Postnatale Repression

Vielerorts wurde in der Schweiz die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere verbessert. Nur in den kantonalen Parlamenten nicht.

Von Adelina Gashi und Isabelle Schwab, 21.09.2018

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Sibylle Marti ist 38, gerade Mutter geworden, Kantonsrätin und damit eine Ausnahmeerscheinung. Zumindest, wenn es nach dem Ratsgesetz im Kanton Zürich geht: Parlamentarierin sein und gleichzeitig Kinder kriegen – das ist in der Ordnung des kantonalen Legislativkörpers nicht vorgesehen. Wer es als Frau trotzdem versucht, muss diverse Einschränkungen in Kauf nehmen.

Etwa finanzieller Art: Wer im Zürcher Kantonsrat wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft ausfällt, wird gleich behandelt wie jemand, der krank ist. Die Sitzungsgelder werden gestrichen. Das fällt ins Gewicht: 200 Franken werden pro Sitzung und Halbtag ausbezahlt. Der Zürcher Kantonsrat tagt wöchentlich – ausser in den Schulferien. Ein Arbeitspensum im Kantonsrat wird mit 25 bis 30 Prozent beziffert, pro Jahr werden im Mittel 16’200 Franken ausbezahlt. Nur einen kleinen Teil davon, 4000 Franken, erhalten die Ratsmitglieder unabhängig von ihrer Sitzungspräsenz.

Sibylle Marti, die für die SP politisiert, fühlt sich im Vergleich zu Männern benachteiligt. «Das System ist nicht auf Frauen ausgerichtet und veraltet.» Bei den Sitzungsgeldern handle es sich um Entschädigungen und keine eigentlichen Löhne, obwohl das Sitzungsgeld in steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht wie ein Lohn behandelt werde.

Darum sei es wichtig, dass der Kanton längere Ausfälle wie den Mutterschaftsurlaub endlich besser regle. Nicht nur des Geldes wegen, sondern auch, um die demokratischen Interessen zu wahren. Denn Frauen im Mutterschaftsurlaub müssten an den Ratssitzungen teilnehmen können, ohne dass ihnen eine Kürzung der Mutterschaftsentschädigung drohe.

Das Problem im Zürcher Kantonsrat ist, dass es zum Mutterschaftsurlaub überhaupt keine Bestimmungen gibt. Moritz von Wyss, Leiter der Parlamentsdienste, sagt, dass damit der Verwaltungsaufwand minimiert werde. Entweder nimmt ein Politiker an Sitzungen teil – oder eben nicht.

Administrative Spiessrutenläufe

Im Bundesparlament gibt es klare Bestimmungen zum Mutterschaftsurlaub. Dort wird Taggeld in jedem Fall ausbezahlt – für jeden Sitzungstag im In- und Ausland; auch bei Krankheit, Unfall und Mutterschaft. In vielen Kantonen ist das nicht so. Das schafft Probleme, die nicht nur mit Geld zu tun haben, sondern mit der generellen Vereinbarkeit von Kind und Karriere.

Als Lea Schmidmeister, Grossrätin im Kanton Aargau, letzten Herbst vom Parlamentsdienst wissen wollte, wie es mit dem Schwangerschaftsurlaub aussehe, schlug ihr Ratlosigkeit entgegen: «Eine Grossrätin im Schwangerschaftsurlaub? Das hatten wir noch nie», hiess es. Schmidmeister wurde an die kantonale Sozialversicherungsanstalt verwiesen. Später sollte es ein Infoblatt für Mütter geben, der Parlamentsdienst ist es bis heute schuldig geblieben.

Richtig kompliziert wurde es im September, sechs Wochen nach der Geburt ihres Kindes: Bei der Abstimmung zu einem neuen Stipendiengesetz wurde es für ihre Partei knapp. Jede Stimme wurde gebraucht. Schmidmeister entschied sich, trotz Mutterschaftsurlaub an der Abstimmung teilzunehmen – und riskierte damit ihre gesamte Mutterschaftsentschädigung. Denn das politische Amt gilt als Nebenerwerb: Die Teilnahme an einer Sitzung kommt gesetzlich gesehen der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit gleich.

Schmidmeister konnte dies umgehen, indem sie nicht an der Diskussion teilnahm, sondern lediglich zur Abstimmung erschien. Und damit auch auf das Sitzungsgeld verzichtete. Dies – und die Kulanz der Sozialversicherungsanstalt – hat der SP-Politikerin sowie ihrer Kollegin Kim Schweri von den Grünen, die sich in derselben Situation befand, die Teilnahme an der Abstimmung ermöglicht.

Ganz so glimpflich geht es nicht immer aus. Und so scheuen sich andere Politikerinnen, über die Problematik zu reden: Sie haben Angst, dass ihnen nachträglich die Mutterschaftsentschädigung abgesprochen werden könnte.

Was Schmidmeister widerfahren ist, hat sich nach Recherchen der Republik ähnlich auch in Luzern, Bern und Basel-Stadt ereignet. Mütter werden kaum informiert, nehmen an Sitzungen oder Abstimmungen teil und setzen damit die Mutterschaftsentschädigung aufs Spiel. Und zwar nicht nur für ihren politischen Nebenerwerb, sondern sogar für ihre Hauptbeschäftigung.

Maria Pilotto, Grossstadträtin der SP Luzern und Fachspezialistin für Gleichstellung, sieht darin eine Diskriminierung. «Ich würde es befürworten, dass Parlamentarierinnen auch während des Mutterschaftsurlaubs ihr Amt ausüben können – wenn sie das denn wollen. Immerhin geht es hier um die Umsetzung des Wählerinnenwillens, und dieser ist nicht delegierbar.»

Anderer Meinung ist Andrea Geissbühler: Die SVP-Nationalrätin findet, dass Abwesenheiten zum Parlamentsalltag dazugehören. «Andere fehlen aufgrund von Krankheit oder Unfall. Da gibt es auch keine Sonderregelung.» Werdende Mütter müssten sich darauf einstellen und sich mit ihren Parteien und den Parlamentsdiensten absprechen. Eine nationale Vereinheitlichung des Mutterschaftsurlaubs für Kantonsparlamente hält sie nicht für nötig.

Fehlende Stellvertretungen

Viele Parlamentarierinnen haben den Eindruck, dass die Mutterschaft für ihr Amt nicht vorgesehen ist. Das äussert sich auch in Details wie fehlenden Stillräumen und Wickeltischen. Gleichstellungsexpertin Pilotto findet, dass die Parlamente ein Zeichen setzen und für familienfreundlichere Einrichtungen sorgen könnten: «Das würde zeigen, dass Politikerinnen auch andere Verpflichtungen haben.» Sonst bleibe das Parlamentarierdasein in erster Linie auf traditionelle Lebensläufe und auf männliche Biografien zugeschnitten.

Für manche jungen Politikerinnen beginnen die Schwierigkeiten, bevor sie überhaupt in ein Gemeinde- oder Kantonsparlament gewählt werden. Denn die Parteien würden sich scheuen, Schwangere auf die Listen zu setzen, sagt Alexandra Dill, selbst junge Mutter und SP-Grossrätin aus Basel-Stadt – wenn sie wüssten, dass diese Frauen ihr Stimmrecht während Monaten nicht wahrnehmen könnten.

Um solche Probleme zu entschärfen, sollten Frauen in der Mutterschaft einen Stellvertreter delegieren können, findet Barbara Wegmann, Basler Grossrätin für die Grünen. Sie hat im Frühling einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. «Frauen werden unter Druck gesetzt, so bald wie möglich ins Parlament zurückzukehren», sagt sie. Der Basler SVP-Grossrat Pascal Messerli kann dies nachvollziehen. Mütter sollten nicht benachteiligt werden. «Eine Stellvertreterregel macht Sinn, weil sie die demokratischen Rechte schützt.»

Bürgerliche Parteien befürchten, dass damit das Tor geöffnet wird für eine generelle Stellvertretungsregel. Eine solche Regel wurde im Berner Stadtrat vor einem Jahr in einer Motion angeregt, allerdings ohne Erfolg. Auch der Grosse Stadtrat von Luzern hat einen ähnlichen Vorstoss abgelehnt – Stellvertretungen seien vom Gesetz nicht vorgesehen.

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