Preis der Republik

Flagge zeigen

Die Schweiz hat eine humanitäre Tradition. Ihr treu bleiben zu wollen, verdient Anerkennung.

04.10.2018

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Sehr geehrte Preisträgerin

Geschätzte Verlegerinnen und Verleger

Meine sehr geehrten Damen und Herren

Der Preis der Republik geht diese Woche an Sie, Frau Nationalrätin Aline Trede, für Ihren Vorstoss, das Rettungsschiff «Aquarius» künftig unter Schweizer Flagge fahren zu lassen.

Doch bevor die Jury ihre Entscheidung begründet und wir die Preisträgerin angemessen würdigen, werfen wir einen kurzen Blick zurück: Das Schlauchboot «Panda» wühlt sich hektisch durch die schäumende See. Menschen schreien. Im eiskalten Wasser treiben Schwimmwesten, Kleidungsstücke, Leichen. Köpfe gehen unter, tauchen wieder auf. Gehen wieder unter.

Es ist der 27. Januar 2018 – Position: 33° 20’ Nord, 11° 57’ Ost.

Die Retter auf dem Boot brüllen durcheinander, packen Hände, ziehen unterkühlte Körper an Bord. Seenotretter Édouard kauert über dem reglosen Körper eines Säuglings. Den durchnässten, hellblauen Frotteepyjama hat er aufgerissen; panisch bearbeitet er das Brustbein des Babys.

Herzmassage bei kleinen Kindern, meine Damen und Herren, macht man mit zwei Fingern. Je jünger das Kind, desto schneller der Rhythmus: bis zu 120-mal pro Minute. Gerade versucht sich Édouard an den Song zu erinnern, den man für solche Fälle in der Ausbildung lernt:

«Stayin’ alive …»

Das Schlauchboot rast auf die «Aquarius» zu. Das Kind in Édouards Händen bleibt kalt und starr. Minutenlang hat er die kleine blaue Frotteekugel im Wasser treiben sehen, bevor es ihm gelang, sie an Bord zu ziehen. Beatmen: Einmal. Zweimal. Schlagartig wird dem Seenotretter klar, dass das Kind schon lange tot sein muss.

Egal: Herzmassage! Bee Gees! «Ah, ha, ha, ha, stayin’ alive …»

Meine Damen und Herren: Dies ist eine Preisrede, und Preise sind eine feine Sache – auch für die, die ihn verleihen: Sie können Akzente setzen und Flagge zeigen.

Und bis jetzt ist die «Aquarius» – die von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen betrieben wird – unter der Flagge Panamas gefahren. Aber die Schifffahrtsbehörde des Landes hat ihr nun die Registrierung entzogen – offenbar auf direkten Druck der italienischen Regierung: Das Schiff habe «international rechtliche Vorgaben im Bezug auf Flüchtlinge» ausser Acht gelassen.

Das meint: Die Besatzung des Schiffes hat sich geweigert, Gerettete in ihren Ausgangshafen zurückzubringen. Die Gefahr, dass sie dort eingesperrt, gefoltert und massakriert werden, ist einfach zu gross. Eine Entscheidung, die Matteo Salvini, der Innenminister Italiens, so kommentiert: «Für diese Herren bleiben die italienischen Häfen geschlossen.»

«Stayin’ aliiiiii-iiiiive …»

Steuermann Baz weiss, dass er das Boot um jeden Preis ruhig halten muss: Trotz hoher See schmiegt sich die «Panda» jetzt so sanft an den Rumpf der «Aquarius» wie ein Baby an die Mutterbrust. Timing ist jetzt alles: Während Édouard, ohne die Herzmassage zu unterbrechen, langsam von 10 abwärts zählt, bildet sich in der Gischt über ihm, entlang der Leiter am wild schwankenden Schiffsrumpf, eine Menschenkette.

Jetzt!

Édouard schiebt seine Hände unter das leblose Baby und reicht das kleine blaue Bündel nach oben. Die Kugel wandert weiter, von Hand zu Hand, schwebt höher und höher, bis sie an Deck entgegengenommen und sofort in den medizinischen Notfall gebracht wird. Noch weiss niemand, ob sich die aufreibende Rettungsaktion gelohnt hat.

Liebe Verlegerinnen und Verleger, möglicherweise finden Sie ja, wir hätten den Preis gleich Seenotretter Édouard verleihen können? Oder dem feinfühligen Steuermann Baz? Oder Viviana, Francis und all den anderen, die tagtäglich für die Rettung Schiffbrüchiger kämpfen und dabei ihr eigenes Leben riskieren?

Ja, hätten wir können. Aber wir wissen bereits, dass Édouard gerade keinen Wert auf Preisreden legt – in seinem Bericht, auf den sich diese Rede bezieht, sagt er es deutlich genug. Und wir vermuten stark, dass sich auch Viviana und Baz, solange im Mittelmeer Boote kentern, nur auf eines konzentrieren wollen: So viele Menschen wie möglich aus dem kalten Wasser zu ziehen. Väter. Schwestern. Söhne. Kleine Kugeln in Frotteepyjamas.

Die Frage ist allerdings, ob man sie lässt:

Der Kapitän der «Lifeline» steht in Malta vor Gericht. Die «Sea-Watch 3» und die «Seefuchs» wurden im Hafen festgesetzt, die «Iuventa» beschlagnahmt, und das Suchflugzeug «Moonbird» darf auch nicht mehr abheben, um nach Ertrinkenden Ausschau zu halten. An Land werden die freiwilligen Helfer ebenfalls zunehmend unter Druck gesetzt: Die Schwimmerin Sara Mardini, die mit ihrer Schwester ein havariertes Schlauchboot durch das Meer zog und so 24 Menschen das Leben rettete, wurde kürzlich auf Lesbos wegen Schlepperei und Spionage verhaftet – ihr droht eine jahrelange Gefängnisstrafe.

Meine Damen und Herren, im Moment befindet sich kein aktives ziviles Rettungsboot mehr auf dem Mittelmeer – ausser der «Aquarius». Und ohne Flagge wird auch sie, einmal vor Anker, nicht mehr ablegen dürfen.

Das Argument der Rettungsgegner ist das immer gleiche: Wenn keine Rettungsorganisationen mehr aktiv sind, entzieht man den Menschen den Anreiz zur Flucht.

Unser erster Reflex wäre, darauf hinzuweisen, dass es keine Zahlen gibt, die diesen Zusammenhang belegen. Und dass, zum Beispiel, diese Oxford-Studie aufzeigt, dass es keine nennenswerte Korrelation zwischen der Menge der Bootsflüchtlinge und der Rettungsschiffe gibt.

Aber all das ist gar nicht der Punkt: Sondern, dass hier eine Strategie darauf abzielt, vorsätzlich Menschen sterben zu lassen – um so möglicherweise andere abzuschrecken.

Wir, liebe Verlegerinnen und Verleger, wagen zu behaupten, dass wir keine Studie aus Oxford brauchen, um uns und andere davon zu überzeugen: So etwas tun wir nicht. Wir lassen auch keine Unfallopfer auf der Strasse liegen – in der Hoffnung, dass die verbleibenden Verkehrsteilnehmer dann vorsichtiger fahren.

Nein: Denn das ist nicht, wer wir sind – und unsere Preisträgerin hat uns gerade eine grossartige Möglichkeit verschafft, uns daran zu erinnern.

Sie, Aline Trede, verbringen keine eisigen Nächte auf dem Mittelmeer. Sie ziehen keine Menschen aus dem Wasser und haben, soweit wir wissen, in letzter Zeit keine Herzmassage gegeben.

Aber mit Ihrem Vorstoss tun Sie etwas Vergleichbares: Sie erinnern uns daran, wer wir sind – nicht nur als Menschen, sondern auch als Gemeinschaft. Die Schweiz hat eine lange humanitäre Tradition – auf die wir, zu Recht, stolz sind. Wir helfen, wenn Not am Mann ist. Und wir sehen nicht einfach zu, wie ehrenwerte Gentlemen die Rettung von Menschen sabotieren und kriminalisieren. Wie ihr Tod in Kauf genommen wird – ohne dass auch nur der Versuch gemacht wird, sie zu retten.

Die gute Nachricht zum Schluss: Das Baby im blauen Pyjama hat es geschafft – und haben wir uns nicht alle genau das von Herzen gewünscht? Schon nur deshalb muss die Crew der «Aquarius» weitermachen: Sie rettet im Mittelmeer nicht nur Menschenleben – sondern auch unsere Menschlichkeit. Und wenn sie es unter Schweizer Flagge tut, dann werden wir, zu Recht, stolz sein!

Wir wünschen Aline Trede alles Gute!

Illustration: Doug Chayka

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