Zuger Justizdirektor verhindert Berichterstattung

Die Luzerner Strafbehörden ermittelten gegen den Zuger Justizdirektor Beat Villiger. Trotz Widersprüchen stellten sie das Verfahren ein. Mit einer superprovisorischen Verfügung verhindert der CVP-Politiker die Veröffentlichung einer Republik-Recherche.

Von Carlos Hanimann und Michael Rüegg, 01.10.2018

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Es beginnt ganz klein. Mit einem Unglück und viel Gutmütigkeit. Doch dann führt das Eine zum Anderen. Und am Ende reibt sich ein gestandener Politiker die Augen, rückt mit gesenktem Blick den Stuhl nach hinten, schüttelt die Hand und geht – ohne ein Wort des Abschieds.

Der Politiker heisst Beat Villiger. Und das ist die Geschichte seines angekündigten Rücktritts.

Routine: Am 29. Juli 2017 hält die Luzerner Polizei um 16.50 Uhr ein Fahrzeug an. Die Person am Steuer hat keinen Führerausweis. Und der Wagen ist nicht auf ihren Namen eingelöst. Er gehört dem höchsten Polizeiverantwortlichen des benachbarten Kantons Zug: Beat Villiger (61), CVP-Regierungsrat, Sicherheits- und Justizdirektor, Vizepräsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Am kommenden Wochenende stellt er sich in Zug für eine vierte Legislatur zur Wahl.

Beat Villiger muss etwas geahnt haben. Zwei Tage vor der Fahrzeugkontrolle, am Donnerstag, 27. Juli, greift er zum Telefon und ruft die Luzerner Polizei an. So steht es in einem behördlichen Dokument, das die Republik einsehen konnte. Er fragt, ob die Person, die bald darauf sein Auto fährt, einen Führerschein besitze.

Villiger sagt, er habe sich damals als Privatperson ausgegeben, nicht als Sicherheitsdirektor aus dem Nachbarkanton. Er glaubt, er habe das Strassenverkehrsamt angerufen, aber so sicher ist er sich nicht. Wie bei so vielem in dieser Geschichte: Seine Erinnerung trügt, ist mal nebulös, mal falsch oder im Widerspruch zu früheren Aussagen. Mehrmals meldet sich Villiger von sich aus bei der Republik, schreibt, ruft an, will wissen, ob der Artikel über ihn erscheine – und vor allem: ob das noch vor den Wahlen geschehe.

«Im Nachhinein ist man immer gescheiter»: CVP-Regierungsrat und Sicherheitsdirektor Beat Villiger (Bild: Februar 2016). Urs Flüeler/Keystone

Ein Tipp von der Polizei

Der Anruf am 27. Juli 2017 bringt die Luzerner Polizei in eine unangenehme Situation: Da will jemand Informationen, die man aus Datenschutzgründen nicht geben darf. Aber er scheint gute Gründe zu haben. Der Polizist am Telefon entscheidet sich für einen Mittelweg: Er macht klar, dass Villiger möglichst schnell wieder in den Besitz seines Wagens kommen solle, damit niemand damit fahren könne.

Wer jemandem seinen Wagen überlässt, «von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann, dass er den erforderlichen Ausweis nicht hat», kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft werden. So steht es im Strassenverkehrsgesetz. Als Villiger bei der Polizei in Luzern anruft, ahnt er offenbar, dass er in Schwierigkeiten geraten könnte.

Aber es ist zu spät. Villiger hat Wagen und Schlüssel bereits ausgeliehen. Er sagt der Polizei, er fahre am selben Abend in die Ferien.

Am nächsten Tag, am 28. Juli, sucht er die Person auf. Anstatt das Auto zurückzuholen, lässt er sich eine Bestätigung unterschreiben und geben, dass die Person fahrberechtigt sei. Dann reist er in die Ferien. Am Folgetag wird die Person in Villigers Wagen von der Polizei kontrolliert. Die Polizei rapportiert die Ereignisse. Sie erstattet Anzeige. Gegen die Person. Und gegen Beat Villiger. Artikel 95, Strassenverkehrsgesetz: Er habe den Wagen einer Person ohne Führerschein überlassen.

Ein zweiter Vorfall

Damit hätte die Sache ein schnelles Ende finden können. Eine Nachlässigkeit im Privaten. Keine grosse Sache. Die Luzerner Staatsanwaltschaft hätte den Fall geprüft und einen Entscheid gefällt: Einstellung des Verfahrens, Ausstellung eines Strafbefehls oder Anklageerhebung. Nur bei einer Anklage landet der Fall tatsächlich vor Gericht. Wie die meisten Staatsanwaltschaften erlassen auch die Luzerner in rund 90 Prozent der bearbeiteten Fälle einen Strafbefehl.

Aber so weit kommt es nicht. Noch ehe das Verfahren abgeschlossen werden kann, fischt die Luzerner Polizei vier Monate später Villigers Wagen wieder heraus. Es ist der 18. November 2017, 11.50 Uhr. Wieder sitzt nicht Villiger am Steuer, sondern dieselbe Person. Ohne Führerschein.

Wie kann es sein, dass Villiger nach seinem ersten Missgeschick, das er im Gespräch mit der Republik auf Gutmütigkeit zurückführt, denselben Fehler nach nur vier Monaten noch einmal macht?

Die Sache gerät nun langsam aus der Bahn. Denn es geht nicht mehr nur um die zwei Verkehrsdelikte. In den polizeilichen Ermittlungen taucht jetzt ein neuer Vorwurf auf.

Doch über diesen Vorwurf darf die Republik nicht oder nur sehr eingeschränkt berichten. Das hat das Bezirksgericht Zürich vergangenen Donnerstag in einer superprovisorischen Verfügung entschieden. Bei einer superprovisorischen Verfügung handelt es sich um eine vorsorgliche Massnahme, die ein Gericht ohne Anhörung der Gegenpartei verfügt. Eine Anhörung der Republik in diesem Fall wird «demnächst» erfolgen.

Die Polizei zweifelt

Nach dem zweiten Vorfall im November vernehmen die Luzerner Strafverfolger Villiger und die Person ein. Dabei präsentiert die Person plötzlich einen Kaufvertrag: Der Wagen gehöre eigentlich ihr und nicht Villiger. Der Vertrag ist auf den 15. Mai 2017 datiert, zweieinhalb Monate vor der ersten Polizeikontrolle. Handschriftlich ergänzt heisst es darin, die Übernahme des Wagens werde per 1. Juli erfolgen, der effektive Halterwechsel dann Ende August.

Der Vertrag liegt der Republik vor. Wie auch andere Akten aus der Strafuntersuchung erhielt die Republik den Vertrag als Beilage zur superprovisorischen Verfügung.

Gemäss Vertragsdatum hat Villiger der Wagen bei der ersten Kontrolle Ende Juli gar nicht mehr gehört. Aber der Wagen ist auch bei der zweiten Polizeikontrolle im November noch auf ihn eingelöst. Ein Widerspruch, der bei der Polizei Zweifel aufkommen lässt. Wegen der superprovisorischen Verfügung verzichtet die Republik darauf, über die Zweifel der Polizei zu berichten.

Villiger wehrt sich bei der Einvernahme durch die Luzerner Staatsanwaltschaft vehement gegen die Vorwürfe der Polizei. Auch im Gespräch mit der Republik weist er diese Vorwürfe von sich. Er sagt, der Vertrag habe mündlich schon immer bestanden. Er habe das Vertragsdokument Anfang Juni erstellt – also vor dem ersten Vorfall. Er habe das Auto verkaufen wollen. Und deshalb den Vertrag aufgesetzt. Allerdings habe er es verpasst, die Halteränderung zu melden und die Nummernschilder abzunehmen.

Immer wieder fehlen Villiger im Gespräch die schlüssigen Erklärungen. Er rätselt, er schlingert, er entschuldigt sich. «Ich hätte konsequent sein sollen», sagt er. Oder: «Im Nachhinein ist man immer gescheiter.» Einmal sagt er, man habe ihn beim ersten Vorfall nicht nach dem Vertrag gefragt. Dann wieder: Es hätte sowieso nichts geändert, weil er immer noch als Halter eingetragen war.

Der Staatsanwalt verlangt keine Belege

Als Villiger im Januar 2018 von der Luzerner Staatsanwaltschaft einvernommen wird, deutet er an, dass das Datum auf dem Vertrag möglicherweise nicht korrekt sei. Vielleicht habe er irrtümlich «15. Mai» statt «15. Juni» hingeschrieben? Jedenfalls sei der Vertrag vor dem ersten Vorfall abgeschlossen worden.

Die Unstimmigkeit macht die Staatsanwaltschaft stutzig. Sie fragt Villiger in der Einvernahme mehrmals, warum er diesen Vertrag nicht schon früher erwähnte. Und sie will wissen, wann der Vertrag unterzeichnet worden sei. Villiger antwortet dem Staatsanwalt: «Ich müsste schauen.» Und: «Ich werde das abklären.»

Die Abklärungen bleiben aus. Die Staatsanwaltschaft verlangt keine Belege für Villigers Aussagen. Wer die Akten zu diesem Fall liest und mit Beat Villiger redet, kommt zum Schluss: Es wimmelt von Widersprüchen und offenen Fragen.

Doch dann stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein – in allen Punkten: «Zusammenfassend kann Beat Villiger damit … kein rechtsgenüglicher Vorwurf eines strafbaren Verhaltens gemacht werden.»

Fünf Seiten hat die Einstellungsverfügung von Staatsanwalt Michael Bucher, der Ende August befördert wurde (er leitet ab Januar 2019 die dritte Abteilung der Staatsanwaltschaft Luzern). Visiert ist sie vom stellvertretenden Oberstaatsanwalt Thomas Reitberger. Sie schicken Villiger die Verfügung diskret in neutralem Kuvert zu. Darin sind die Vorfälle ausführlich dokumentiert. Die Verfügung liest sich wie die Rechtfertigung eines schlechten Gewissens.

Im ersten Fall sei Villigers Vertrauen missbraucht worden, schreibt Staatsanwalt Bucher: Villiger habe sich auf die Zusicherungen der Person verlassen können. Er habe zudem Vorkehrungen getroffen, um einen zweiten Vorfall zu verhindern. Bloss weil er im ersten Fall belogen worden sei, heisse das nicht, dass er «allein deswegen keinerlei Vertrauen mehr hätte schenken dürfen».

Auch den Vorwurf bezüglich des Kaufvertrags, den die Republik nicht benennen darf, wischt die Staatsanwaltschaft vom Tisch: Es lägen «keinerlei Anhaltspunkte» dafür vor.

Die Luzerner Strafverfolger sprechen Villiger von jedem Fehlverhalten frei. Die Einstellungsverfügung ist rechtskräftig. Für Villiger gilt die Unschuldsvermutung.

Im Zweifel: Anklagen

Vor Gericht gilt der Grundsatz: in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. In der Strafuntersuchung hingegen gilt das Gegenteil: in dubio pro duriore – im Zweifel für das Härtere. Staatsanwälte sollen abwägen und am Ende einer Untersuchung die Beurteilung eher einem Gericht überlassen, statt sie eigenhändig einzustellen.

Diesem Grundsatz folgt in der Regel auch die Luzerner Staatsanwaltschaft: In Luzern wurden 2017 nur rund 10 Prozent aller Strafuntersuchungen eingestellt. So auch der Fall Villiger. Trotz zahlreicher Widersprüche.

Die Republik hat die Einstellungsverfügung in anonymisierter Form verschiedenen Strafrechtsexperten vorgelegt und diese um eine Einschätzung gebeten. Alle äusserten sich unter dem Vorbehalt, nicht sämtliche Untersuchungsakten zum Fall zu kennen.

Nadja Capus, Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Neuenburg, hält die Einstellung für fragwürdig: «Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren mit der Begründung ein, dass Vertrauen zwischen den beiden herrschte. Tatsächlich aber belegt sie über mehrere Abschnitte, dass alles andere als Vertrauen herrschte: Er rief die Polizei an, fragte immer wieder nach und liess sich sogar schriftlich bestätigen, dass alles in Ordnung sei. Das ist widersprüchlich.»

Auch Marc Thommen, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich, erkennt in der Einstellungsverfügung verschiedene Unstimmigkeiten. Es stimme beispielsweise gerade nicht, dass «keine Anhaltspunkte» für den Vorwurf vorlägen, über den die Republik nicht berichten darf. «Für eine Anklageerhebung muss man das Delikt nicht zu hundert Prozent beweisen können. Die Frage ist: Gibt es einen genügenden Tatverdacht? Und das kann man in diesem Fall bejahen.» Es gelte der Grundsatz: in dubio pro duriore, im Zweifel für die Anklage.

Noch deutlicher wird Markus Mohler. Mohler war jahrelang Polizeikommandant, Staatsanwalt in Basel und Lehrbeauftragter für öffentliches Recht. Er sagt, die Staatsanwaltschaft winde sich bei den Formulierungen in der Einstellungsverfügung. Auch er verweist auf den Grundsatz, dass man im Zweifel Anklage erheben und den Fall von einem Gericht prüfen lassen müsse. «Aus unabhängiger Sicht muss ich sagen, dass die im Einstellungsbeschluss wiedergegebenen Erklärungen des Beschuldigten keine Logik haben. Dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ist nicht richtig.»

Die Republik hat der Luzerner Staatsanwaltschaft einen detaillierten Fragenkatalog geschickt und sie mit den Vorwürfen und den Einschätzungen der Experten konfrontiert. Ihr Sprecher Simon Kopp antwortete mit einer pauschalen Stellungnahme: Die Staatsanwaltschaft habe «neutral und unvoreingenommen untersucht» (siehe Stellungnahme am Ende des Artikels).

Der angekündigte Rücktritt

Beat Villiger sagt, er habe in dieser Geschichte Fehler gemacht. Er habe sich linken lassen, sich in etwas reingeritten. Er fürchtet, die Sache könnte ihn seine Karriere kosten. «Man macht alles kaputt. Wegen eines Fehlers, den ich gemacht habe.» Die Leute würden sagen: Kann der nicht besser aufpassen? «Es hängt wie ein Damoklesschwert über mir. Wenn das kommt, kann ich grad zurücktreten.»

Villiger rückt den Stuhl nach hinten, steht auf, schüttelt die Hand und geht – ohne ein Wort des Abschieds.

Die Stellungnahme der Luzerner Staatsanwaltschaft im Volltext

Die Republik kann wegen der Auflagen in der superprovisorischen Verfügung die Stellungnahme der Luzerner Staatsanwaltschaft nicht in voller Länge publizieren. Auslassungen sind gekennzeichnet. Die wesentlichen Punkte sind im Folgenden aufgeführt.

«Die Staatsanwaltschaft hat die Anschuldigungen neutral (…) und unvoreingenommen untersucht.» Der laut Staatsanwaltschaft zentrale Punkt für die Einstellung des Verfahrens kann wegen der superprovisorischen Verfügung nicht wiedergegeben werden. «Der Untersuchungsablauf war wie üblich so, dass der zuständige Staatsanwalt in seiner Funktion selbständig (…) die Untersuchung führte, eine Einstellungsverfügung verfasste und diese zwecks Visierung an die Oberstaatsanwaltschaft überwiesen hat. Die Oberstaatsanwaltschaft hat die Einstellung visiert und damit zum Ausdruck gebracht, dass dieser Entscheid nachvollziehbar ist. (…) Das Vorgehen in der Untersuchung erachten wir somit als korrekt. Zudem möchten wir festhalten, dass für einen Staatsanwalt nicht relevant ist, welchen Beruf ein Beschuldigter ausübt. Der Beschuldigte war dem zuständigen Staatsanwalt auch nicht persönlich bekannt. (…) Schliesslich kommt es immer wieder vor, dass Entscheide nicht versandt, sondern von beschuldigten Personen bei der Staatsanwaltschaft in einem neutralen Kuvert abgeholt werden, soweit es sich wie in diesem Fall um nicht fristauslösende Entscheide handelt.»

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