Fotobuch

Wir Übermenschen

Matthieu Gafsou: «H+»

Wissenschaftliche Dokumentation oder Kunst? Beides. Die Aufnahmen des Lausanners bilden eine skurrile, geheimnisvolle und manchmal unheimliche Wirklichkeit ab.

Von Barbara Villiger Heilig, 04.09.2018

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Wie wächst der Mensch über sich hinaus? Wie begegnet er der Angst, die ihn in Anbetracht seiner Endlichkeit begleitet? Wie kann er – ein Widerspruch in sich – seine menschlichen Fähigkeiten einsetzen, um mehr als ein Mensch zu werden? Transhumanismus heisst die Bewegung, die solche Fragen stellt und zu beantworten sucht. Wissenschaft und Technik sind ihre Basis, Ethik und Moral ihr Überbau.

Anwendung finden ihre Errungenschaften im Alltag schon längst: im Herzschrittmacher, der den Körper in Gang hält, genauso wie im Smartphone, das unseren Intellekt unterstützt. Ausgehend von der Idee der Prothese, strebt die transhumanistische Bewegung der Sphäre des Posthumanen zu. Was uns heute die Science-Fiction bereits vorspiegelt, wollen die Transhumanisten verwirklichen: Als «Cyborgisierung der Menschheit» liesse sich das Projekt umschreiben.

Matthieu Gafsou geht in seiner Serie «H+» – das Kürzel steht für Transhumanismus – nicht über die Gegenwart hinaus. Der Fotograf aus Lausanne dokumentiert, was auf diesem Weg in die Zukunft heute bereits verwirklicht ist, in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Tschechien und Russland.

Das Schwierigste an dieser Arbeit sei gewesen, ihr Sujet einzukreisen, sagt Gafsou. Er las Bücher, traf Spezialisten und musste, bevor er fotografierte, Bewilligungen dazu einholen. Denn Institutionen und Labore wollen an der Öffentlichkeit nicht mit ihren – nicht unumstrittenen – transhumanistischen Forschungsaktivitäten in Verbindung gebracht werden.

«H+» zeigt Bilder, die irritieren können: Wo endet die Natur, wo beginnt das Künstliche – und wo die Kunst? Mit dieser Irritation arbeitet Gafsou.

Der Schweizer Arzt Jean-André Venel (1740–1791) entwickelte dieses Korsett für Skoliose-Patienten. Ein Korsett gilt als Orthese – sie korrigiert und stützt. Orthesen sind Vorläufer der Exoskelette.
Dieses Exoskelett wird bei körperlicher Behinderung eingesetzt. Einen anderen Prototyp entwickelt die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency): Sie rüstet Soldaten zu Kriegsmaschinen auf.
Die Zahnspange soll eigentlich Probleme der Zahnstellung beheben. Immer öfter wird sie aber für kosmetische Zwecke eingesetzt: Ein fotogenes Lächeln setzt perfekt aufgereihte Zähne voraus – sie entsprechen dem herrschenden Trend zur Körperoptimierung.
Seit ihrer Jugend leidet Marie-Claude Baillif an Myopathie, einer spezifischen Schwäche der Muskulatur. Ohne Atmungsgerät wäre sie schon vor dreissig Jahren gestorben.
Mäuse, die mit einem spezifischen Gen der selbstleuchtenden Quallenart Aequorea victoria ausgestattet werden, glimmen auf, sobald sie UV-Strahlen ausgesetzt sind. Diese Eigenschaft nutzt man, um Ausdehnungen im Gewebe – etwa Tumoren – festzustellen und zu analysieren.
Nicht grösser als ein Reiskorn: ein NFC/RFID-Mikrochip (Near Field Communication / Radio Frequency Identification) unter der Haut speichert Daten und verbindet sich mit dem Smartphone.
Lichttherapie gegen das Altern: Diese Maske soll für jüngeres Aussehen sorgen. Sie entspricht der Ideologie des perfekten Körpers. Eine kostengünstige, nichtinvasive Alternative zur kosmetischen Chirurgie.
Das beschädigte Rückenmark dieser Ratte wurde dank elektrischer Nervenstimulierung teilweise wiederhergestellt. Ein Experiment, das in der Behandlung menschlicher Rückenmark-Schäden weiterhilft.
Keine Nahrungsmittelergänzung, sondern komplette Ernährung. In Anbetracht der von ihnen angestrebten Ewigkeit muss das Essen für die Transhumanisten zeitsparend und gesund sein, nicht Vergnügen bereiten.
Elysium Health produziert Nahrungsergänzungsmittel, die Nicotinamid-Ribosid enthalten. Mit dieser Substanz gelang es in Versuchen mit Ratten, Zellen zu regenerieren. Ob ihre Anwendung auch den menschlichen Alterungsprozess aufhält, ist umstritten.
Julien Deceroi hat sich einen Magneten in den Mittelfinger implantiert. Er sagt, es fühle sich an wie ein weiterer Sinn, der ihm erlaube, Magnetfelder zu spüren. Er trägt auch Mikrochips. Biohacker wie Deceroi nennen sich Grinder. Sie operieren sich selber, oft unter extremen Bedingungen.
Dank Virtual Reality (VR) gelangen wir in körperlose Räume. Eine Technologie, die das Hirn besser zu verstehen hilft, kognitive Fähigkeiten trainiert und in Zukunft neurologische Störungen beheben soll.
Das Elektroenzephalogramm (EEG) misst die elektrische Hirnaktivität. Ein Interface ermöglicht die direkte Kommunikation zwischen dem Hirn und der Maschine – ohne Tastatur oder Maus.
Neil Harbisson ist Künstler – und ein Cyborg. Er leidet unter Farbenblindheit. Die in den Schädel implantierte Prothese namens Eyeborg verwandelt Farben in Schallwellen.
In der brandneuen KrioRus-Anlage werden Gehirne und ganze Körper bei Tieftemperaturen gelagert, bis die Wissenschaft in der Lage ist, ihre Wiederauferweckung zu garantieren. Matthieu Gafsou/Courtesy Galerie C/MAPS

Zum Fotografen

Der Schweizer Matthieu Gafsou, Jahrgang 1981, hat an der Universität Lausanne Geschichte sowie Film- und Literaturwissenschaften studiert. Danach schloss er an der Ecole de photographie in Vevey ab. Er hat seine Werke in mehreren Gruppen- und Soloausstellungen präsentiert und fünf Bücher veröffentlicht. Seine Fotografien finden sich in den Sammlungen verschiedener Museen; www.gafsou.ch.

Zum Buch

Matthieu Gafsou: H+. Kehrer Verlag Heidelberg, 2018. 26,9 × 21,7 × 2 cm, 160 S., 80 farbige Fotos, ca. 50 Franken.

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