Am Gericht

Vater, Tochter und das liebe Geld

Eine Tochter erledigt die Finanzen ihres Vaters. Er verarmt dabei. Ist das jetzt gewerbsmässiger Betrug oder ein unglückliches Missverständnis?

Von Sina Bühler, 05.09.2018

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Ort: Kreisgericht St. Gallen
Zeit: 14. August 2018, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: ST.2018.23.SKE/SG3SE-AKL
Thema: Betrug und Urkundenfälschung

Der 64-jährige Bosnier S. G. arbeitete fast ein Vierteljahrhundert auf Schweizer Baustellen. Im Herbst 2015 konnte er sich frühpensionieren lassen und reiste nur wenige Tage später nach Bosnien. Weil er einen Herzinfarkt hatte, kam er nicht mehr dazu, in der Stadt St. Gallen alles zu regeln. Also überliess er das Administrative seiner Tochter M. B., die ihm sehr nahestand. Das sagt sie selber: Sie sei ihm viel näher gestanden als ihre zwei Geschwister. M. B. meldete ihren Vater beim Einwohneramt ab, nahm seine Post in Empfang, zahlte bis zur regulären Kündigung die Miete seiner Wohnung.

Immer schon hatte die 37-Jährige alles geregelt, wozu der Mann Deutschkenntnisse benötigt hätte. Dafür unterstützte der Vater seine Tochter grosszügig. Ihre Finanzen und die ihrer Familie waren knapp. Die Reinigungsfirma, die sie zusammen mit ihrem Mann aufbauen wollte, ging Konkurs, die Arbeit als Verkäuferin an der Tankstelle vertrug sich nicht mit der Betreuung ihrer kleinen Tochter, die Betreibungen häuften sich, die Summe der Verlustscheine war fünfstellig.

«Ich habe ihr ab und zu 100, 200 Franken gegeben. Und einmal 2000 Franken. Und ein Darlehen», sagt der Vater vor dem St. Galler Kreisgericht. Dort wird er als Zeuge befragt. Denn die Geschichte der töchterlichen Hilfeleistung und der väterlichen Unterstützung endete böse: G. zeigte seine Tochter bei der Polizei an. Er sagt, sie habe ihn bestohlen.

Zuerst habe sie versucht, eine Vollmacht auf sein Bankkonto zu fälschen. Das klappte nicht, die Bank verglich die Unterschrift und war unzufrieden. Da bat sie den Vater in die Schweiz, damit er die Bankgeschäfte selber regeln konnte. Auf der Raiffeisenbank hob er 50’000 Franken für die Renovation seines Hauses in Bosnien ab, die Tochter übersetzte.

Er verstand aber mehr, als sie dachte, denn es fiel ihm auf, dass M. B. der Bankangestellten sagte, mit dem Vater müsse diese nicht reden, er könne kein Deutsch. «Aber ich habe ihr vertraut», sagt er. Deshalb habe er auch die Bankformulare unterschrieben, die ihm vorgelegt wurden. Erst später merkt er: Es war eine Generalvollmacht. Einzelrichter Armin Kläger legt sie ihm auf den Tisch. S. G. klopft heftig auf das Papier, sagt: «Ich habe niemandem eine Vollmacht gegeben!» Im Gegenteil, nur wenige Minuten zuvor habe er der Tochter klar und deutlich gesagt, niemand erhalte direkten Zugriff auf sein Konto. Sie hatte ihm das vorgeschlagen, der Einfachheit halber.

Mit der Generalvollmacht hob die Tochter fast ein Jahr lang Geld ab. Das ist unbestritten: 28 Mal war sie in der Filiale der Raiffeisenbank, unterschrieb eine Auszahlung und erhielt Beträge zwischen 200 und 5000 Franken. Insgesamt waren es 77’530 Franken und 800 Euro. G. will es erst bemerkt haben, als der Geldautomat in Bosnien kein Geld mehr ausspuckte.

Staatsanwalt Christophe Panchaud ist überzeugt davon, dass M. B. ihren Vater regelrecht ausnahm. Die Tochter habe nicht nur eine Vollmacht gefälscht und, als es mit der ersten nicht klappte, eine zweite erschlichen. Sie habe auch die Anweisung an die Pensionskasse, die ganzen Altersersparnisse an besagtes Konto auf der Raiffeisenbank auszuzahlen, gefälscht. Sein Beleg: Zwischen dem Versand des Formulars für die Überweisung und dessen Einreichung bei der Pensionskasse habe der Vater in Bosnien gar keine Zeit gehabt, den Brief zu unterzeichnen.

So oft sei sie bei der Bank vorbeigegangen, so viel Geld habe sie abgehoben, dass sie das praktisch beruflich ausgeübt habe. «Gewerbsmässiger Betrug» lautet deshalb die Anklage, dazu kommen eine mehrfache Urkundenfälschung und versuchter Betrug.

«Es ist das Allerletzte, wenn man seinen Vater so ausnützt!», sagt nun der Staatsanwalt und verlangt eine bedingte Freiheitsstrafe von zehn Monaten und eine Busse von 1800 Franken. Weil ein Teil der Bezüge nach der Einführung des Ausschaffungsgesetzes stattfand, soll die Frau die Schweiz verlassen müssen. Sie sei erst als Elfjährige nach St. Gallen gezogen und sei in der Arbeitswelt nicht verwurzelt. Auch ihr Mann ist Bosnier, der Familie könne ein Umzug zugemutet werden. «Der Kläger wird das Geld wohl abschreiben müssen und den Rest seines Lebens in ärmlichen Verhältnissen darben müssen», schätzt Panchaud die Lage ein.

Für die Tochter sind die Strafanzeige und die Anklage eine Katastrophe, ein unglückliches Missverständnis oder gar ein Betrug – des Vaters. «Ich vermute, er meint, dass er das Geld, das er abgehoben hat, von der Raiffeisenbank zurückbekommt.» Sie weint immer wieder bitterlich, und als sie während der Befragung des Vaters am selben langen Tisch sitzen muss, rückt sie so weit weg, wie es das Tischbein erlaubt.

Sie gibt zwar zu, die Bezüge gemacht zu haben, das sei aber immer auf Anweisung des Vaters geschehen. Das Geld habe sie ihm persönlich übergeben, über Buschauffeure nach Bosnien geschickt, für seine Steuern, Krankenkasse und Miete verwendet. Den Rest habe sie behalten dürfen. Für ihre Unterstützung und weil er ihr helfen wollte.

«Wie viel Geld haben Sie behalten dürfen?», fragt Einzelrichter Armin Kläger. Die Tochter weiss es nicht genau. «Wir haben heute eine Gerichtsverhandlung, Ihnen wird Betrug vorgeworfen, und Sie sagen mir, Sie haben keine Ahnung, wie viel Geld für Sie war?» Die Tochter meint, sie habe vielleicht 5000 Franken im Monat erhalten. Wie viel insgesamt, weiss sie nicht. «Dem Staatsanwalt haben Sie gesagt, Sie würden es gerne zurückzahlen, bis auf 5 Rappen genau. Das heisst, Sie müssten doch wissen, wie viel es ist.» Die Tochter schluchzt, was sie sagt, ist unverständlich. Immer wieder schüttelt der Vater während ihrer Aussagen den Kopf, schüttelt den Zeigefinger, sagt «Nein!».

Die Tochter sagt, sie stecke noch immer in einem finanziellen Engpass. Zwar habe ihr Mann endlich einen Job gefunden, und sie könnten die ausstehenden Schulden abzahlen. Auch sie selber werde vermutlich in den nächsten Tagen wieder angestellt, bei einem Detailhändler.

«Alles, was ich für den Vater gemacht habe, habe ich von Herzen gerne gemacht», sagt die Tochter zuletzt, «dafür habe ich Geld erhalten.» Sie versucht, weiter zu sprechen, doch sie wird von Schluchzern geschüttelt und bekommt nicht mehr als drei Sätze hin. Für ihren Verteidiger ist der Fall klar: Der Staatsanwalt stütze sich nur auf Indizien: «Sie gab ihm das Geld. Das Gegenteil kann nicht bewiesen werden.» Der Aussage des Vaters könne man nicht mehr Glauben schenken als ihrer. «Und wenn beide Geschichten plausibel sind, muss zwingend ein Freispruch erfolgen.»

Das sieht auch das Gericht so. Einzig in Sachen Urkundenfälschung folgt sie dem Antrag des Verteidigers nicht: M. B. wird der mehrfachen Urkundenfälschung schuldig gesprochen und mit einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 30 Franken verurteilt. Und sie häuft zusätzliche Schulden an: Sie muss ein Fünftel der Verfahrenskosten von mehr als 18’000 Franken übernehmen.

Illustration Friederike Hantel

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