Binswanger

Der unheimliche Feedback-Loop

Mit Chemnitz ist zum ersten Mal so etwas wie eine offene Allianz zwischen der AfD und faschistischer Strassengewalt entstanden.

Von Daniel Binswanger, 01.09.2018

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Nein, die Vorfälle von Chemnitz bedeuten nicht, dass in Deutschland die demokratische Grundordnung kurz vor dem Zusammenbruch steht. Nein, rechtsextreme Gewalttaten gegen Asylbewerber oder Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe in den Verdacht geraten, allenfalls als Asylbewerber infrage zu kommen, sind kein neues Phänomen in Deutschland, schon gar nicht im Freistaat Sachsen. Und nein, es ist weder erstaunlich noch verwerflich, dass die Bürger von Chemnitz bestürzt und empört sind über eine tödliche Messerattacke mitten in ihrer Stadt. Das hat – es droht gerade, nicht mehr vermittelbar zu sein – auch absolut niemand behauptet.

Dennoch dürfte Chemnitz eine politische Zäsur darstellen in der Bundesrepublik. Der gesellschaftliche Grundkonsens hat sich definitiv verschoben. Entscheidende Tabus der demokratischen Auseinandersetzung sind gefallen. Wir wissen nicht, wie weit die Entwicklung gehen wird. Aber es könnte hässlich werden. Noch viel hässlicher, als es schon ist.

Wie gesagt: Auch wenn es noch nie vorgekommen ist, dass Hooligans und Neonazis im Zentrum einer grossen deutschen Stadt stundenlang Jagd auf vermeintliche Asylbewerber machen und am nächsten Tag mit grosser numerischer Übermacht dieselbe Stadt quasi besetzen – rechtsextreme Strassengewalt ist in Ostdeutschland nichts Neues. Völlig neu und gewissermassen revolutionär ist jedoch, dass diese Gewalt von einer im Bundestag mit 92 Abgeordneten vertretenen Partei gerechtfertigt, legitimiert und zu Propagandazwecken missbraucht wird. Für diesen Samstag haben drei Ost-Landesvorsitzende der AfD, gemeinsam – auch das eine Premiere – mit Pegida, zu einem Trauermarsch aufgerufen. Der AfD-Co-Vorsitzende Alexander Gauland bezeichnete die Ausschreitungen von Chemnitz als «Selbstverteidigung».

Die AfD hat sich dazu entschlossen, rechtsextreme Strassengewalt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist die klassische Vorgehensweise faschistischer Organisationen. Man kann nur spekulieren, wie weit die Alternative für Deutschland gehen wird, nachdem nun diese Grenze überschritten ist.

Es entspricht einer fatalen Logik, dass wir jetzt an diesem Punkt stehen. Die alte Bundesrepublik – das heisst Deutschland vor den Bundestagswahlen 2017; Deutschland, bevor eine Partei mit rechtsextremen Elementen in den Bundestag einzog – hat sich immer durch die Marginalisierung des Rechtsextremismus auf institutioneller politischer Ebene und durch dessen starke Präsenz im gesellschaftlichen Leben ausgezeichnet.

Es gab keine Extremisten im Bundestag, aber es gab Skinheads auf den Strassen. Es gab keinen Hypernationalismus in der Parteienlandschaft, aber es gab eine virulente Neonazi-Szene. Jetzt hat sich die Parteienlandschaft gewandelt – doch die Neonazis sind nicht weniger geworden. Im Gegenteil, sie fühlen sich durch das gesellschaftliche Klima ermuntert. Ideale Voraussetzungen sind jetzt gegeben, um einen mächtigen Feedback-Loop entstehen zu lassen zwischen Strassengewalt und extremistischer Politik.

Die Strategie der AfD ist simpel. Erstens geht es darum, die Bundeskanzlerin und ihre Flüchtlingspolitik für den vermutlichen Totschlag eines Deutschen durch einen Iraker und einen Syrer verantwortlich zu machen. Wer ist schuld daran, dass ein deutscher Bürger im Zentrum von Chemnitz erstochen wurde? Natürlich Angela Merkel.

Zweitens soll durch die Ausschlachtung des Vorfalls das Narrativ der Lügenpresse genährt werden. Dass sich die Medien über die rechtsextreme Gewalt nicht weniger entsetzen als über das Tötungsdelikt, wird als Beweis der Pro-Flüchtlings-Agenda der «Kartellmedien» dargestellt. Wenn deutsche Bürger zur «Selbstverteidigung» schreiten, indem sie Jagd auf ausländisch aussehende Menschen machen, wird es in den Medien denunziert. Vom Totschlag hingegen – so wird tatsachenwidrig behauptet – will niemand sprechen.

Es ist ein faktenfreier und extrem toxischer Propagandadiskurs, dessen sich die AfD bedient. Er dürfte seine Wirkung tun.

Das Absurde an der Situation ist, dass die Bundesregierung schon lange auf eine skandalös restriktive Flüchtlingspolitik eingeschwenkt ist. Die Willkommenskultur ist Geschichte, mittlerweile will die Kanzlerin Auffanglager in Libyen bauen lassen – was der Hetze gegen die Asylbewerber in keiner Weise Abbruch tut. Die Bundesregierung kann jetzt im Grunde tun und lassen, was sie will – die AfD wird das Flüchtlingsthema so oder so bewirtschaften.

Da spielt es dann auch keine Rolle, dass die Kriminalitätsraten, die 2016 aufgrund der Zuwanderung von Flüchtlingen tatsächlich gestiegen sind, im Jahr 2017 aber wieder rückläufig waren. Die Gesamtzahl der erfassten Straftaten war gemäss polizeilicher Kriminalstatistik in Deutschland 2017 so niedrig wie seit 1992 nicht mehr.

Es spielt auch keine Rolle, dass es bei den Zuwanderern starke Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationalitäten gibt: Ausgerechnet die Syrer und die Iraker zeichnen sich gemäss einer kriminologischen Untersuchung in Niedersachsen nicht durch eine überdurchschnittliche Straffälligkeit aus. Die beiden Verdächtigen von Chemnitz sind gewissermassen statistische Ausreisser, aber das hat selbstverständlich keine Relevanz.

Dass die Migranten eine tödliche Bedrohung für das deutsche Volk darstellen, muss durch empirische Daten gar nicht bestätigt werden. Es ist die Grundbotschaft der AfD, eine Art Glaubensbekenntnis, das sie um jeden Preis unters Volk bringen will.

Nein, der deutsche Verfassungsstaat steht nicht vor dem Zusammenbruch. Aber seine Aushöhlung schreitet in hohem Tempo voran.

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Illustration Alex Solman

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