Kulturjournalismus. Ein Anti-Manifest

Kunst ist ohne Zweck. Weshalb sie dennoch politisch ist – und weshalb wir kein politisches Feuilleton brauchen.

Von Daniel Binswanger, 06.09.2018

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Die Geschichte der Avantgarde ist die Geschichte ihrer Manifeste. Eines der wichtigsten seiner Art war wohl so etwas wie das Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung: An einem Junitag des Jahres 1908 kommt Filippo Tommaso Marinetti mit seinem Wagen von der Strasse ab, überschlägt sich, landet in einem mit Wasser gefüllten Graben und entgeht nur knapp dem Tod durch Ertrinken. Ein paar Monate später publiziert er in der französischen Tageszeitung «Le Figaro» das «Futuristische Manifest». Dort verkündet Marinetti: «Ein aufheulendes, wie ein Geschoss davonjagendes Automobil ist schöner als die Nike von Samothrake.» Der futurismo will von Vergangenheit und Klassik nichts mehr wissen. Die Beschleunigung mit allen Mitteln des technischen Fortschritts wird erhoben zur neuen Heilsbotschaft.

Nicht alle Avantgarde-Bewegungen – also etwa der Dadaismus, der Surrealismus, der Konstruktivismus, die selbstredend auch ihre jeweiligen Manifeste produzierten – verschrieben sich so brachialen Visionen. Aber eines war den Bewegungen gemeinsam: Sie wollten die Kunst befreien aus dem Ghetto des blossen Scheins, aus der Komfortzone des bloss Ästhetischen. Der künstlerische Entwurf sollte über das Werk hinausgreifen und den Menschen, die Welt, die Wirklichkeit verändern.

In seiner inzwischen klassischen «Theorie der Avantgarde» erblickt Peter Bürger genau in jener Überschreitung das Wesen der radikalen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts: Sie wollen «von der Kunst aus eine neue Lebenspraxis» organisieren. Überwunden werden soll die sogenannte Autonomieästhetik: jene bürgerliche Kunst, die in Museumssälen, Konzerthallen und abgedunkelten Theaterräumen stattfindet und deren gesellschaftliche Berechtigung genau darin besteht, dass ihr schöner Schein das richtige Leben allenfalls etwas angenehmer macht. Sonst aber mit ihm nichts zu tun hat. Nicht mehr das ästhetische Spiel soll das Wesen der Kunst bestimmen, sondern der ethische Ernst einer realen Revolution. Die historische Avantgarde war immer hochpolitisch. Ihre Visionen wollten die Gesellschaft transformieren.

Heute ist von solchen Ambitionen nicht viel übrig. Die moderne Kunst ist postmodern geworden und nimmt selbst dieses Attribut inzwischen nicht mehr ernst. Sie hat sich entgrenzt, globalisiert, vermischt die Genres, erlaubt jedweden Eklektizismus, experimentiert mit Medien, Formen, performativen Praktiken. Die Realitätsanbindung ist mal hyperkonkret, mal fehlt sie gänzlich. Das kann grundsätzlich auch nicht falsch sein: Wer wollte der Kulturproduktion künstliche Grenzen setzen?

Aber es gibt auch keinen Grund mehr, die Kunst aus ihrem Ghetto zu befreien. Sie ist schon überall im öffentlichen Raum, im Internet, füllt Messehallen, Auktionshäuser, hat ihre Street-Art-Festivals. Wenn schon, muss heute ihre Autonomie verteidigt werden. Verteidigt werden muss ihre Unverfügbarkeit. Dass eine Erfahrung ihren Sinn darin hat, dass sie «bloss» ästhetisch ist und weder der Lifestyle-Optimierung, der Selbsterfahrung, einem politischen Programm oder einem ethischen Bekenntnis dienen muss. Und dass sie erst im Freiraum dieser Folgenlosigkeit ganz plötzlich gross und wichtig werden kann. Wir brauchen keine Manifeste, wir brauchen keine Programmerklärung. Not tut, wenn schon, ein Anti-Manifest.

Kunst muss verteidigt werden gegen die Zumutung, Antworten bereitzustellen, anstatt sich auf Rätsel einzulassen. Gegen das Einschrumpfen ästhetischer Erfahrung auf instrumentelle Zweckmässigkeit. Und was von der Kunst gilt, gilt mindestens so sehr vom Diskurs über sie. Besonders gilt es vom Kulturjournalismus.

Gibt es, bei Lichte besehen, ein traurigeres Oxymoron als das «politische Feuilleton», so, wie es heute gelebt wird? Gibt es eine penetrantere Form der Geistlosigkeit als das manische Abarbeiten a priori festgesetzter Pflichtbekenntnisse einer politischen Agenda? Kunst lebt von ihrer Unverfügbarkeit – Kritik von der Grosszügigkeit des Raums, in dem sie reflexiven Auslauf hat.

Auf unübertreffliche Weise wurde dieser Gedanke bereits auf den Begriff gebracht im Gründungsdokument der modernen Ästhetik, der «Kritik der Urteilskraft» von Kant. Kant führt aus, die ästhetische Erfahrung gründe auf einer «Zweckmässigkeit ohne Zweck». In seiner aktualisierten Version müsste dieses Paradox wohl lauten: Kunst ist zugleich apolitisch und hyperpolitisch. Sie entfaltet sich im apolitischen Raum ihrer Autonomie – und sie artikuliert jene existenziellen, perzeptiven, physischen Erfahrungen, die die Grundlagen unseres Weltbezugs, unseres Gemeinschaftslebens, unserer politischen Affekte bilden.

Faszinierend ist, mit welcher Macht diese eigentlich konventionell bürgerliche Auffassung von Kunst eine philosophische Renaissance feiert. Offensichtlich ist eine Tradition verschüttet worden und muss nun wiederauferstehen. Jacques Rancière, einer der führenden französischen Philosophen, insistiert in seiner ästhetischen Theorie auf der Seltsamkeit, dass es heute vor allem darauf ankomme, der Kunst ihre «Widerständigkeit», das heisst ihre Autonomie, zuzugestehen. Doch besteht er darauf, dass gerade darin die Kunst politisch wird: Sie leistet eine Neuaufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren, sie setzt die Grenzen zwischen sicht- und unsichtbar, sie artikuliert die Räume teilbarer Erfahrung.

Christoph Menke, der mit «Die Kraft der Kunst» den wohl interessantesten deutschen Ästhetikentwurf der letzten Jahre vorgelegt hat, setzt zwar deutlich andere Akzente, aber auch bei ihm steht das Autonomieprinzip im Vordergrund: «Die Kunst ist vielmehr das Feld einer Freiheit nicht im Sozialen, sondern vom Sozialen; genauer: der Freiheit vom Sozialen im Sozialen.»

Vermutlich trägt nicht zuletzt die Kulturpublizistik ihren Anteil daran, dass heute der Ruf nach einer echten Auseinandersetzung mit ästhetischen Erfahrungen wieder dezidierter erklingt. So manches Feuilleton ist nur noch die Arena eines permanenten Kulturkampfes. Und der ist von Kultur das Gegenteil.

Natürlich hat Kulturjournalismus nicht nur die Aufgabe, Kulturproduktion der Kritik zu unterziehen. Das Feuilleton soll auch Ort der relevanten Debatte sein. Allerdings ist es nicht umsonst, dass die Debatte in der Sonderzone angesiedelt ist, die man einst mit Schöngeistigkeit beschrieb. Schliesslich zeichnete sich schon für Kant das ästhetische Urteil durch jenen Gemeinsinn aus, der uns zwar Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben lässt, der aber zugleich weiss, dass wir Zustimmung dogmatisch nicht erzwingen können. Das Feuilleton ist traditionell viel weniger zu Linientreue verpflichtet als etwa das Politikressort – oder war es einmal.

Bewundernswert war zum Beispiel das Debatten-Feuilleton, das Frank Schirrmacher in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» aufzog. Als es darum ging, die Finanzkrise intellektuell zu bewältigen, liess er im Leitblatt des deutschen Bürgertums die besten Köpfe aus allen Lagern über «die Zukunft des Kapitalismus» schreiben, auch Heiner Flassbeck, auch Wolfgang Streeck.

Jetzt liegt die Finanzkrise hinter uns, ohne dass man behaupten könnte, alle Lehren seien gezogen worden. Sie hat in eine Demokratiekrise geführt, die noch wesentlich bedrohlicher sein dürfte als die gewaltigen wirtschaftlichen Verwerfungen, die der Beinahe-Zusammenbruch des Weltfinanzsystems vor zehn Jahren ausgelöst hat. Nichts könnte dringlicher sein als die Anstrengung zur analytischen Durchdringung der Demokratiekrise. Nichts könnte dringlicher sein als die Diagnose von Ursachen und die Diskussion von Gegenstrategien. Auch diese Debatte muss mit der nötigen reflexiven Distanz geführt werden, nicht auf dem tagespolitischen Kampfplatz. Sie muss ohne jeden Zweifel die zentrale Debatte des heutigen Feuilletons sein.

Im Dezember 1944 starb Marinetti in Bellagio am Comer See. Er hatte mit seinem Manifest eine der bedeutendsten europäischen Avantgarde-Bewegungen angeschoben und sich dann dem italienischen Faschismus angeschlossen. Anlässlich des Äthiopien-Feldzuges des Duce in den Dreissigerjahren besang er erneut euphorisch den Sieg von Technik und Beschleunigung, den Triumph der Radikalität. Gemeint war die Radikalität des Krieges: «Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen wie die der grossen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft.»

Ein paar Monate bevor auch seine Herrschaft an ihr Ende kam, liess Mussolini für Marinetti in Mailand ein pompöses Staatsbegräbnis ausrichten. Er möge weiterhin unter den Toten bleiben.

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