Illustration in Grautönen einer Brücke mit Wolken.

Strassberg

Unverhandelbar

Darf man die Demokratie in die Schranken weisen? Darüber dachte schon Rousseau nach.

Von Daniel Strassberg, 25.09.2018

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Im vierten Kapitel des «Contrat social» macht sich Jean-Jacques Rousseau Gedanken, ob ein Mensch das Recht habe, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen. Seine Antwort ist eindeutig: «Der Verzicht auf die eigene Freiheit schliesst den Verzicht auf Menschentum, Menschenrechte und -pflichten in sich. Für einen solchen Verzicht gibt es überhaupt keinen Ersatz; er verträgt sich nicht mit der Natur des Menschen.»

Fast zweihundert Jahre später notiert Ludwig Wittgenstein: «Der Zweifel beruht nur auf dem, was ausser Zweifel ist.» Rousseau und Wittgenstein drücken dieselbe Überzeugung aus: Gewisse Dinge sind nicht verhandelbar. Denn sie sind die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt verhandeln zu können. Wer die Bedeutung des Wortes Zweifel in Zweifel zieht, kann nicht mehr zweifeln. Wer seine Freiheit freiwillig zur Disposition stellt, entleert den Sinn von Freiheit: Gewisse Begriffe darf man nicht zu Ende denken, sonst verzehren sie sich selbst. Man muss ihnen Zügel anlegen.

Sklaverei ist in Westeuropa nicht mehr an der Tagesordnung, und die Frage nach der Bedeutung von Wörtern mag nur von akademischem Interesse sein. Doch die Frage nach der Bedeutung von Demokratie ist von beängstigender Aktualität. Letztlich steht sie hinter den Ereignissen in Chemnitz, aber auch hinter der Selbstbestimmungsinitiative.

Mehrheitsentscheid versus Minderheitenschutz

Die einen sagen, Demokratie sei Mehrheitsentscheid. Punkt. Mehr ist da nicht. Politik ist die Kunst, unterschiedliche Interessen auszuhandeln, und die Demokratie ist dafür das beste Verfahren. Es gibt staatsrechtlich gesehen nichts, was nicht zur demokratischen Disposition stünde.

Die anderen halten dagegen, auch die Mehrheit sei gebunden. Ohne Meinungsfreiheit, ohne Gleichberechtigung, ohne Minderheitenschutz und ohne Rechtsstaatlichkeit verliert das Wort Demokratie seinen Sinn. Es wird zur leeren Hülle. Demokratie ist nicht nur ein formales Verfahren, sondern auch ein Bekenntnis zu einer bestimmten Art des Zusammenlebens. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war ein Versuch, nach den schrecklichen Erfahrungen des Holocaust diese Art zumindest in ihren Grundzügen für unverhandelbar zu erklären und die Demokratie daran zu binden.

Dass der Unterschied der Auffassungen enorm ist, liegt auf der Hand: Für die einen ist die Türkei ein demokratischer Staat, weil die Mehrheit Erdogan gewählt hat, für die anderen kann ein Land, das die Pressefreiheit abgeschafft hat, nicht mehr demokratisch genannt werden.

Bis vor kurzem waren die Zuordnungen klar. Die Rechte neigte zur ersten, die Linke zur zweiten Auffassung. Doch in den letzten Monaten begann sich die Trennlinie zu verwischen, zuletzt durch die Sammelbewegung #aufstehen um Sahra Wagenknecht.

Verständnis für die Unterschicht

Geben wir zunächst, zur besseren Kenntlichkeit, sowohl den Linkspopulisten als auch ihren linken Gegnern einen Namen. Nennen wir sie der Einfachheit halber linke Populisten versus Salonlinke.

Die Salonlinke, so die linken Populisten, habe sich allzu lange nur um die Einhaltung der Menschenrechte gekümmert und das Elend der Abgehängten und Verlorenen in ihrer eigenen Gesellschaft vergessen. Die Menschenrechte seien ihr ein sanftes Ruhekissen gewesen, auf dem sie bequem ihr Gewissen habe ausruhen können. Die Frage, ob es besondere Toiletten für Transgendermenschen geben sollte, hat die Frage, wie Menschen sich mit 416 Euro durchschlagen sollen, aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Über Öffentlichkeit verfügt ohnehin lediglich der liberale, urbane Mittelstand, der Unterschicht blieb bloss, als white trash verhöhnt zu werden. Hillary Clinton musste zugeben, dass ihr «basket of deplorables» sie die Wahl gekostet hat.

Man muss der Unterschicht Gehör schenken, sonst verschafft sie es sich selbst. Gewalttätig. Tatsächlich führt die unkontrollierte Zuwanderung zu Verteilkämpfen – Mietzinssteigerung, Lohndruck –, deren Preis diejenigen zahlen, die verhöhnt werden. So ist es mehr als verständlich, dass sich die Unterschicht von der Politik im Allgemeinen und von der Linken im Besonderen nicht mehr vertreten fühlt und sich Figuren wie Donald Trump oder Bewegungen wie der AfD zuwendet. Donald Trump sei die Handgranate, die die Abgehängten ins System geschmissen hätten, sagt Michael Moore.

Gegen dieses Argument, das in den USA auch von Richard Rorty und Marc Lilla vorgebracht wurde, ist wenig einzuwenden. Allerdings sollte das Verständnis nicht allzu weit getrieben werden: Die Fremdenfeindlichkeit wird durch diese Überlegungen überhaupt nicht verständlich. Die Deklassierung der Arbeiterklasse hat nichts mit der Zuwanderung zu tun. Es sind nicht die Fremden, die die Mietzinse erhöhen oder die Löhne drücken. Es sind nicht die Fremden, die um des Fetischs des Sparens willen die Infrastruktur und das Bildungssystem verkommen lassen. Es sind nicht die Fremden, die Kinder trotz Steuerüberschüssen in Armut leben lassen. Es ist das Kapital, das, wie einst im Kolosseum, vergnügt schaut, wie die Deklassierten sich gegenseitig zerfleischen.

Die Krux mit den Menschenrechten

Neben diesen empirischen führen die linken Populisten auch theoretische Argumente ins Feld. Nirgends auf der Welt würden die Menschenrechte tatsächlich eingehalten, und in den meisten Ländern würden sie sogar eklatant verletzt. Unter anderem deshalb, weil es keine Instanz gibt, die sie durchsetzt. Von den wenigen Ländern, die einigermassen rechtsstaatlich funktionieren, zu verlangen, sie sollten sich die Menschenrechtsverletzungen der ganzen Welt aufbürden, ist schlichter Irrsinn und höhlt die Akzeptanz der Menschenrechte aus. Wer die Menschenrechte absolut setzt und an die Definition der Demokratie bindet, gerät darüber hinaus zu anderen legitimen Rechten in Widerspruch, zum Beispiel zum nationalen Selbstbestimmungs­recht. Wenn die Österreicher oder die Ungarn keine Einwanderung wollen, so gibt es keinen rationalen Grund, ihnen dieses Recht abzusprechen.

Dahinter steckt die Vorstellung, dass es in unserer Zeit nichts Unverhandelbares mehr gibt, weil keine Instanz es verkünden und garantieren kann. Gott, der bis ins 17. Jahrhundert diese Funktion innehatte, ist bekanntlich tot. Die Natur, von der Rousseau noch glaubte, dass man in ihr das «Wesen des Menschen» ablesen könne, hat ihre normative Funktion weitgehend eingebüsst – ausser in der Kosmetikwerbung. Die Metaphysik hat ihre Suche nach Letztbegründungen wegen schlechter Sichtverhältnisse längst abgebrochen.

Es gibt keine übergeordnete Instanz, es gibt lediglich unterschiedliche Rechte, unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Kontexte, die miteinander in Konflikt geraten: Religionsfreiheit versus Geschlechtergerechtigkeit, Menschenrechte versus Selbstbestimmung, das Recht auf Selbstschutz versus Achtung der Menschenwürde. Wer auf die Unverhandelbarkeit der Menschenrechte pocht, ist Kulturimperialist.

Bleibt die Hoffnung

Wie antwortet die Salonlinke auf die Argumente der linken Populisten? Womit kann sie die absolute Unverhandelbarkeit der Menschenrechte verteidigen? Und zwar aller Menschen, auch krimineller, ungebildeter und machistischer Menschen? Keine übergeordnete Instanz ist in Sicht, welche Konflikte entscheiden und Werte setzen könnte. Schon gar nicht das ominöse «christliche Abendland», das auch Hexenverbrennungen gedeckt hat. Auch nicht «die Aufklärung», denn sie kann auch Totalitarismus rechtfertigen, wie man bei Thomas Hobbes nachlesen kann.

Tatsächlich gibt es nur schwache Argumente gegen die fortschreitende Erosion der Menschenrechte – und der Menschlichkeit. Zwar kann man mit guten Gründen für die Notwendigkeit von Unverhandelbarem eintreten, aber niemand kann mit guten Gründen bestimmen wollen, was unverhandelbar ist.

Wahrscheinlich bleibt deshalb nichts anderes übrig, als den Weg zu gehen, den Rousseau vor mehr als 200 Jahren eingeschlagen hat: «Et justement, la paix que m’offre la nature me permet d’écouter la voix de mon cœur et au fond de ce cœur, j’entends la voix de la nature» («Das ist es genau: Der Friede, den die Natur mir schenkt, erlaubt es mir, auf die Stimme meines Herzens zu hören, und im Grunde meines Herzens höre ich die Stimme der Natur»).

Die Stimme des Herzens und die Stimme der Natur sind Rousseaus Chiffren für ein unmittelbares Wissen darum, was richtig und anständig ist. Ein Wissen, das sich aus der Zugehörigkeit jedes Einzelnen zur Menschheit speist und durch starke Argumente und scharfe Analysen eher verdeckt als gefördert wird. Rousseau plädiert mit anderen Worten für schwache Argumente: Wir müssten hoffen, meint er, dass Menschen den inneren Antrieb haben, die Menschenrechte nicht nur in Anspruch zu nehmen, wenn sie sie nötig haben, sondern sie auch bei anderen zu respektieren – weil alle der Menschheit angehören. Eine schwache Hoffnung.

Illustration: Michela Buttignol

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