Chemnitz, wie hast du’s mit der Schweiz?

In Sachsen zeigt sich, was passieren kann, wenn der Populismus von SVP und AfD auf echte Wut trifft. Auch sonst gibt es mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Von Charlotte Theile, 10.09.2018

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Rechter Aufmarsch in Chemnitz mit plakativer Inspiration aus der Schweiz: Eine Demonstration gegen Migranten nach einer tödlichen Messerattacke in der sächsischen Stadt. Sean Gallup/Getty Images

Etwas mehr als eine Woche ist es her, dass im sächsischen Chemnitz ein Trauermarsch stattfand. Die örtliche AfD und das rechte Bürgerbündnis Pro Chemnitz hatten zu der Veranstaltung aufgerufen. Anlass war, dass wenige Tage zuvor ein 35-jähriger Deutscher mit kubanischen Wurzeln erstochen wurde. Dringend tatverdächtig: zwei Asylbewerber.

Neben verunsicherten Chemnitzerinnen und organisierten Rechtsradikalen aus ganz Deutschland lief dort ein Mann mit, dessen spöttisches Lächeln in der Schweiz fast jedes Kind kennt: «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel.

Der Schweizer war gerade auf der Durchreise nach Berlin, wo er bei einer Preisverleihung auch auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) treffen sollte. Köppel, der mit Kugelschreiber und Notizblock deutlich machen wollte, dass er nicht als SVP-Politiker, sondern als Journalist nach Chemnitz gereist war, fühlte sich im Trauermarsch sichtlich wohl. Er veröffentlichte Selfies und fragte heiter in die Runde: «Wer ist hier rechtsextrem? Gibts hier einen Rechtsextremen?»

Am Schluss stellte Köppel fest: Es gebe in Chemnitz zwar vereinzelt Rechtsextreme, diese seien aber «weder repräsentativ, noch bedeuten sie eine Gefahr für den deutschen Staat».

Seine Reise brachte Köppel noch eine andere Erkenntnis: Die Sachsen, die in Deutschland tatsächlich seit Jahren mit unverhältnismässigen Verallgemeinerungen und billigem Spott überschüttet werden, seien den Schweizern ziemlich ähnlich. Genauso freiheitsliebend, sparsam, pünktlich und genau. Wer Köppel kennt, weiss: Ein grösseres Lob gibt es nicht.

Gewalt, Frust und Hohn

Vielen Schweizern dürfte es bei diesem Vergleich unwohl werden. Die Aufnahmen aus Chemnitz zeigten Demonstranten, die «für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer» forderten, Menschen auf der Strasse bedrohten und die Regierung in Berlin mit ihren eigenen Händen absetzen wollten.

Mit diesen Radikalen, Unzufriedenen hat die Schweiz auf den ersten Blick wenig zu tun. Gewalt gegen Andersdenkende, brennende Asylbewerberheime oder auch nur die rohe, brutale Sprache, die man von deutschen Neonazis kennt, haben in der Schweiz zum Glück nur in deutlich geringem Masse Einzug gehalten. Etwas aber hat Sachsen mit der Schweiz gemeinsam: Es wählt Rechtspopulisten. Umfragen zufolge planen 25 Prozent der Sachsen, bei den kommenden Landtagswahlen ihr Kreuz bei der AfD zu machen.

Die Partei nimmt in ihrem Programm mehrfach Bezug auf «das Schweizer Vorbild», ihre Verantwortlichen schwärmen von den provokanten Kampagnen der SVP. Auch die politischen Forderungen gleichen sich: weniger Rechte für Ausländer, weniger Europa, härtere Polizei, weniger Staat, traditionelle Werte.

Der SVP ist es mit diesem Programm gelungen, das Schweizer Parteiensystem zunächst aufzurütteln und dann zu dominieren. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist sie die stärkste politische Kraft in Bern, sie liegt konstant bei knapp einem Drittel der Stimmen. Keine andere rechtspopulistische Partei in Europa kann einen derart beständigen Erfolg vorweisen.

In Sachsen ist die Lage eine andere: Rechte und rechtsextreme Parteien schafften es in den drei Jahrzehnten seit dem Mauerfall immer wieder ins Landesparlament. Die meisten gingen aber nach wenigen Jahren an inneren Streitigkeiten zugrunde. Der Rest Deutschlands nahm die Erfolge überrascht, irritiert zur Kenntnis. In regelmässigen Abständen fragte man sich, vor allem im Westen des Landes, was da eigentlich los sei, in diesem Freistaat an der Grenze zu Tschechien und Polen.

Besonders weit kam man in diesen Fragen nicht: Meist sinnierte irgendein Professor über Arbeitslosigkeit, Frust und abgewanderte junge Menschen. Eingeblendete Statistiken belegten, dass es gerade dort, wo gegen Ausländer Politik gemacht wurde, kaum Ausländer gebe.

Einige Passanten schimpften bei Strassenumfragen in Dresden ins Mikrofon. Die Moderatorinnen gaben sich Mühe, keine Scherze über den sächsischen Akzent zu machen, dafür waren schliesslich die Satiresendungen zuständig – und die waren sich auch selten zu schade, darauf hinzuweisen, dass man einen Teil von Sachsen zu DDR-Zeiten als «Tal der Ahnungslosen» bezeichnet hatte, einfach weil das Westfernsehen dort nicht mehr überall zu empfangen war.

Das gegenseitige Unverständnis wuchs. Manche Sachsen fühlten sich Berlin bald ebenso fern wie die Schweizer beim Blick auf Brüssel. Einige sahen eine fremde bis feindliche Macht am Werke, die in ihren Angelegenheiten nichts zu suchen hatte.

Spätestens seit dem Herbst 2014, als in Dresden die Pegida-Demonstrationen begannen, wurde diese Entfremdung für jeden sichtbar. Die AfD, zunächst als Partei eurokritischer Intellektueller gegründet, wurde zum Sprachrohr dieses Protests.

Schweizer haben keinen Anlass wütend zu sein

Die Schweiz war von Beginn an Vorbild von Pegida und AfD. Als konservatives, selbstbestimmtes Land wurde sie vielen Rechten zum Sehnsuchtsort. Doch anders als viele deutsche Protestwähler haben Schweizer keinen Grund, wütend zu sein oder auszurasten. Im Gegenteil. Fast alle Schweizer leben in dem Bewusstsein, es, alles in allem, ziemlich gut getroffen zu haben. Jeder weiss, dass der hiesige Lebensstandard einer der höchsten auf der Welt ist. Der Vergleich mit Nachbarländern stimmt fast immer frohgemut und dankbar.

In Ostdeutschland dagegen sorgen Vergleiche mit benachbarten Regionen oft für schlechte Laune. Dazu kommen die biografischen Brüche, die fast jeder im Osten erlebt hat: Viele Ostdeutsche mussten Anfang der 1990er-Jahre die Erfahrung machen, dass ihre Ausbildungsberufe oder Arbeitgeber plötzlich nicht mehr existierten, sich nur Hunderte Kilometer von der Familie entfernt Arbeit finden liess. Manch einer wurde von Investoren übers Ohr gehauen oder schlicht respektlos behandelt. Das unbestimmte Gefühl von Ungerechtigkeit, das viele empfinden, geht Westdeutschen nicht selten als «ewiges Gejammer» und pauschale Wut gegen «die da oben» auf die Nerven.

Wenn Rechtspopulisten nun davon sprechen, sich nicht mehr von Obrigkeiten hinters Licht führen zu lassen, wirkt das in Chemnitz oder Dresden völlig anders als in einer aargauischen Mehrzweckhalle. Auf einer beschaulichen SVP-Veranstaltung können die Tiraden über Ausländer und «die da oben» vielleicht ein Ventil sein. Im Gespräch mit SVP-Politikern heisst es immer, sie gäben der Bevölkerung die Möglichkeit, Dampf abzulassen, ihrem Ärger Luft zu machen, nach einem solchen zünftigen Abend gehe es besser. Ob das funktioniert, sei dahingestellt.

Manches spricht dafür, dass man die Aggression sehr wohl mit nach Hause trägt, noch Tage später aufgeheizt über «Sozialschmarotzer» aus dem Ausland und Simonetta Sommaruga herzieht. Im Osten Deutschlands wirken solche Reden nicht als Ventil, sondern als Brandbeschleuniger.

Die Gewaltausbrüche in Sachsen zeigen auch, was passiert, wenn sprachliche Gewalt auf echte Wut trifft.

Radikale Politik mit freundlichem Gesicht

Der Erfolg der SVP liegt vor allem in ihrem bürgerlichen Image begründet. Obwohl die Partei immer wieder radikal rechte Politik gemacht hat, Minarette verbieten liess und aktuell versucht, die Schweiz aus der europäischen Menschenrechtskonvention zu lösen, hatte die Partei stets auch ein freundliches Gesicht. Bodenständig, engagiert, traditionsbewusst. Vielen gelten die Politiker der SVP heute als ganz normale, konservative Leute, deren Anspruch, sich für die Schweiz starkzumachen, nichts Bedrohliches hat.

Ein Image, an dem sich die deutsche AfD bisher vergebens abgearbeitet hat. Deren Spitzenpolitikerin Alice Weidel, die mit Frau und Kindern in Biel lebt, hat es 2017 so beschrieben: Sie wünsche sich, dass die AfD zur «deutschen SVP» wird. Seither ist eher das Gegenteil passiert: Die Radikalen in der Partei geben immer mehr den Ton an.

Und Weidel, die einst einen bürgerlich-gemässigten Flügel vertrat, wird den Rechtsradikalen in der Partei in Sprache und Haltung immer ähnlicher. Mit Eskalationen wie in Chemnitz rückt dieses Ziel in noch weitere Ferne. Statt staatstragend wirkte die AfD in den vergangenen Wochen eher wie die Pressestelle der gewalttätigen Strassendemonstrationen. Der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland fand es «normal, dass Menschen ausrasten», ein AfD-Abgeordneter aus Baden-Württemberg proklamierte Selbstjustiz: «Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Strasse und schützen sich selber.»

Seither fordern Politiker von CDU, SPD und Grünen, die im Bundestag vertretene Partei vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. In Thüringen, wo die AfD als besonders stramm rechts gilt, soll das nun geschehen. Für das rechtsbürgerliche Milieu in Deutschland dürfte das ziemlich abschreckend sein.

Die «Neue Zürcher Zeitung» bemüht sich seit einiger Zeit verstärkt um dieses Milieu, richtete vor einem Jahr sogar eine Aussenstelle in Berlin ein. Dieses Büro gab der AfD kürzlich einen strategischen Rat: Wer «von den Rändern her politisiert», tue gut daran, deutliche Abgrenzungen vorzunehmen. Nur so werde man als demokratische Kraft wahrgenommen. Ein Hinweis, der jahrelange Schweizer Erfahrung erkennen lässt. Schliesslich ist es auch diese konsequente Abgrenzung gegen radikale und gewaltbereite Kräfte, die den Erfolg der SVP möglich gemacht hat.

Die Gegenbewegung: Am 2. September demonstrierten Menschen in Chemnitz gegen Rassismus und Gewalt gegen Migranten. Filip Singer/EPA/Keystone

Wer politische Debatten in Deutschland und der Schweiz verfolgt, weiss, wie unterschiedlich Diskussionskulturen sein können. Während Kritik in der Schweiz meist vorsichtig und ein bisschen versteckt daherkommt, geht man in Deutschland gerne mal aufs Ganze. Dass einer dem anderen vorwirft, ein Nazi zu sein, kommt in der Schweiz so gut wie nie vor. In Deutschland ist der Faschismus-Vorwurf Kennzeichen jeder lebhaften Auseinandersetzung; eine Talkshow, bei der noch nie ein Gast empört aus dem Studio gestürmt ist, hat keine Relevanz.

In der Schweiz gehen die Dinge ruhiger und anständiger vonstatten. Das ist zwar angenehm, führt aber gelegentlich dazu, dass man Themen jahrzehntelang diskutiert – und immer wieder zu den gleichen höflichen, unvollständigen Ergebnissen gelangt.

Eine deutsche Debatte wird meistens zu laut und zu grundsätzlich geführt. Innerhalb weniger Wochen machen Themen Karriere, werden zu nationalen Aufregern, zu denen sich jeder Politiker, jeder Feuilletonist, schliesslich auch Bundeskanzlerin und Bundespräsident äussern müssen. Das ist anstrengend, schafft aber auch schnelle Ergebnisse.

Die Zukunft Deutschlands wird im Osten verhandelt

Am 3. September, nur eine Woche nach dem Tod des 35-jährigen Sachsen, der zeitlebens keine Sympathie für rechte Politik erkennen liess und wegen seiner dunklen Hautfarbe sogar mehr als einmal in Konflikt mit Neonazis gekommen war, fand in Chemnitz ein Konzert statt.

«Weltwoche»-Verleger Roger Köppel war zu dem Zeitpunkt längst abgereist, in seinen Sachsen-Tagebüchern wird die Veranstaltung mit keinem Wort erwähnt.

Das ist bedauerlich. Anders als der nach wenigen hundert Metern abgesagte «Trauermarsch» der AfD, bei dem Köppel fröhlich-naiv nach Rechtsextremen gerufen hatte, lässt dieses Konzert, zu dem bekannte deutsche Künstler spontan aufgerufen hatten, tatsächlich grundsätzliche Erkenntnisse zu: Nein, im Osten Deutschlands leben nicht nur wütende Rechtsradikale. Von den 65’000 Besuchern, die sich unter dem Motto «Wir sind mehr» zusammengefunden hatten, kamen sehr viele aus der Region: Es waren junge Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus und Gewalt positionieren wollten.

Wer nicht nach Chemnitz reiste, etwa weil es von München oder Hamburg doch eine weitere Anreise gewesen wäre, verfolgte das Konzert auf dem Bildschirm. Auch in dem Wissen: Die Zukunft Deutschlands wird zu einem wesentlichen Teil im Osten verhandelt.

Oder wie es ein junger Deutscher aus dem Urlaub schrieb: «Hätte wohl niemals gedacht, dass ich mal in Italien sitze und denke: verdammt, jetzt wär ich gerne in Chemnitz.»

Charlotte Theile

Charlotte Theile, geboren 1987, deutsch-schweizerische Doppelbürgerin, ist seit Oktober 2014 Korrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» für die Schweiz. Von Zürich aus berichtet sie über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie studierte in Aachen und Bern Politik und Volkswirtschaft. 2017 veröffentlichte sie ein Sachbuch unter dem Titel: «Ist die AfD zu stoppen? Die Schweiz als Vorbild der neuen Rechten».

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