Expressionistisches Bühnenbild. Im Vordergrund Alviano Salvago, an der Wand Schatten von riesigen, bedrohlichen Händen.
Bedrohliche Hände: John Daszak als Alviano Salvago. Monika Rittershaus

Klang

Harter Schnitt, scharfe Dissonanz

Franz Schreker: «Die Gezeichneten»

Die Inszenierung von Franz Schrekers «Die Gezeichneten» im Opernhaus Zürich macht aus der sinnlich-schillernden Oper einen expressionistischen Schocker.

Von Peter Hagmann, 26.09.2018

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Wie ein Komet stieg Franz Schreker damals, nach dem Ersten Weltkrieg, in den musikalischen Himmel auf. Seine Opern waren in aller Munde, bald wurde sein Name in einem Atemzug mit jenem von Richard Strauss genannt. Doch dann folgten die Weltwirtschaftskrise und der politische Umschwung – und aus war es mit dem Höhenflug. Von den Nationalsozialisten als «jüdischer Vielschreiber» geschmäht, sah sich Schreker seiner Ämter beraubt, von den Bühnen gedrängt und mit einer schweren Existenzkrise konfrontiert. Noch bevor er emigrieren konnte, erlag der Komponist 1934, 55 Jahre alt, einem Herzanfall.

Die Wiederentdeckung

Für Schreker gab es jedoch ein zweites Leben. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde er erneut zum Tagesgespräch, wenigstens in der Welt des Musiktheaters. Wurden seine Werke wiederentdeckt, kamen «Die Gezeich­neten» 1979 in Frankfurt und 1987 in Düsseldorf, «Der Schätzgräber» 1989 in Hamburg und «Der ferne Klang» 1991 in Wien heraus – allesamt in denk­würdigen Produktionen. Wortführer waren Dirigenten wie Michael Gielen oder Gerd Albrecht, aber auch ein Theatermann wie John Dew, der etwas abseits, in Bielefeld, die Schreker-Renaissance entschieden vorangetrieben hat.

Aber auch dieses Feuer loderte kurz. So wie die Neuentdeckung des Jugend­stils in den Achtzigerjahren und zehn Jahre später die Hinwendung zur «entarteten Musik» inzwischen zum Erliegen gekommen sind, ist Schreker mit seinem Œuvre wieder von der Bühne abgetreten. «Die Gezeichneten», ohne Frage sein Hauptwerk, erscheinen ab und zu noch auf den Spielplänen, sonst ist es erneut still geworden um den Komponisten. Gründe dafür gibt es manche, auch jenseits der sich rasch wandelnden Moden. Die Musik Franz Schrekers passt in kein Schema. Den Verfechtern des ästhetischen Fort­schritts galt sie als retrospektiv und eklektisch, der Postmoderne war ihre Nähe zur Avantgarde suspekt.

In der Glyptothek

Nun ist in Sachen Schreker aber noch einmal ein starkes Wort gesprochen worden. Zur Eröffnung der neuen Saison hat das Opernhaus Zürich «Die Gezeichneten» herausgebracht – und das in einer Produktion, die mit ihren scharfen Kanten neue Deutungswege erkennen lässt. Ein unbequemer, ja schockierender Abend. Er hebt in hochästhetischer Umgebung an, denn der Bühnenbildner Rufus Didwiszus empfängt das Publikum mit einem offenen Raum in dezentem Grau, in dessen Mitte eine Skulptur aus dem klassischen Altertum prangt. Später füllt sich der Raum; er wird zur Glyptothek, die der reiche Adlige Alviano Salvago als sein Elysium eingerichtet hat (und hier ist ein grosses Kompliment an die Werkstätten des Hauses am Platz).

Die Künstlerin Carlotta Nardi, gespielt von Catherine Naglestad, mit ihrem Modell Alviano Salvago. Monika Rittershaus

Immer wieder fährt ein herber Ruck durchs Geschehen. Für das sonst so vielgestaltig schillernde Vorspiel schlägt die Philharmonia Zürich einen irritierend rauen Ton an; bisweilen wird das Orchester so laut, dass die klangliche Balance gefährdet ist und die Hände vorsorglich an die Ohren fahren. Ist es der mangelnden Vertrautheit Vladimir Jurowskis mit dem akustisch schwierigen Raum zuzuschreiben? Oder der mässigen Sorgfalt des Dirigenten, der im Vorfeld der Premiere nonchalant verlauten liess, Schreker sei weder ein Schönberg noch ein Puccini, bei ihm gebe es manchen Ton zu viel? Nein, das ist es nicht. Am Ende des Abends wird vielmehr deutlich, dass schon die ersten Klänge aus dem Graben anzeigen sollten, wohin sich die Auslegung wenden würde. Es ist nicht die Richtung von Ästhetizismus und Klangmalerei.

Ein expressionistisches Drama

«Die Gezeichneten» werden in dieser zweiten Zürcher Produktion – die erste kam 1992 heraus, geriet flügellahm und blieb folgenlos – vielmehr kon­sequent und zugespitzt als expressionistisches Drama gezeigt. Als ein Stück von 1915, das absolut auf der Höhe seiner Zeit stand. Mit seinen Fragen zu Ästhetizismus und Gewalt, zum Schönheitskult als Surrogat, zum Anima­lischen im Sexualtrieb. Und mit seiner kompositorischen Handschrift, die gar nicht so sehr vom Schwärmerischen, vom Schwelgerischen lebt, sondern mehr noch vom harten Schnitt, von der scharfen Dissonanz, von den unablässigen Taktwechseln des Sprechgesangs. Da bleibt die eine oder andere Hörerwartung unerfüllt, versteht sich; dafür tritt anderes ins Bewusstsein – das macht die Einzigartigkeit dieses Theaterabends aus.

Alviano Salvago erscheint hier nicht als der andere Rigoletto, den Schreker in dem von ihm selbst entworfenen Textbuch vorgesehen hat. John Daszak, der in dieser Partie ein Meisterstück sondergleichen abliefert, ist vielmehr von grosser und aufrechter Statur. Und er trägt einen der glänzenden Herren­anzüge, die der Kostümbildner Klaus Bruns entworfen hat. Allerdings hat er keine Hände. Aus den weissen Manschetten ragen zwei akkurat vernähte Stummel heraus. Ein Albtraum, wie ihn nur das messerscharf kalkulierte Effekttheater von Barrie Kosky zu evozieren vermag. Und alles andere als eine an den Haaren herbeigezogene Idee.

Hände, die ein Herz zerdrücken

Denn um Hände geht es in jener zentralen Szene der «Gezeichneten», in der Alviano einer Frau näherkommt. Es ist Carlotta, die Tochter des Bürger­meisters, die ein Leben als bildende Künstlerin führt. Und die in der amerikanischen Sopranistin Catherine Naglestad eine grossartig rollen­deckende Darstellerin findet. Ihr soll Alviano Modell stehen – in einer Sitzung, in der sie von nichts anderem spricht als von Händen. Von Händen verschiedenster Ausformung. Von Händen, die ein Herz zerdrücken. Von ihren eigenen Händen. Wie sie Alviano endlich ihre Liebe gestanden hat, zerreisst sie den Klumpen auf der Töpferscheibe, um zwei Hände aus Lehm zutage zu fördern, die sie ihrem restlos verwirrten Modell an die beiden Armstummel klebt – das horrible Gegenteil der auf der Opernbühne so gerne verhandelten Erlösung durch Liebe.

Alviano Salvago (John Daszak) wird vom Gezeichneten zum Kunstwerk seiner geliebten Carlotta Nardi (Catherine Naglestad). Monika Rittershaus
Ein Albtraum auf der Töpferscheibe: Alviano Salvago, gespielt von John Daszak. Monika Rittershaus

Tatsächlich geht es im dritten Akt rapide bergab. Wie die Statuenfragmente in der Glyptothek und wie der Lehmklumpen auf der Töpferscheibe steht Alviano Salvago auf einem kreisrunden, sich drehenden Podest, um unaufhaltsam dem Wahnsinn entgegenzutreiben. Die Lehmhände sind ihm abgefallen, denn seine Carlotta hat sich dem Übermann Tamare (in jeder Hinsicht blendend Thomas Johannes Mayer) hingegeben und will nichts mehr von ihrem Modell wissen. An dieser Stelle zeigt sich die einzige Schwäche des Abends. Denn das Wechselspiel zwischen der Volksmasse, die in das von seinem Schöpfer geöffnete Elysium strömt, und den Einzelfiguren, in denen sich die dramatische Spannung verdichtet, ist durch Kürzungen zerstört. Zudem sind die Stadtbewohner wie ihre Autoritäten, der regierende Herzog (Christopher Purves) und der Bürgermeister (Albert Pesendorfer), zu Witzfiguren degradiert.

Hat ihm Tamare die Wahrheit ins Gesicht geschleudert, kennt Alviano nur ein Ziel: den Tod des Rivalen. Wie kann der herbeigeführt werden mit zwei Armstummeln? Dracula hilft – Barrie Kosky hält für jeden noch so drama­tischen Augenblick einen Stück ironischer Distanzierung bereit. Ausser für das Verlöschen des Protagonisten am Schluss. Wenn Alviano in seinem Wahn nach der Fiedel ruft und zum buckligen Narren zu werden wünscht, wenn er das sozusagen tonlos tut und ihm das Orchester noch ein, zwei fahle Akkorde hintennach schickt, dann greift noch einmal blankes Entsetzen um sich. Grosser Bahnhof für alle Beteiligten, auch für das riesige Ensemble, das den Abend mitträgt.

Sieben weitere Vorstellungen bis zum 23. Oktober 2018.

Zum Autor

Peter Hagmann, 1950 in Basel geboren, promovierter Musikwissenschaftler und diplomierter Organist, wirkt seit 1972 als Musikkritiker. In dieser Funktion war er ab 1986 für die «Neue Zürcher Zeitung» tätig, ab 1989 als Redaktor im Feuilleton. Seit seinem altersbedingten Rücktritt im Frühjahr 2015 ist er als Musikkritiker wieder auf freier Wildbahn unterwegs, unter anderem mit seinem Blog «Mittwochs um zwölf», den er auf www.peterhagmann.com führt. Von Peter Hagmann sind der Republik bereits die Texte «Der Geist von einst ist wieder da» und «Schimmernde Streicher, knurrendes Kontrafagott» erschienen.

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