Das Leben spielt

Zürichs Dolce Vita

Von Solmaz Khorsand, 25.09.2018

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Zürich ist kein Ort für Voyeure. Zwar wird geglotzt, wie es nur in Kleinstädten und auf dem Land üblich ist, doch hat der Glotzende selten Ausdauer. Oder die Chuzpe. Zu gross scheint die Gefahr, dass das Gegenüber eine Regung zeigen könnte. Nur an einem Ort wähnt man sich in Sicherheit. Auf dem Balkon. Dort oben, hinter der Balustrade, lässt es sich hemmungslos starren.

Aber eben: von oben herab.

Auf Augenhöhe hat man Schwierigkeiten. Dennoch: Auch hierzulande gibt es die Sehnsucht nach dem gegenseitigen wohlwollenden Registrieren. Zurückhaltend wird diese Sehnsucht in der Stadt ausgelebt. Auf wenigen Quadratzentimetern, leise und schüchtern.

Auf Stühlen.

Sie stehen überall in Zürich. Meistens einzeln. Nicht als Exterieur von Cafés und Restaurants oder Konzeptkunst einer innovativen Stadtverwaltung, sondern als freie Radikale im öffentlichen Raum. Mal sieht man sie vor einem Brunnen, mal neben der Haustür, mal hinter dem Baustellengitter und mal hinter dem Tischtennistisch.

Der Plastikstuhl als starker Ausdruck Zürcher Lebenslust.

Wie kleine Widerstandsdenkmäler aus Plastik stehen sie in der Landschaft. Hier wird ein Zeichen gesetzt.

Auf diesen wenigen Quadratzentimetern traut sich der Zürcher, was er sich sonst nur unter dem Einfluss enthemmender Substanzen traut: Lebenslust. Er verweigert sich der Leistungsgesellschaft, faulenzt ostentativ und streift dabei seine Zurückhaltung ab. Er erobert den öffentlichen Raum und stellt sich in die Auslage.

Wo mein Stuhl, da meine Piazza, so die Botschaft. Ich brauche keine Stadtplanung, die mir auf dem Reissbrett eine Sitzlandschaft skizziert, damit ich stupide auf Seen, Bäume oder Fussballfelder starre. Ich starre, wohin ich will, und wenn es die Müllsäcke der Nachbarin sind. Ich bestimme, wo ich ins Narrenkästchen schaue. Als mündiger Bürger kann ich das.

Manchmal bleibt es nicht bei einem Stuhl. Manchmal gesellen sich sogar andere dazu. Und siehe da, aus ein paar subversiven Elementen wird eine kleine Guerilla-Gruppe. Und man ist sich ein paar Zentimeter näher. Sogar in Zürich.

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