Eidgenössische Randnotizen

Nirgends waren die Radikalen radikaler

Von Constantin Seibt, 11.10.2018

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1830 explodierte in Paris die Junirevolution, 1831 zündete die Kettenreaktion in der Schweiz: Gleich elf Kantone gaben sich eine liberale Verfassung.

Nirgends waren die Radikalen radikaler als in Zürich. Nicht zuletzt deshalb, weil deren Vordenker Paul Usteri pünktlich mit dem Erreichen seines Lebensziels starb. Wenige Tage nach seiner Wahl zum Bürgermeister erlag er einem Fieber. Usteri war der erste Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» gewesen – und da trocken, humorfrei, hölzern, aber aufrecht und ausgeglichen, war er dafür der geeignetste Mann.

Nach seinem Tod blieb in der radikalen Partei vor allem das Fieber übrig. Die Macht fiel an eine entschlossene Bande kompromissloser Juristen: Bundesgerichtspräsident Ludwig Keller war hyperintelligent, hyperungeduldig – ein Mann, der im Grossen Rat jeden anderen mit juristischen Argumenten niederreden konnte. Sein Freund Wilhelm Füssli war ein leidenschaftlicher Ideologe, der von der «Umerziehung» des Volkes mittels liberaler Gewerkschaften sprach – mit dem Ziel, eine «kompakte liberale Masse» zu schaffen, um die Rückkehr der Aristokratie «im ersten Atemzuge zu erdrücken». Nummer 3 war der Anwalt Caspar Melchior Hirzel. Ein Riese von einem Mann, mit schöner Tenorstimme, tausend Ideen und einem vor Freundlichkeit strahlenden Gesicht.

Man konnte den Radikalen alles vorwerfen, aber nicht einen Mangel an Tatkraft. Sie hatten endlich die Mehrheit, legten ohne Verzögerung los: In wenigen Jahren installierten sie das erste halbwegs demokratische kommunale Wahlrecht, ein neues Strafgesetzbuch samt neuer Prozessordung, das erste Staatsvermögensinventar (zur effizienteren Immobilienverwaltung), das erste umfassende Steuerrecht. 1833 folgte in der Barfüsserkirche das erste ständige Theater der Stadt Zürich. Gleichzeitig rissen die Liberalen den Stadtwall ein – eine im 17. Jahrhundert topmoderne Schanzenkonstruktion. Dazu wurden die letzten Reste der mittelalterlichen Stadtgräben zugeschüttet. (Diese waren so breit, dass ein Schwein sich darin drehen konnte – Gräben und Schweine dienten über Jahrhunderte als Abfallentsorgungssystem.)

Die Konservativen sprachen von «Zerstörungswut», die Liberalen feierten den Abriss als Entfernung der Barriere zwischen Stadt und Land – und waren währenddessen längst mit ihrem Herzensprojekt beschäftigt: der Bildungsreform.

1833 wurde die Universität gegründet – mit deutschen Professoren bestückt. Zur Finanzierung hatten die Liberalen das Chorherrenstift enteignet – eine steinreiche, ultrakonservative religiöse Stiftung, die im 9. Jahrhundert für die Priester und Nonnen des Fraumünsters gegründet worden war.

Das kühnste Vorhaben war jedoch die Einführung der allgemeinen Volksschule – deren erster Synodalpräsident Melchior Hirzel wurde, der amtierende Bürgermeister des Kantonsrats. Es war ein weiterer grosser Coup für Bildung und gegen die Kirche – bis anhin lag die Erziehung der Landkinder bei den Gemeindepfarrern.

Kurz: Die Liberalen schafften innert weniger Jahre, einen modernen Staat aus dem Boden zu stampfen. Und überall Hass auf sich zu vereinigen. Die Kirche schäumte, die Konservativen schäumten, die gemässigten Liberalen schwiegen halb beeindruckt, halb bedrückt, die Gemeinden beklagten die Kosten für den Bau der Schulhäuser, die Eltern erlebten entsetzt, wie die Kinder aus den Fabriken entfernt wurden, die Fabrikanten verloren billige Arbeitskräfte, die Handwerker und Zünfte fluchten über die neue Gewerbefreiheit, die Offiziere fluchten über den Rückbau der Kasernen, die Bauern stöhnten unter den indirekten Steuern, und die reichen Bürger wurden besorgt, als die Liberalen planten, diese indirekten Steuern durch eine progressive Vermögenssteuer zu ersetzen.

Die Reaktion der Liberalen war: mehr Dynamit nachlegen. 1839 berief der Grosse Rat den Philosophen David Strauss als Professor für Theologie an die Hochschule. Strauss war mit seinem Buch «Das Leben Jesu» zu einer akademischen Sensation geworden: Er durchleuchtete die vier Evangelisten quellenkritisch und porträtierte Jesus ohne Rückgriff auf Wunder, Mythen und übernatürliche Kräfte. Allgemeine Wut folgte. Und Dutzende von Protesteinsprachen.

Hirzel war entschlossen, Strauss durchzubringen. Er schrieb einen offenen Brief: «Zürnt uns nicht länger, dass wir es dem Dr. Strauss möglich gemacht, die ihm von Gott verliehene Gabe unter uns leuchten zu lassen. Seid nicht mehr böse, seid wieder gut!»

Eine Flut von Spott, Entsetzen und weiteren Einsprachen kam als Antwort. Zum ersten Mal knickten die Liberalen ein. Professor Strauss wurde pensioniert – noch vor seiner Antrittsvorlesung.

Kirche und Konservative konnten nicht glauben, dass sie gewonnen hatten. Gerüchte gingen in Umlauf, die Liberalen hätten zum Zweck der Rache Guillotinen angeschafft.

Am 6. September 1839 überquerte ein mit Knüppeln, Messern und Gewehren bewaffneter Haufen von 1500 erzürnten Bauern unter der Führung des Pfarrers Bernhard Hirzel die Stadtgrenze von Zürich. Melchior Hirzel und weitere Staatsräte traten ihnen in Unterstrass entgegen. Die Verhandlungen scheiterten – hauptsächlich weil die Angreifer nicht wussten, was sie genau wollten. Sie fluteten die Stadt unter Absingen des Kirchenlieds «Das ist der Tag, den Gott gemacht». Gegen Abend teilte sich der Haufen und versuchte unter dem Absingen des Chorals «Gott ist mein Lied, er ist der Gott der Stärke» das Zürcher Waffenarsenal zu stürmen. Beide Angriffsformationen gerieten in einen Kugelhagel von 300 Polizeikadetten – beide flohen in Panik, trafen sich an einem Brückenkopf und trampelten sich dort halb tot.

Mitten im schlimmsten Chaos übernahm der konservative Zürcher Stadtpräsident Paul Carl Eduard Ziegler das Kommando. Er war ein erfahrener Offizier und hatte genug vom liberalen Aktionismus. Ziegler liess die Glocken des Grossmünsters Sturm läuten – worauf bewaffnete Konservative aus den Zürcher Türen quollen, allgemeine Panik ausbrach und fast alle Führer der Radikalen Richtung Winterthur flohen.

Der Einzige, der anfangs blieb, war Melchior Hirzel. Ziegler traf ihn verwirrt vor dem Postamt stehend an.

Ziegler sprach ihn an: «Herr, Sie wissen, dass ich nicht Ihrer Ansicht bin; aber wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so machen Sie, dass Sie fortkommen.»

«Werden Sie mich begleiten?», fragte Hirzel.

Ziegler antwortete: «Mit Ihnen gehe ich nicht.»

Kurz darauf war die Stadt unter konservativer Kontrolle. Die 15 Toten des Putsches wurden in der Predigerkirche ausgestellt, wo sie von langen Schlangen der aufständischen Bauern besichtigt wurden.

So endete die Herrschaft der Radikalen nach acht arbeitssamen Jahren. Melchior Hirzel starb bald darauf im Exil mit fünfzig Jahren – fünf Jahre bevor die Liberalen die Macht endgültig übernahmen. (Diesmal ein wenig vorsichtiger.)

Zwar wurden Hirzels Ideen kurze Zeit später zur allgemeinen Praxis. Aber das Urteil über ihn persönlich bleibt das gleiche wie über alle Verlierer. Der Liberalismusforscher Gordon A. Craig beschrieb Melchior Hirzel als Mann «mit einem Kopf voller Pläne und Projekte zur Förderung des allgemeinen Glücks, die von keiner kritischen Intelligenz beeinträchtigt waren».

Und der ebenfalls entschlossen Liberale Gottfried Keller schrieb nach Hirzels Beerdigung 1843, der Mann habe zwar viele gute Eigenschaften besessen, aber dennoch «dem Teufel ein Plätzlein bereitet, wo er seinen Schwanz drauf legen konnte».

Ihr Kinder! So erging es dem Gründer der Zürcher Volksschule.

Quelle: Gordon A. Craig: Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830–1869. C. H. Beck, 1988 (nur noch antiquarisch erhältlich).

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