Auf lange Sicht

Wenn Megafirmen zu viel Macht erlangen

Ökonomen sorgen sich, weil globale Konzerne immer grössere Teile der Wirtschaft dominieren. Ein Problem ist: Wie misst man dieses Phänomen in einem Land wie der Schweiz?

Von Simon Schmid, 03.09.2018

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Jackson, Wyoming, ist ein schöner Ort. Schmucke Läden gibt es da, gemütliche Restaurants und Fassaden im Alpin-Western-Stil. Wiesen und Seen umgeben die Stadt, und ein Veloweg führt zum Grand-Teton-Nationalpark, dessen französischer Name … ach, lassen wir das.

Im Tal Jackson Hole treffen sich jedenfalls jedes Jahr im August Notenbankchefs aus aller Welt, um den Austausch zu pflegen. Am diesjährigen Symposium stand ein eher unangenehmes Thema auf der Agenda: die Marktmacht von grossen, global agierenden Unternehmen.

Unter den Geldpolitikern geht die Sorge um, dass die Weltwirtschaft zunehmend in kartellistische Strukturen verfällt. Grossverteiler wie Wal-Mart, IT-Firmen wie Google oder Unternehmen wie Amazon, die sowohl als Retailer als auch in der IT führend sind, gewinnen an Marktdominanz – und bedrohen damit nicht weniger als die Marktwirtschaft selbst. Oder zumindest das, was sich die Notenbankchefs darunter vorstellen.

Welche Auswirkungen hat die Amazonisierung der globalen Wirtschaft?

Nicht im Sinne einer definitiven Antwort, sondern als Hinweis auf mögliche Ansätze, hier drei Studien, die in Jackson Hole besprochen wurden:

  • Firmen erzielen höhere Gewinnmargen: Darüber schreibt der Chefökonom der britischen Zentralbank, Andy Haldane. Sein Papier bezieht sich auf Grossbritannien, wo sich über die letzten dreissig Jahre eine Konzentration der Gewinne in den Händen einiger «Superstar-Firmen» feststellen lässt. Er fragt: Leidet darunter auf die lange Sicht die Innovationskraft?

  • Die Preissetzungsmacht von solchen Superstar-Firmen steigt, während die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer sinkt: Dieses Thema taucht beim MIT-Ökonomen John Van Reenen auf, der Daten aus den USA und aus Europa analysiert. Er warnt davor, dass dies die Effektivität der Geldpolitik beeinträchtigen könnte: Superstar-Firmen, die ohnehin viel Geld verdienen, können von der Notenbank in einer Krise nicht dazu gebracht werden, mehr zu investieren – egal, wie billig die Notenbank das Geld macht.

  • Die Inflation sinkt und wird zudem anfälliger für globale Schwankungen: Dies mutmasst Alberto Cavallo von der Harvard Business School. Beide Entwicklungen würden die Geldpolitik und ihre Umsetzung erschweren.

Der Blick auf die Schweiz

Die theoretischen Fragen rund um Amazon und Co. sind hoch relevant – auch für die Wettbewerbsbehörden in Ländern wie der Schweiz, die sich mit konkreten Problemen auseinandersetzen müssen (siehe dazu auch unseren Artikel über die zunehmende Marktkonzentration in der Medienbranche).

Schwierig ist es allerdings, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie schlimm es um die hiesigen Firmenstrukturen tatsächlich steht. Denn die offiziellen Statistiken dazu reichen kaum mehr als ein paar Jahre zurück.

Beim Bundesamt für Statistik gibt es zwar einzelne Auswertungen (kleine Firmen, mittlere Firmen, grosse Firmen), doch sie sind nicht detailliert und gehen nur bis 2011 beziehungsweise 2001. Obendrein gibt es Brüche in den Zeitreihen.

Etwas mehr Aufschluss gibt eine Studie der Credit Suisse, die vor einigen Jahren erschien und den Zeitraum von 1998 bis 2008 beleuchtet: Tendenziell konzentrierter erscheinen da der Bau und der Handel, tendenziell ausgewogener die Telecom-, die Verkehrs- und die Finanzbranche.

Der Rest ist grösstenteils anekdotische Evidenz. Zum Beispiel aus der Uhrenindustrie, wo zwischen 1960 und 1980 gut zwei Drittel der Produzenten ausschieden und sich in den letzten zwanzig Jahren die durchschnittliche Mitarbeiterzahl pro Unternehmen verdoppelt hat. Oder aus dem Detailhandel, wo die hohen Margen von Migros und Coop zu reden geben. Oder aus dem Onlinehandel, wo die zehn führenden Shops so viel Umsatz machen wie die neunzig restlichen Anbieter aus den Top 100. Ausserdem gibt es immer weniger Banken und, wie bereits angetönt, immer weniger Zeitungsverlage.

Eine ungewöhnlich lange Zeitreihe

Wie steht es nun also um die Vielfalt in der hiesigen Firmenlandschaft? Sind wir schon so weit, dass sich die Nationalbank Sorgen machen muss?

Eine Statistik, die darauf zwar keine direkte Antwort gibt, aber trotzdem ein interessantes Licht auf das Thema wirft, ist die Chronik der kollektiven Arbeitsstreitigkeiten. Oder auf gut Deutsch: die Jahresstatistik der Streiks. Sie ist eine der wenigen durchgängigen Zeitreihen zur Schweizer Wirtschaft, die mehr als ein paar Jahrzehnte abdeckt. Neunzig Jahre, um genau zu sein.

Ein kurzer Blick auf die Zahlenreihe genügt, um zu erkennen, dass sich die Gepflogenheiten in der hiesigen Arbeitswelt seit Beginn der Zählungen im Jahr 1927 mehrmals veränderten.

Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde oft gestreikt

Anzahl Streiks pro Jahr

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Quelle: BFS

Vor dem Zweiten Weltkrieg waren Arbeitsniederlegungen in der Schweiz gewissermassen an der Tagesordnung. Pro Jahr wurde etwa 20- bis 40-mal gestreikt. Selbst während des Kriegs wurden Streiks durchgeführt.

Ab den 1950er-Jahren ging die Zahl der jährlichen Streiks deutlich zurück, auf null bis maximal zehn Fälle. Abgesehen von einem kurzen Intermezzo während der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre, herrschte in der Schweiz Hochkonjunktur – und absoluter Arbeitsfrieden, wie es ein Autor des Gewerkschaftsbundes 2008 in einer Publikation festhielt.

In den 1990er- und 2000er-Jahren endete diese Phase, und ein neuer Trend setzte ein. In der Schweiz wurde wieder regelmässiger gestreikt: bei der Basler Grosswäscherei Zeba, bei den SBB, beim Mobilfunkanbieter Orange und auch bei der Swisscom. Und prominent: auf dem Bau. 2001 legten landesweit 15’000 Bauarbeiter ihre Arbeit nieder und forderten bessere Renten.

Das Streik-Revival lässt sich eindrücklich illustrieren, wenn man auf dem Zeitstrahl nicht die Anzahl der Streiks, sondern die Anzahl der an den Streiks beteiligten Arbeitnehmer darstellt. Sie überschritt nach der Jahrtausendwende mehrmals die Schwelle von 10’000 Personen pro Jahr.

Streiks flammen im neuen Jahrtausend wieder auf

Anzahl streikende Arbeitnehmer pro Jahr

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Quelle: BFS

Die Daten

Sie stammen aus der Statistik der kollektiven Arbeitsstreitigkeiten beim BFS.

Warum nahmen nach der Jahrtausendwende viel mehr Arbeitnehmende an Streiks teil als vor neunzig Jahren? Liegt es am Bevölkerungswachstum? Oder gibt es andere Gründe, die den Wiederanstieg der Streitigkeiten erklären?

Die typische Antwort hierauf verweist auf das soziale Klima, das im Zuge der Globalisierung rauer geworden ist. Die Wirtschaft geriet in Umbruch, Firmen lagerten Arbeitsplätze aus, es kam zu Lohnkonflikten und Entlassungen, und als Ultima Ratio traten Arbeiter vermehrt auch in den Streik.

Diese Antwort ist sicher nicht falsch. Doch der Anstieg der Streikenden-Zahlen lässt sich auch anders erklären: Die durchschnittliche Firma ist heute grösser als früher. Eskaliert ein Arbeitskonflikt in einem Unternehmen, so betrifft dies heute nicht mehr ein Dutzend Personen, sondern im Extremfall gleich Hunderte. Oder, falls eine ganze Branche mobilmacht, sogar Tausende.

Darauf deuten die Daten hin, wenn man die Anzahl der streikenden Personen durch die Anzahl der Streiks dividiert – und so die mittlere Anzahl der Streikenden pro Arbeitsniederlegung in einem bestimmten Jahr erhält.

Wenn gestreikt wird, betrifft es mehr Personen

Anzahl Arbeitnehmer pro Streik, pro Jahr

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Quelle: BFS

Werden die Unternehmen also tatsächlich immer grösser, die Streitigkeiten heftiger und die Wirtschaftsstrukturen immer kartellistischer?

Man muss aufpassen, dass man nicht zu viel in die Streikstatistik interpretiert. Zumal sie in der Schweiz völlig anders aussieht als etwa in den Vereinigten Staaten.

Nahmen hierzulande die Protestzahlen eher zu, so gehen diese in den USA stark zurück. 1977 zählte das Bureau of Labor Statistics landesweit noch 298 Streiks. 1997 waren es noch 29 und im vergangenen Jahr 7 (gezählt wurden die Streiks, an denen sich tausend oder mehr Personen beteiligten).

Streiks sind in den USA als Phänomen also praktisch verschwunden. Daraus zu schliessen, dass die Arbeitsbeziehungen dort viel besser seien als in der Schweiz, wäre allerdings falsch. Vermutlich ist es genau umgekehrt: Die Verhältnisse haben sich in den Vereinigten Staaten bereits derart stark zugunsten der grossen Unternehmen verschoben, dass Arbeitnehmende und Gewerkschaften die Fähigkeit zum Protest komplett verloren haben.

Die Amazonisierung ist in den USA weit fortgeschritten, sehr zur Sorge von Ökonomen. In Jackson, Wyoming, gibt es schon lange keine Streiks mehr.

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