzer der Roten Armee herum und warten auf westliche Provokationen.

Wir gehen zum Strand, eine von sieben Aktivitäten in Tiraspol. Für eine Top-Ten-Liste reichte es nicht. Familien liegen am Flussufer im Sand, der sich von Nahem als getrocknete Erde entpuppt. Wir kaufen eine PET-Flasche mit einem violetten, vergorenen Saft, den wir entlang der Flusspromenade unauffällig in die Büsche kippen. Vom leeren Ausflugsschiff an der Anlegestelle erklingt Ostpop aus den Achtzigern.

Und dann ist da noch Lenin. Aus einem roten Marmorblock in zackigem russischem Realismus gehauen steht er vor dem brutalistischen Parlamentsgebäude. Stolz und voller Zuversicht blickt er auf sein schmales Land und über den Fluss Richtung Kapitalismus. Wäre sein Blick derselbe, wenn er wüsste, dass der Klassenfeind nicht nur knapp vor ihm liegt, sondern auch wenige Kilometer hinter seinem Rücken?

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