«Wir brauchen einen Populismus von links»

Chantal Mouffe ist die Grand Old Lady der postmarxistischen Politiktheorie. Sie warnt vor dem Rechtspopulismus – und kritisiert den Widerstand der Linken gegen politische Affekte.

Interview von Daniel Binswanger (Text) und Till Janz (Bilder), 08.09.2018

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«Ich glaube nicht, dass es zu viel Leidenschaft und Emotionen in der Politik gibt»: Chantal Mouffe.

Sie ist wohl die einflussreichste Linksintellektuelle der heutigen Zeit. Mit Iñigo Errejón, dem Strategiechef von Podemos, hat sie ein Buch herausgegeben, sie ist im Gespräch mit Jean-Luc Mélenchon, dem Leader der französischen Partei La France insoumise, sie hat Beziehungen zur deutschen Linken.

Vor allem aber ist Chantal Mouffe die Autorin eines bedeutenden akademischen Werks. Gemeinsam mit Ernesto Laclau, ihrem verstorbenen Ehemann, gab sie einen entscheidenden Impuls zur Erneuerung des Postmarxismus. 1985 publizierten sie die inzwischen zum Klassiker gewordene Studie «Hegemonie und radikale Demokratie», in der sie die marxistische Klassenkampftheorie verabschieden. Stattdessen stellen sie die These auf, dass bei politischen Auseinandersetzungen weniger die ökonomischen Machtverhältnisse entscheidend sind als die ideologische Herrschaft über den Diskurs. Sie stellen deshalb die Forderung nach Demokratisierung ins Zentrum des linken Projekts.

In zahllosen Publikationen hat sich Chantal Mouffe seither mit den Grundlagen der politischen Philosophie auseinandergesetzt – mit der französischen Dekonstruktion, mit liberalen Denkern wie Jürgen Habermas und John Rawls, mit der Liberalismuskritik von Carl Schmitt.

Ihr neues Buch heisst: «Für einen linken Populismus» (eine Leseprobe finden Sie hier). Die deutsche Ausgabe erscheint am Montag, und kontroverse Debatten sind programmiert. Die Republik hat Chantal Mouffe in London, wo sie an der University of Westminster lehrt, zu einem ausführlichen Gespräch getroffen – über Liberalismus und Demokratie, Rechts- und Linkspopulismus sowie Globalisierung und Migration.

1. Liberalismus und Demokratie

Die Schweiz ist ein Land, das stolz darauf ist, zwei politische Traditionen auf herausragende Weise zu leben: die Demokratie, die als direkte Demokratie sehr bürgernah ist, und den Liberalismus, der seit der Gründung des Bundesstaats 1848 das politische Leben prägt. Demokratie und Liberalismus bilden ein Stück weit das Fundament unserer politischen Identität. Sie aber sagen, dass Demokratie und Liberalismus in einem Spannungsverhältnis stehen.
Sie stehen in einem Spannungsverhältnis, und sie gehören eigentlich nicht zusammen. Im Europa des 19. Jahrhunderts haben Liberale und Demokraten zwar gemeinsame Kämpfe ausgetragen, da sie beide den überkommenen Absolutismus als Gegner hatten. Aber diese Allianz war an den spezifischen Kontext gebunden, sie stellt keine Gesetzmässigkeit dar. Deshalb ist auch nicht richtig, wenn gesagt wird: Länder, die sich demokratisieren wollen, müssen notwendigerweise den Weg der pluralistischen liberalen Demokratie gehen, so wie sie im Westen bestimmend ist. Wenn es darum gehen soll, dass sie sich demokratisieren, kann dies auch geschehen, ohne dass sie sich den Werten des politischen Liberalismus verpflichten.

Worin gründet dieses Spannungsverhältnis?
Um es verkürzt zu sagen: Im Zentrum des politischen Liberalismus steht der Wert der individuellen Freiheit. Im Zentrum der Demokratie steht der Wert der Gleichheit, Gleichheit der politischen Rechte, Gleichheit der Partizipationsmöglichkeiten, Gleichheit der politischen Einflussmöglichkeiten. Das sind die beiden Grundwerte, um die sich alles dreht, und es ist nicht möglich, sie beide gleichzeitig vollständig zu realisieren. Es gibt zwischen Freiheit und Gleichheit immer das, was ich eine agonistische Spannung nenne.

Aber Liberalismus und Demokratie haben gelernt, miteinander zu leben.
C. B. Macpherson, der ein wichtiges Buch über die unterschiedliche Herkunft des Liberalismus und der modernen Demokratie geschrieben hat, formuliert es folgendermassen: Im 19. Jahrhundert hat sich der Liberalismus demokratisiert, und die Demokraten sind liberal geworden. Aber es gab immer Konflikte, man kann die beiden Traditionen nicht vollständig miteinander versöhnen. Genau das ist das Wesen einer pluralistischen, modernen Demokratie: dass diese Konflikte immer wieder neu ausgehandelt werden müssen, dass es zu wechselnden Phasen der Dominanz von liberalen oder demokratischen Werten kommt. Es kann aber auch geschehen, dass die Spannung zwischen den beiden Werteordnungen zu einer Explosion führt, dass ein unüberwindbarer Gegensatz zwischen Demokratie und Liberalismus entsteht.

Und am Punkt einer potenziellen Explosion stehen wir jetzt?
Das scheint mir evident.

Und deshalb haben wir nun zum Beispiel in Ungarn eine Demokratie, die sich ausdrücklich als illiberal bezeichnet?
Zum Beispiel. Aber ich bin absolut nicht mit der These von Jan-Werner Müller einverstanden, der in «Was ist Populismus?» die Ansicht vertritt, dass eine illiberale Demokratie ein Widerspruch in sich ist. Es handelt sich hier um eine spezifisch europäische Blindheit. Illiberale Demokratien sind sehr wohl möglich. In Lateinamerika, das ich gut kenne, gab es immer wieder Perioden, wo Liberale an der Macht waren, die absolut nicht demokratisch waren, und es gab Regimes, die zwar demokratisch, aber keinesfalls liberal waren.

Aber das heisst nicht, dass eine illiberale Demokratie eine gute Sache ist?
Die Europäer hätten gute Gründe, sich gegen Orban zu stellen, aber sie sollten sagen: Im Rahmen unserer europäischen Wertevorstellungen ist eine illiberale Demokratie nicht legitim. Es ist etwas anderes zu sagen, eine illiberale Demokratie sei ein Widerspruch in sich und könne deshalb gar nicht funktionieren. Das ist naiv.

Warum ist heute die Spannung zwischen Demokratie und Liberalismus wieder explosiv geworden?
Eine zentrale Rolle spielt die Migrationsfrage. Dass die Migration in praktisch allen europäischen Ländern die politische Agenda beherrscht, ist für niemanden ein Geheimnis, aber weniger offensichtlich ist der Grund, weshalb die Migration ein so fundamentales Sprengpotenzial hat: Sie verschärft das Spannungsverhältnis, auf dem pluralistische Demokratien aufbauen, sie erzeugt einen heftigen Konflikt zwischen Demokratie und Liberalismus.

Können Sie das ausführen?
Gemäss der liberalen Logik im strikten Sinn müssen Grenzen offen sein und darf es letztlich keine Grenzen geben. Der fundamentale Referenzrahmen sind die individuelle Freiheit, die allen Erdenbürgern zusteht, und die Gültigkeit der Menschenrechte für die ganze Menschheit. Die demokratische Logik jedoch hat mit diesen Formen des kosmopolitischen Universalismus im Grunde nichts am Hut. Eher im Gegenteil: Da es in einer Demokratie um die Herstellung politischer Gleichheit und um Volkssouveränität geht, wird sie die Neigung haben, Grenzen zu ziehen und Fremde auszuschliessen, in welcher Form auch immer.

Was heisst das konkret?
Nun, wir erleben es ja immer wieder. In der Migrationspolitik wird über verschiedene Formen der Offenheit gestritten, das liberale Prinzip würde Öffnung und Freizügigkeit gebieten, aber dann gibt es einen Volksentscheid, der zum Ausdruck bringt, dass die Mehrheit diese Freizügigkeit nicht will. Und dann stellt sich in einer liberalen Demokratie die Frage: Was ist jetzt wirklich legitim?

Es gibt aber unverhandelbare Prinzipien in einer liberalen Demokratie wie die Menschenrechte.
Im Grundsatz ja. Es muss diese Basis geben in einer pluralistischen Demokratie. Aber ich halte zum Teil die Kritik des Rechtsphilosophen Carl Schmitt am politischen Liberalismus für berechtigt. Schmitt sagt: Der Liberalismus ist unfähig, das Politische zu erfassen. Der Liberalismus spricht in Begriffen der Menschlichkeit und orientiert sich insofern an der ganzen Menschheit. Aber «die Menschheit» ist kein politischer Begriff, denn in der Politik geht es immer darum, eine Grenze zu ziehen, eine Grenze zwischen einer kollektiven Identität, einem «Wir» und einem «die anderen». Das ist der Kern der Freund-Feind-Unterscheidung, die nach Schmitt das Wesen der Politik ausmacht.

Und wo hat Schmitt unrecht?
Schmitt sagt: Weil die Freund-Feind-Unterscheidung den Kern des Politischen bestimmt, führt die pluralistische Demokratie notwendig in den Bürgerkrieg. Wenn es innerhalb eines Staates zahlreiche Parteien mit gegensätzlichen Programmen gibt, werden sie sich schliesslich blutig bekämpfen. Das ist nicht richtig. Der demokratische Pluralismus hat sich durchgesetzt, weil es möglich ist, Konflikte auf symbolische Weise zu inszenieren, auszuhandeln und innerhalb demokratischer Institutionen auszutragen. Allerdings ist es nicht möglich – und hier stehe ich Schmitt näher als liberalen Philosophen wie Habermas oder Rawls –, einen rationalen Konsens zu finden. Der unüberwindbare Antagonismus ist tatsächlich das Wesen des Politischen. Deshalb braucht es einen permanenten Aushandlungsprozess, der allerdings die Formen der pluralistischen Demokratie annehmen kann. Aber auch die Menschenrechte sind dieser Spannung nicht entzogen. Es gibt einen permanenten Kampf um ihre Deutung, darüber, wie weit sie reichen und wie sie zu interpretieren sind.

Liegt nicht genau hier eines der fundamentalen Probleme des Rechtspopulismus? Dass er die Spielregeln des demokratischen Austragens von Gegensätzen infrage stellt?
Ohne einen Basiskonsens kann man keine politische Gemeinschaft bilden, sicher. Um eine demokratische Auseinandersetzung führen zu können, muss man sich auf eine ethisch-politische Praxis einigen, die im Wesentlichen auf den Pfeilern der Freiheit und der Gleichheit beruht, die allen garantiert sein müssen. Aber es ist offensichtlich, dass es extrem unterschiedliche Arten gibt, Freiheit und Gleichheit zu interpretieren. Letztlich sind auch diese Grundwerte das Kampffeld, auf dem verschiedene Parteien eine hegemoniale Interpretation durchsetzen wollen. Auch die Spielregeln der Demokratie sind ständig stark umkämpft.

Doch wenn die Spielregeln fundamental infrage gestellt werden, wird es problematisch.
Es gibt in Frankreich eine interessante Debatte darüber, ob Marine Le Pen mit ihrem Rassemblement national, wie der einstige Front national jetzt heisst, die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen respektiert oder nicht, ob sie selber republikanisch ist, wie man das in Frankreich nennt. Ich denke nicht, dass es in ihrem Programm Elemente gibt, von denen man sagen könnte, dass sie die pluralistische Demokratie infrage stellen. Selbstredend sind viele ihrer Positionen mehr als grenzwertig, aber mir scheint nicht, dass man sie als antidemokratisch bezeichnen kann. Deshalb ist es auch falsch, wenn man den Rassemblement national als rechtsextrem bezeichnet. Er ist rechtspopulistisch, kein Zweifel, aber er ist nicht rechtsextrem.

Aber weshalb scheint denn heute in so vielen Ländern die Demokratie bedroht?
Wir sind in eine Ära der Postdemokratie eingetreten, weil die liberale Auffassung des modernen Verfassungsstaats eine vollkommen hegemoniale Position erobert hat. Die agonistische Auseinandersetzung zwischen liberalen und demokratischen Werten, die das Wesen einer echten pluralistischen Demokratie ausmacht, hat nicht mehr stattgefunden. Als Reaktion darauf ist die populistische Wende eingetreten. Wir beunruhigen uns über die illiberale Demokratie, nicht zu Unrecht. Weniger im Blick ist, dass sie eine Folge des undemokratisch gewordenen Liberalismus darstellt.

Das ist die These, die Yascha Mounk in «Der Zerfall der Demokratie» entwickelt hat. Er kommt zum Befund, dass wir den Aufstieg der illiberalen Demokratie erleben, das heisst einer Demokratie ohne Rechte, und die Banalisierung des undemokratischen Liberalismus, das heisst von Rechten ohne Demokratie.
Diesen Befund teile ich in der Tat. Ich war auch sehr angetan davon, dass Mounk in seinem Buch den Rechtspopulismus ernst nimmt, sich nicht damit begnügt, ihn in die faschistische Ecke zu stellen, sondern erkennt, dass er von einem authentischen demokratischen Impuls angetrieben wird. Allerdings finde ich, dass Mounk fast gar nichts dazu zu sagen hat, wie diese postdemokratische Krise entstanden ist. Im ganzen Buch kommt der Begriff Neoliberalismus gar nicht vor. Man kann die heutige Lage aber nicht verstehen, ohne den Wandel des globalen Kapitalismus über die letzten vierzig Jahre in Betracht zu ziehen.

Sie persönlich haben erstaunlich früh den Populismus als die zentrale politische Herausforderung im Zeitalter der Postdemokratie beschrieben. 2005 in «Über das Politische» haben Sie festgehalten, dass der Erfolg rechtspopulistischer Parteien die Folge des Fehlens einer echten politischen Debatte in der Postdemokratie darstellt.
Damals glaubte man noch, dass die Postpolitik ein Fortschritt sei, der Triumph eines alternativlos gewordenen gesellschaftlichen Grundkonsenses, der allenfalls noch vom islamistischen Terrorismus etwas herausgefordert wird. Ich habe schon damals gesagt, das ist kein Fortschritt, sondern wird den Aufstieg des Rechtspopulismus zur Folge haben.

Diese These ist seither bestätigt worden.
Es gibt dazu eine amüsante Anekdote: «Über das Politische» ist erst 2016 auf Französisch erschienen. Mein französisches Verlagshaus organisierte einen endlosen Interviewmarathon, und alle Interviews begannen mit der Frage nach meinem «letzten Buch». Ich musste dann immer erklären, dass das nicht mein letztes Buch sei und ich es schon vor zwölf Jahren geschrieben habe. Die Journalisten konnten das kaum glauben. Sie sagten: Aber das Buch analysiert doch die heutige Situation.

Als Sie «Über das Politische» geschrieben haben, gab es allerdings weit und breit noch keine Flüchtlingskrise.
Ich habe mich in den 1990er-Jahren mit dem Fall Österreich und Jörg Haider beschäftigt. Das Ausländerthema spielte für Haider keine entscheidende Rolle. Stattdessen konzentrierte er seine Angriffe auf die ewige grosse Links-rechts-Koalition, die Sozialpartnerschaft, den österreichischen Korporatismus. Und es ist ja auch nicht falsch, dass dieses scheinbar alternativlose System etwas Erstickendes hatte. Ein Teil der Bevölkerung fühlte sich vollkommen ausgeschlossen. Der Anspruch, den Haider stets rhetorisch ausbreitete und mit dem er so erfolgreich war, lautete: «Ich werde dem Volk wieder eine Stimme geben.» Er inszenierte sich als Verteidiger der Demokratie. Es war lehrreich, zu beobachten, wie die weit entwickelte österreichische Postpolitik eine populistische Reaktion provozierte.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist bis heute das Grundproblem, dass es zu einem neoliberalen politischen Grundkonsens keine Alternative gibt. Margaret Thatcher hat ja das Tina-Prinzip ausgerufen: «There is no alternative» – es gibt keine Alternative.
Ja, aber heute sind wir in einer neuen Phase. Als ich 2005 «Über das Politische» veröffentlichte, war die neoliberale Hegemonie auf dem Höhepunkt. Ausgehend von Grossbritannien hatten sich alle sozialdemokratischen Parteien in Europa zum sogenannten «dritten Weg» bekannt, den Tony Blair in den 1990er-Jahren in der Labour Partei durchgesetzt hatte.

Was war damals passiert?
Blair hat die ideologische Basis von Labour fundamental neu ausgerichtet. Der Grundwert der Gleichheit wurde aufgegeben. Er wurde ersetzt durch den Grundwert der Wahlfreiheit. Plötzlich war es nur noch wichtig, dass die Leute selber auswählen können: ihren Arzt, die Schule ihrer Kinder. Das angelsächsische Model des Kapitalismus wurde allgemein als einzige verbleibende Option betrachtet. Heute sind wir in einer grundlegend anderen Situation: Die Finanzkrise von 2008 hat den Niedergang der neoliberalen Hegemonie eingeleitet.

Was heisst das?
Es bedeutet, dass die Gegenbewegung, um einen Begriff von Karl Polanyi zu benutzen, nicht mehr nur von rechts, sondern auch von links kommt. Nicht nur die postdemokratische Alternativlosigkeit, was den neoliberalen Konsens betrifft, auch die zunehmende Oligarchisierung des heutigen Kapitalismus führt zu einer gesellschaftlichen Krise. Die Erfolge von Bernie Sanders, Jeremy Corbyn, von Podemos oder La France insoumise zeigen es deutlich. Wir erleben einen historischen Moment des Populismus, der entscheidend sein wird: Entweder wird der Rechtspopulismus die demokratische Dynamik für sich nutzen, um die Demokratie zu begrenzen und ein autoritäres Gesellschaftsmodell durchzusetzen, oder der Linkspopulismus kann den demokratischen Impuls fruchtbar machen, um die Demokratie zu vertiefen und die politische Gleichheit zu verstärken. In die eine oder die andere Richtung wird es gehen. Man braucht sich nur den Zustand der sozialdemokratischen Parteien in Europa anzusehen, um zu verstehen, wie tief die Krise des aktuellen politischen Regimes ist.

2. Populismus

Ihr neues Buch heisst «Für einen linken Populismus». Warum bestehen Sie auf dem Begriff Populismus, der sehr negativ besetzt ist?
2012 hatte ich mit Jean-Luc Mélenchon und Ernesto Laclau Gespräche in Buenos Aires, die später auch publiziert wurden. Mélenchon sagte damals: «In der Sache hast du recht, aber in Frankreich kann ich mich unmöglich als Populisten bezeichnen.» Ich höre diesen Einwand häufig.

Und warum halten Sie an dem Begriff fest?
Aus verschiedenen Gründen: Zunächst ist die negative Besetzung von Populismus etwas sehr Europäisches. In den USA zum Beispiel hat sich selbst Barack Obama als Populisten bezeichnet. Bernie Sanders stört es nicht, als Linkspopulist zu gelten. Das dürfte darauf zurückgehen, dass der Populismus als politischer Begriff in den USA entstanden ist als Bezeichnung für eine historische Bewegung, die nicht grundsätzlich negativ bewertet wird.

Und welchen Sinn macht der Begriff im europäischen Kontext?
Er erlaubt es, einen bestimmten Typus der Linken zu bezeichnen. Heute zerfallen die Linken weitgehend in zwei Lager: Zum einen gibt es die sozialliberale Linke, die Linke der heutigen Sozialdemokratie. Zum anderen gibt es – auch wenn sie stark marginalisiert ist – immer noch eine revolutionäre Linke, die sich als antikapitalistisch versteht und den Bruch mit der pluralistischen Demokratie sucht, in Frankreich zum Beispiel der Nouveau Parti anticapitaliste. Der Linkspopulismus dagegen ist weder das eine noch das andere. Er engagiert sich innerhalb der demokratischen Institutionen – Podemos zum Beispiel oder Corbyn –, will aber einschneidende Veränderungen herbeiführen, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verändern, eine neue Hegemonie durchsetzen. Zudem ist der Begriff Populismus für die Diskussionen innerhalb des Postmarxismus wichtig.

Inwiefern?
Ernesto Laclau hat diese Fragestellung in seinem Buch «On Populist Reason» («Die populistische Vernunft»), das er 2005 veröffentlicht hat, sehr tiefgreifend analysiert. Er sagt, es gebe zwei Arten, den politischen Grundkonflikt zu verstehen. Zum einen die marxistische These des Klassenkampfs, eines Kampfs zwischen Bourgeoisie und Proletariat, und zum andern die populistische These eines Konflikts zwischen der Unterschicht und der Elite, zwischen dem Volk und der Oligarchie. Die Entwicklung des Kapitalismus hat die Klassenkampfthese hinfällig gemacht. Aber der Gegensatz zwischen Volk und Oligarchie bestätigt sich – und er bestätigt sich immer deutlicher.

Und was bedeutet das?
Es bedeutet nicht, dass wirtschaftliche Machtbeziehungen keine Rolle mehr spielen, aber in der postfordistischen Wirtschaftswelt ist zum Beispiel auch die Mittelschicht immer stärkeren Antagonismen ausgesetzt. Der neoliberale Konkurrenzgedanke durchdringt heute restlos alle Lebensbereiche. Zudem sind Emanzipationsbewegungen wie der Feminismus oder der Antirassismus oder die LGTB-Bewegung wichtiger geworden, die nicht auf den Klassengegensatz zurückgeführt werden können. Die Aufgabe eines Linkspopulismus ist es, diese zahlreichen Bewegungen zu verketten und einen kollektiven Willen zu schaffen. Das kann nur gelingen, wenn der Sozialismus es als seine Aufgabe versteht, die Demokratie zu verstärken.

Der Begriff der Äquivalenzkette – die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Emanzipationsbewegungen Verbindungen zu schaffen – spielt in Ihrer Theorie schon seit den 1980er-Jahren eine zentrale Rolle. Ich habe den Eindruck, dass Sie damit vorweggenommen haben, was heute unter dem Begriff Intersektionalität in der politischen Theorie, besonders im Feminismus, sehr in Mode gekommen ist.
Da werde ich Ihnen nicht widersprechen.

Aber hat der Linkspopulismus, der Ihnen vorschwebt, nicht ein fatales Handicap? Sie sagen, man müsse Allianzen oder eben Verkettungen schaffen, eine kollektive Identität erzeugen, die die Unterschicht, die bedrängte Mittelschicht, den Feminismus, diskriminierte Minderheiten umfasst. Da hat es der Rechtspopulismus viel einfacher. Er sagt: Wir sind eine Nation. Das ist unsere Identität. Ende der Durchsage.
Der Rechtspopulismus hat einen weiteren Vorteil: Er kann sich auf reine Demagogie stützen. Er sagt zum Beispiel: Wir machen die Grenzen dicht. Damit wird eine nationale Identität affirmiert, auch wenn es das Leben seiner Anhänger eigentlich gar nicht tangiert. Ein politisches Angebot zu machen, das auf die Forderungen von Lohnabhängigen, Frauen, ethnischen Minderheiten reagiert, ist sehr viel komplexer. Aber ich weiss nicht, worin das Interesse eines Linkspopulismus liegen könnte, wenn er auf reiner Demagogie beruhen würde.

Es gibt ein starkes Argument gegen den Populismus, egal, ob er sich als links oder als rechts versteht. Die Politik wird immer irrationaler. Es wird immer schamloser gelogen, an irrationale Affekte appelliert, unvernünftiger gehandelt. Auch aus einer nüchternen, technokratischen Warte lässt sich die heutige Politik kritisieren. Die Experten vom IWF kritisieren zum Beispiel die europäische Austeritätspolitik, werden aber nicht gehört. Es gibt zu viel populistische Erregung, zu viel Unvernunft, zu viel Leidenschaft. Finden Sie es nicht nachvollziehbar, wenn die Leute sagen, das Allerletzte, was wir heute brauchen, ist noch mehr Populismus?
Ich würde nicht sagen, dass es zu viel Leidenschaft gibt. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass es eines der Grundprobleme der Linken ist, dass sie die Wichtigkeit von politischen Affekten nie wirklich begriffen hat. Es herrscht die Meinung vor, dass die Linke nur mit Argumenten kämpfen darf, während der Appell an Emotionen der Rechten überlassen wird. Das halte ich für einen fatalen Fehler, denn letztlich werden die Leute immer von Affekten mobilisiert und nicht von Argumenten.

Worauf führen Sie das zurück?
Es geht in der Politik immer um die Konstruktion politischer Identitäten, und diese gründen immer auf Identifikationsprozessen. Und Identifikation – hierin folge ich Freud – hat zu tun mit libidinöser Besetzung. Das ist auch der Grund, weshalb populistische Bewegungen starke Leaderfiguren brauchen – auch wenn dieser Gedanke vielen Linken unsympathisch ist. Starke Leader können ein Kristallisationspunkt für gemeinsame Affekte sein. Der Leader wird zum Symbol. Er oder sie muss nicht zwangsläufig eine autoritäre Figur sein, sondern kann auch als Primus inter Pares funktionieren. Aber er oder sie braucht symbolische Kraft und muss die Leute berühren.

Dann würde es auch gelingen, die Unterschicht wieder nach links zu ziehen?
Schauen Sie sich an, was die Leute von La France insoumise bei den französischen Parlamentswahlen gemacht haben. Es ist ihnen gelungen, mehrere Wahlbezirke zu erobern, die davor zu tiefst lepenistisch waren. Die konventionelle Weisheit bei den Linksliberalen besagt, dass das gar nicht mehr möglich ist. In «Populisme: Le grand ressentiment» («Populismus: Das grosse Ressentiment») behauptet der Soziologe Éric Fassin, dass die Linke die Le-Pen-Wähler nicht zurückholen kann und dass sie es deshalb gar nicht erst versuchen soll. Vor ein paar Jahren ist der französische Thinktank Terra Nova, der für den Parti socialiste politische Strategien ausarbeitet, zum Schluss gekommen, dass die Sozialisten die Unterschicht aufgeben müssen. Dass sie die Unterschicht verloren haben, nicht mehr zurückgewinnen können und sich auf die urbane Mittelschicht, die Frauen und ethnische Minderheiten konzentrieren müssen. Der Parti socialiste hat Marine Le Pen die classe populaire auf einem Silbertablett serviert.

«Die negative Besetzung von Populismus ist etwas sehr Europäisches»: Chantal Mouffe.

Hätte es andere Möglichkeiten gegeben?
La France insoumise ist auf diese Wählergruppen zugegangen und hat ihnen einen Diskurs angeboten. Das klappt.

Was für einen Diskurs?
Nehmen wir das Beispiel von François Ruffin, der in der Gegend von Amiens einen Wahlbezirk erobert hat, der davor sehr massiv für den Front national gewählt hat. Amiens leidet stark unter der Deindustrialisierung, die von Delokalisierungen vorangetrieben wurde. Eine wichtige Rolle bei diesem Prozess spielte der französische Milliardär und Grossindustrielle Bernard Arnault, der Betriebe in der Region gekauft und dann ausgelagert hat. Das Erfolgsgeheimnis von Ruffin war, dass er mit den Arbeitslosen der Region das Gespräch gesucht hat, dass er sich wirklich für sie eingesetzt hat und dass er ihnen erklärt hat: Eure Feinde sind nicht die maghrebinischen Einwanderer. Euer Feind ist Bernard Arnault.

Und so ein Diskurs funktioniert nur über populistische Emotionen?
Lassen Sie mich mit einer Anekdote antworten: Ich kannte einen amerikanischen marxistischen Theoretiker, der überzeugt war, dass das Problem der USA darin liegt, dass die Arbeiter nicht mit der marxistischen Mehrwerttheorie vertraut sind. Das war seiner Ansicht nach der Grund, weshalb sie sich nicht zum Marxismus bekehrten. Also verbrachte er sein Leben damit, überall in den USA Kurse über die Mehrwerttheorie abzuhalten. Er war überzeugt, dass die Arbeiter sich dann automatisch politisieren würden. Ich kann Ihnen ein Geheimnis verraten: Das hat nicht funktioniert.

Dass man die Welt nicht durch Schulungskurse verändert, ist keine ganz neue Einsicht.
Ja, aber die naive Rationalitätsgläubigkeit geht sehr viel weiter. Ich war zum Beispiel an einem Kolloquium über Migrationspolitik in Amsterdam, und ein Teilnehmer erklärte, das Grundproblem liege darin, dass die Leute die richtigen Migrationsstatistiken nicht kennen würden und glaubten, es gebe viel mehr Einwanderer, als das tatsächlich der Fall ist. Was für eine Absurdität! Es geht nicht darum, dass die Leute die korrekten Statistiken kennen, sondern dass sie fähig werden, Empathie für Einwanderer zu empfinden, dass man die Bedingungen schafft, die ihnen einen anderen Bezug zu Migranten eröffnen. Nein, ich glaube nicht, dass es zu viel Leidenschaft und Emotionen in der Politik gibt. Das Problem ist, dass nur die Rechte dieses Terrain offensiv besetzt.

Also ist das Wesen des Populismus das Spiel mit Emotionen?
Nein, das ist zu simpel. Zunächst muss man sagen, dass heute alles und jedes als populistisch bezeichnet wird, was nicht dem liberalen Konsens entspricht. Nehmen wir zum Beispiel Orban. Orban ist autoritär, nationalistisch, konservativ, illiberal. Aber ist für ihn der Gegensatz von Volk und Elite leitend? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dass er illiberal ist, bedeutet nicht automatisch, dass er populistisch ist. Oder nehmen wir Trump. Trump hat ohne Zweifel eine extrem populistische Kampagne gemacht. Aber seit er an der Macht ist, vertritt er ausschliesslich die Interessen der Oligarchie.

Wie also definieren Sie Populismus?
Populismus ist eine bestimmte Strategie der Grenzziehung zwischen Freunden und Gegnern im politischen Diskurs. Sie gründet auf der Entgegensetzung von Volk und Elite. Das bedeutet zunächst, dass sie auf einer dissoziativen Auffassung von Politik beruht.

Was meinen Sie damit?
Es gibt die Unterscheidung – der Philosoph Oliver Marchart hat sie ausgearbeitet – zwischen einem dissoziativen und einem assoziativen Konzept von Politik. Das assoziative Konzept ist das dominierende: Es versteht die Politik als den Raum des gemeinsamen Handelns, als den Raum der gegenseitig gewährten Freiheit, als das kollektive Aushandeln von einem Konsens. Kant, Jürgen Habermas oder auch Hannah Arendt haben eine assoziative Auffassung von Politik. Und dann gibt es das dissoziative Konzept: Es geht davon aus, dass die Politik ein Raum des Konflikts und der nicht auflösbaren Antagonismen ist. Man findet es bei Machiavelli, bei Hobbes oder auch bei Carl Schmitt. Ich bin auf der Seite der dissoziativen Auffassung. Es geht in der Politik immer darum, wie man eine Grenze zwischen «uns» und «ihnen» zieht, weil es meiner Ansicht nach in der Politik immer um die Konstruktion von kollektiven Identitäten geht. Ich bin überzeugt, dass man das Phänomen des Populismus gar nicht verstehen kann, wenn man ein assoziatives Politikverständnis hat. Hierin liegt wohl die heftige Feindseligkeit des Liberalismus gegenüber dem Populismus begründet – denn der Liberalismus ist eine assoziative Philosophie.

Können Sie das konkreter machen?
Nehmen Sie zum Beispiel Emmanuel Macron. Er ist ein zentristischer Liberaler, und sein ganzer Ehrgeiz besteht darin, dass politische Grenzen nicht mehr existieren sollen. So hat er den Links-rechts-Gegensatz der Regierungsparteien aufgelöst. Die Hälfte seiner Regierung kommt von den Sozialisten, die andere Hälfte von der Rechten. Aus meiner Sicht ist Macron das Endstadium der Postpolitik. Erstaunlich ist auch, wie stark sein Programm jenem von Tony Blair in den 1990er-Jahren gleicht. La République en marche ist eine fast buchstäbliche Neuauflage des dritten Wegs. Es amüsiert mich immer, wenn französische Freunde zu mir sagen, Macron sei etwas Neues, obwohl der Déjà-vu-Effekt überwältigend ist. Der Unterschied zu Blair besteht lediglich darin, dass in England immerhin noch eine linke und eine rechte Regierungspartei erhalten blieben, während es in Frankreich jetzt nur noch eine Partei geben soll, die nicht mit dem Bannfluch des Populismus belegt ist.

Macron hat die Links-rechts-Grenze durchlässig gemacht, aber sein Erfolg ist doch genau darauf zurückzuführen, dass er sich scharf von Marine Le Pen abgegrenzt hat.
Das stimmt. Aber zugleich wird allen politischen Kräften ausserhalb des zentristisch-neoliberalen Konsenses die Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen. Alles, was nicht diesem Konsens entspricht, gilt als populistisch und soll dadurch disqualifiziert werden. Auch Mélenchon wird als Populist bezeichnet, woraus automatisch abgeleitet wird, dass er linksextrem ist. Nun, was immer man von Mélenchon hält: Es ist offensichtlicher Unsinn, dass er linksextrem sein soll. Er ist weder gegen die Demokratie, noch gegen den Rechtsstaat, noch verfolgt er eine revolutionäre Strategie. Der Populismus wird von den Vertretern des Neoliberalismus, die in die Defensive geraten sind, nicht verstanden und nur noch als universell einsetzbares Schimpfwort benutzt. Es entzieht sich ihrer Einsicht, dass in der heutigen Situation der Postdemokratie der Populismus ein Motor der Redemokratisierung sein kann.

Aber nur ein bestimmter Populismus?
Das ist der Punkt. Noch einmal: Alles entscheidend ist die Frage, ob die Krise der neoliberalen Hegemonie zu einem Sieg des Rechtspopulismus und zu autoritären Regierungsformen führen wird oder ob eine linkspopulistische Gegenbewegung diese Dynamik auffangen kann. Aber um darauf eine Antwort zu geben, müsste man erst wissen, wovon man redet. Und man müsste die Gründe verstehen, weshalb überall im postdemokratischen Europa die rechtspopulistischen Parteien massiv auf dem Vormarsch sind.

Sie sagen, dass die politische Gleichheit als fundamentaler Wert zur Demokratie gehört. Was ist mit der Volkssouveränität?
Auch die Volkssouveränität ist ein zentraler Wert. Natürlich ist Volkssouveränität im eigentlichen Sinne etwas Unmögliches, aber es ist entscheidend, dass die Bürger das Gefühl haben, dass ihre Stimme zählt und dass sie zwischen verschiedenen Positionen eine Wahl treffen können. Deshalb wird im Zeitalter der Postdemokratie die Volkssouveränität wieder eingeklagt. Die Leute wollen eine Wahl haben.

Eher überraschend ist es, wenn Sie in Ihrem Buch als Vorbild einer erfolgreichen, populistischen Strategie Margaret Thatcher anführen.
Aber Thatcher war eine begnadete Populistin. Ich lebte in den 1970er-Jahren bereits in Grossbritannien, ich habe ihre «Revolution» aus der Nähe miterlebt. Die Situation damals war mit der heutigen vergleichbar: Es herrschte ein sozialdemokratischer, auf dem keynesianischen Wirtschaftsmodell beruhender Konsens, der alle Regierungsparteien umfasste, auch die europäischen Christdemokraten, auch die Tories, und der alternativenlos erschien.

Und was passierte dann?
Durch die Ölkrise und die Stagflation kam dieser Konsens ins Wanken, die sozialdemokratische Hegemonie kollabierte. Während die Politiker beider Lager in Grossbritannien versuchten, neue Kompromisse auszuhandeln und den Konsens zu kitten, setzte Thatcher eine knallharte Politik des Bruchs durch. Sie hat eine unversöhnliche Freund-Feind-Unterscheidung etabliert und den Gewerkschaften gewissermassen den Krieg erklärt. Mit dieser Polarisierung war sie extrem erfolgreich, auch bei den besser gestellten Arbeitern. Es gelang ihr, sozialpolitische Fragen ideologisch völlig neu zu framen. Beispielsweise machte sie den Feminismus für die Arbeitslosigkeit verantwortlich. Sie sagte: Ihr habt keine Jobs mehr, weil jetzt alle Frauen arbeiten wollen. Das hat gezogen wie der Teufel, gerade bei der Arbeiterschaft.

Und wie reagierte Labour?
Die begriffen absolut nicht, wie ihnen geschah. Sie hatten Schwierigkeiten, sich einzugestehen, dass Thatcher bestens ankam bei vielen ihrer Stammwähler, und sie waren überzeugt, dass der Spuk nicht lange dauern würde, weil die Arbeitslosigkeit aufgrund von Thatchers Politik bedrohlich in die Höhe schnellte. Aber sie täuschten sich: Während Labour abwartete, etablierte Thatcher eine neue ideologische Hegemonie.

Was ziehen Sie daraus für Schlüsse?
Was wir heute brauchen, ist ein inverser Thatcherismus. Eine politische Strategie, die auf die Krise des von Thatcher damals durchgesetzten Neoliberalismus reagieren kann – so, wie sie damals auf die Krise der sozialdemokratischen Hegemonie reagiert hat. Die Linke muss eine Strategie finden, wie sie den Forderungen, die aus dem Widerstand gegen die Postdemokratie entstehen, eine Form geben kann, die zu grösserer sozialer Gerechtigkeit führt.

3. Globalisierung und Migration

Allerdings werden heute viele Forderungen, Widerstände und Debatten stark von der Migrationsfrage bestimmt.
Die Migrationsfrage ist schwierig. In der Politik gibt es eben auch Probleme, für die eigentlich keine Lösung existiert. Ich denke, es sind zwei Aspekte entscheidend: Erstens artikuliert der ausländerfeindliche Diskurs eine ganze Reihe von Bedürfnissen und Forderungen, die im Grunde nichts mit der Migration zu tun haben.

Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen Sie den Brexit. Die Ja-Stimmen kamen vor allem aus Nordengland, vor allem aus den prekarisierten Schichten. Es waren, um es verkürzt zu sagen, die Globalisierungsverlierer, die Opfer der neoliberalen Hegemonie, die den Brexit befürwortet haben. Es waren die Leute, denen niemand mehr ein politisches Angebot machte, weder die Tories noch die Linken von New Labour, die ja ebenfalls überzeugt sind, dass die neoliberale Globalisierung ohne Alternative ist. Kein Mensch hat sich mehr für die Probleme dieser Wähler interessiert. Also konnte Farage sie abholen. Er konnte ihre Ängste und Nöte in ein europapolitisches und migrationspolitisches Problem übersetzen, auch wenn das in der Sache unsinnig war. Und er gab eine Antwort auf ihr Schutzbedürfnis.

Ein Schutzbedürfnis?
Das ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Thema. Die Globalisierung und der gesellschaftliche Wandel haben zu neuen Formen der Unsicherheit im Leben vieler Menschen geführt, nicht nur in der Unterschicht. Deshalb sehnen sie sich nach Schutz. Und da die Globalisierung für diese Unsicherheit verantwortlich ist, wendet man sich wieder dem Nationalstaat zu. Die Frage ist nur, ob es sich um einen progressiven oder einen nationalistischen Nationalstaat handelt.

Und was ist der zweite Grundaspekt der Migrationsfrage?
Ich bin überzeugt, dass wir Grenzen brauchen. Ich bin keine Befürworterin von vollkommen offenen Grenzen. Das Tragische daran ist, dass wir Europäer und der Okzident insgesamt eine grosse Verantwortung tragen für die Kriege im Nahen Osten und für die wirtschaftliche Not in Afrika – aber um die Konsequenzen in Form von Migration wollen wir uns nicht kümmern. Eine vollkommen kosmopolitische Demokratie ist aus meiner Sicht jedoch ein Ding der Unmöglichkeit.

Was also müsste geschehen?
Wir müssen eine aktive Politik betreiben, um die Verhältnisse in der Dritten Welt wirklich zu verbessern. Am wichtigsten ist eine Korrektur des Freihandels, der in Afrika die Agrarindustrie zerstört und zu grossen Bevölkerungsbewegungen führt. Ich bin in den letzten Jahren mehrfach im Senegal gewesen: Sie können da nur noch europäische Zwiebeln kaufen, aus Holland. Wir brauchen eine vernünftige Dosis Protektionismus, keine Abschottung, aber eine vernünftige Regulierung der Märkte, um die Lebensverhältnisse in Afrika zu verbessern. Wir müssen aufhören, die Wirtschaft von Entwicklungsländern mit unseren Exporten zu zerstören. Auch der Braindrain ist ein Problem: Das britische Gesundheitssystem würde ohne Ärzte aus Osteuropa und Südostasien sofort kollabieren. Diese Kräfte fehlen in ihren Heimatländern. Es ist zynisch, dass der Westen Kosten spart, indem er sie abwirbt, sobald sie ausgebildet sind. Hier geht es letztlich nur darum, möglichst billig an qualifizierte Arbeitskräfte zu kommen. Es ist der Gipfel der neoliberalen Logik und richtet immensen Schaden an.

Sie halten es für unausweichlich, dass der Nationalstaat wieder wichtiger wird. Braucht es einen linken Nationalismus?
Ich rede lieber von linkem Patriotismus. Aber ja, ich bin der Überzeugung, dass es nach wie vor eine sehr starke affektive Besetzung der nationalen Identität gibt, jedenfalls ist das heute so und dürfte auch morgen noch so sein. Das wird sich als Gegenreaktion gegen die Globalisierung sogar wieder verstärken – auch wenn uns das vielleicht nicht gefällt. Ich halte die politische Theorie nicht für eine rein normative Wissenschaft. Wir müssen bei den Menschen ansetzen, so, wie sie tatsächlich funktionieren.

Und zu diesem Funktionieren gehört die Macht von kollektiven Identitäten?
Elias Canetti analysiert dieses Problem sehr genau in «Masse und Macht». Er sagt, die Menschen haben zwei Grundimpulse. Sie haben einen Trieb zur Individualität, zur Freiheit. Aber sie haben auch einen Trieb zur Masse, sie haben das Bedürfnis, Teil eines Kollektivs zu sein. Die heutigen Sozialwissenschaften haben die Tendenz, diese Tatsache völlig zu verdrängen.

Was halten Sie von dem Argument, dass im Grunde die regionale Identität viel wichtiger ist als die nationale Identität? Dass zum Beispiel ein Bayer viel mehr Bayer ist als Deutscher?
Für einzelne Regionen und Länder mag das eine gewisse Berechtigung haben, aber ich halte es für ausgeschlossen, dass der Regionalismus den Nationalismus gewissermassen ersetzt. Der nationalistische Affekt bleibt stark. Und es kommt hinzu, dass der Nationalstaat weiterhin der wichtigste institutionelle Rahmen ist für das Funktionieren demokratischer Gemeinschaften. Solange das so bleibt, ist es auch gar nicht wünschenswert, dass der Nationalstaat weiter geschwächt wird.

Und Europa?
Ich bin eine absolut überzeugte Europäerin. Europa muss sein Gesellschafts- und Sozialmodell gemeinsam verteidigen. Aber ich will ein anderes, ich will nicht das neoliberale Europa, das heute existiert. Um dieses andere Europa aufzubauen, muss man auf der regionalen und nationalen Ebene anfangen, dort die Diskurse ändern, dort neue politische Räume schaffen. Ich glaube nicht, dass ein solches Projekt Erfolg haben kann, wenn es auf der obersten, gesamteuropäischen Ebene ansetzt. Demokratisierung lässt sich nicht top-down realisieren. Der gesamteuropäischen Demokratiebewegung von Yanis Varoufakis beispielsweise stehe ich skeptisch gegenüber. Das wird nicht funktionieren.

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