zwei Touristen sitzen im Gras und malen die Landschaft
Malerische Kulisse: Die überbordende Natur bei Soglio zieht Künstler und Kunstinteressierte an.

Ein Tal bewegt sich

Der Bergsturz von Bondo war eine Katastrophe. Genau ein Jahr später zeigt sich: Er war auch ein Weckruf für das Bergell.

Von Sabrina Bundi, Anja Conzett, Ariel Hauptmeier (Text) und Reto Sterchi (Bilder), 23.08.2018

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Auf den Donner folgt das Flüstern. Erst der Windstoss, der die Baumkronen schüttelt, dann die ersten Tropfen, von den Böen zu Fäden gezogen, dann der rauschende Schauer. Bis der Regen nachlässt und nur noch flüstert. Und nicht lange, dann zieht das Unwetter ab.

23. August 2017: ein Grollen, ein Donner, eine Katastrophe. Schlamm und Steine wälzen sich durchs Tal. 8 Menschen sterben, 99 Häuser werden beschädigt, 150 Menschen evakuiert.

Fast ein Jahr später, am 3. August 2018, trifft sich eine Gruppe von Menschen in der romanischen Kirche von Bondo. Eigentlich hatten sie sich drüben in der Beiz treffen wollen, doch die war viel zu klein; an die 120 sind gekommen, aus Spino, Sottoponte, Promontogno und Bondo, und so sind alle zusammen in die Kirche umgezogen, in der seit 800 Jahren Segen und Trost gespendet werden. Bis auf den letzten Platz sind die geölten Holzbänke besetzt, der Raum erfüllt von Tuscheln und von Flüstern.

Um die Zukunft des Dorfs soll es an diesem Abend gehen. Ein neuer Verein soll seine Interessen künftig besser vertreten. Pro Bondo soll er heissen.

Der Conte de Salis ist da, ein unscheinbarer Herr mit weissem Haar, Nachkomme des Söldnerclans, der in England lebt, aber nicht lassen kann vom Tal und jeden Sommer zurückkehrt in sein Schloss.

Der alte Dorflehrer ist gekommen, der die 80 längst hinter sich gelassen hat und weiter akribisch alles über die Geschichte und Kultur des Tals sammelt, was ihm in die Finger kommt. Der nicht müde wird zu predigen: Das Bergell muss ein Kunst-Mekka der Alpen werden, es muss!

Der junge Architekt ist da, der seine Abschlussarbeit über Bondo geschrieben hat und nach dem Studium zurückkehrte ins Bergell, wo auf 1500 Einwohner zwei Metzgereien, aber acht Architekturbüros kommen.

Und natürlich ist auch Anna Giacometti da, die Präsidentin der Grossgemeinde Bregaglia, doch sie sitzt ganz hinten und wird nichts sagen an diesem Abend. Sie hört nur zu.

Gegen 20.30 Uhr verebbt das Flüstern, und ein langer, hagerer Mann im Hemd tritt ins Altargewölbe mit den romanischen Fresken und ergreift das Wort, Sergio Salis heisst er, 58 Jahre alt, einer der Gründer des Vereins. Und erklärt das Programm: Man wolle die Landschaft und das Dorfleben pflegen, die Wirtschaft und den Tourismus ankurbeln, das kulturelle und historische Erbe erhalten. Viel zu lange habe man dem Stillstand zugesehen, hier im Bergell. Dann sei der Bergsturz gekommen. Eine Katastrophe, ja. Vielleicht auch eine Chance? Sich selbst zu finden? Das Tal in die Zukunft zu tragen?

Die Menschen hören aufmerksam zu. Manche runzeln die Stirn, andere nicken unbewusst. Anna Giacometti schaut angestrengt zu, als ihr Kollege aus dem Gemeindevorstand aufsteht und kritisiert, dass sich nicht alle richtig verhalten hätten beim letzten Alarm vor zwei Tagen. Kritik schwingt mit am Verein. Masst er sich Aufgaben an, die der öffentlichen Hand unterliegen? Ist er für oder wider das ganze Tal?

L’e cià al Cengal!

Seit langem flüstert der Cengalo, wispert davon, dass er bald kommt. Rumort und ächzt und stöhnt. Dezember 2011: ein erstes Donnern. 1,5 Millionen Kubikmeter Granit stürzen von seiner Nordostflanke und bringen das Tal zum Zittern.

Doch der Schutt bleibt in der hinteren Bondasca liegen und interessiert zunächst vor allem die Geologen vom Bund. Die aber fragen sich: Was, wenn das Geröll vom Regen aufgeweicht wird?

Im Sommer darauf regnet es viel. Mehrere Murgänge wälzen sich durchs Seitental, Lawinen aus Schlamm und Schutt. Am 25. August erreicht eine davon den Campingplatz von Bondo.

Blick Richtung Südwesten von Albigna.

Die Verantwortlichen wissen jetzt, dass sie handeln müssen, und geben ein 5 Millionen Franken teures Auffangbecken in Auftrag. 5000 LKW-Fuhren Gestein haben darin Platz. Dazu eine 500 Meter lange, 2 Meter hohe Schutzmauer aus Beton. Und Warnsysteme. Techniker ziehen einen Kilometer oberhalb von Bondo Reissleinen über den Bondasca-Bach, die, ausgelöst, die Strassenampeln auf Rot schalten und die Menschen per SMS warnen; 4 Minuten bleiben dann, bis der Murgang Bondo erreicht. Dazu: Pegelstandradare entlang des Flusslaufs, Radar-, Laserscan- und Infrarot-Anlagen, um das Gesteinsprofil zu überwachen.

Die Experten rechnen damit, dass der Cengalo kommt. Wie viel auf einmal kommen wird, das haben sie unterschätzt.

Sommer 2017. Immer lauter flüstert der Berg. Die lockere Flanke beginnt sich stärker zu bewegen. Am 14. August sprechen die Geologen eine akute Warnung aus: Die Maiensässe in der Bondasca dürfen nicht mehr betreten werden. Von nun an wird jeder Felsbrocken notiert, der vom Cengalo rollt.

Am 23. August um 9.31 Uhr der Donner: Der Cengalo fällt, ein 3,15 Millionen Kubikmeter grosser Brocken «bricht unter seiner eigenen Last zusammen», sagt der Geologe Florian Ammann, Professor für Ingenieurgeologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Das Gestein reisst 600’000 Kubikmeter Eis mit, vermischt sich mit Schmelzwasser vom Bondasca-Gletscher und schiesst als Murgang mit 250 Stundenkilometern Richtung Bondo. Das System löst Alarm aus.

Das Bergell

Nein, arm ist das Bergell nicht. Das verdankt die Gemeinde den Elektrizitätswerken Zürich, den Konzessionszahlungen rund um die Staumauer Albigna. 2 Millionen Franken werden so jährlich in die Gemeindekassen gespült, dazu kommen die Arbeitsplätze, die die Werke im Tal stellen. Die Arbeitslosenquote ist niedrig, ganze sechs Menschen im Bergell sind offiziell arbeitslos, und fünf sind als stellensuchend gemeldet.

Im Vergleich zu andern Gemeinden in Graubünden ist es im Bergell noch komfortabel. Und so bewegt sich lange wenig. Der Fortschritt kommt so langsam, dass er nichts zerstören kann. Und das ist auch die Tragik dieses Tals, das – wie so viele Bergtäler der Schweiz – damit kämpft, dass die Klassenzimmer leerer werden, die Töchter nach dem Studium nicht zurückkehren und die jungen Männer keinen Weg sehen, ihr draussen in der Welt erworbenes Wissen im Tal fruchtbar machen zu können.

Wie aus der Zeit gefallen: das Hotel Bregaglia in Promontogno.

Symbol des Stillstands ist das Hotel Bregaglia, ein Klotz wie aus einem Film von Wes Anderson. Ein Jugendstilpalast, in dem einst Operndiven, russische Adlige und verträumte Intellektuelle abstiegen, um sich wochenlang zu akklimatisieren, ehe sie weiterreisten ins höher gelegene Engadin. In diesem Hotel, mit seinen Seidentapeten, den fadenscheinigen Leintüchern mit Blumenmuster; die Toiletten noch immer im Flur, ist die Zeit stehen geblieben. Das grösste Hotel im unteren Tal ist ein Juwel für alle, die Charme und Patina des Originalen lieben. So sehr, dass sie dafür auf die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts verzichten.

So ist das Bergell an vielen Orten. Aus der Zeit gefallen. Unendlich reizvoll. Unendlich fern der Welt.

Renn um dein Leben!

Als der Cengalo kommt, steht Marcello Negrini, der Bergretter, in einer Wand über der Albigna. Sein Mobiltelefon klingelt. «Marcello, l’e cià al Cengal!» – der Berg kommt.

Zuerst denkt er: Das kann nicht sein. Dann denkt er: «Gianna!»

Marcello Negrini, Bergretter.

Gianna, seine Frau. Gerade wandert sie durch die Val Bondasca, gerade steht sie an einer Brücke, die über die Bondasca in den Tod führen würde. Sie sieht die Bewegung am Cengalo. Sieht Staub aufsteigen. Und rennt bergab.

Doch schon nach wenigen Schritten hält sie an. Begreift, dass sie in die Höhe muss, so weit hinauf wie möglich, kehrt um und rennt nun bergan, hinauf durch den Wald. Staub holt sie ein, verklebt ihre Augen und ihre Nase und ihren Mund, die Erde bebt, blind rennt sie weiter, stolpert über Wurzeln und Steine, fällt, steht auf, rappelt, irrt, bis sie vor einer Felswand steht und nicht weiter kann. Und weiss: Mehr kann sie nicht tun.

Seit 28 Jahren leitet Marcello Negrini die Bergrettung Bregaglia. Kaum einer kennt die Berge hier wie er. Ihn holt man, wenn Menschen vermisst werden oder sich Wanderer verirrt haben. Manchmal reicht es, dass die Verlorenen die Felsen beschreiben, vor denen sie stehen, schon weiss Negrini, wo er sie holen muss. Das Problem ist: In der Val Bondasca gibt es keinen Empfang. Gianna kann ihren Mann nicht erreichen.

Marcello, der schon über 150 Menschen aus diesen Bergen herausgeholt hat, kann seiner Frau nicht helfen. Anderthalb Stunden weiss er nicht, ob seine Frau noch lebt.

Gianna Negrini ist auf sich allein gestellt. Sie tastet sich der Steinwand entlang ins Tal. Sie sieht noch immer nichts, also hört sie hin. Sie hört Kuhglocken. Etwas lebt noch da unten. Sie geht weiter, so weit sie kann. Bis sie irgendwann ein Helikopter rausholt.

Gianna Negrini ist eine von zwei Wanderinnen, die es lebend aus der Gefahrenzone in der Bondasca schaffen, als der Cengalo zu Tal donnert. Acht andere sterben, werden begraben unter bis zu 35 Metern Stein.

15 Sekunden hatten die Unglücklichen Zeit, schätzt Marcello Negrini. 15 Sekunden, um zu verstehen, was vor sich geht. Zu entscheiden, bergauf zu fliehen. 15 Sekunden können sehr lang sein. Und sehr kurz.

Umarmungen

99 Häuser beschädigt der Murgang. Acht Häuser so stark, dass sie abgerissen werden müssen. Auch das von Virginia Marzulli. Jedes Mal, wenn sie durch Bondo fährt, sieht sie die Lücke. Sie spürt die Heimat, die nicht mehr da ist. Stattdessen: eine Wunde durchs Dorf. Ihre Bücher vermisst sie, ihr Piano. Die Vitrine voller Erinnerungen. Doch unter den ersten Sachen, die ihr die Helfer nach dem Bergsturz aus dem Haus tragen, ist eine Schatulle mit Fotos. Zuoberst eines von ihrem verstorbenen Mann. «Als wollte er mir Mut machen.»

Virginia Marzulli bleibt: «Der Bergsturz hat uns vereint.»

Ihr Sohn, der Pfarrer von Bondo, ist einer von wenigen, der vom Donner des Cengalo weggezogen ist, ins Tessin. Virginia Marzulli aber, 85 Jahre alt, eine zugezogene Römerin, bleibt. Morgens lehnt sie sich aus dem Fenster ihrer neuen Wohnung in Castasegna, bläst den Zigarettenrauch in die Morgensonne und schaut hinter der Sonnenbrille dem Treiben auf dem Dorfplatz zu, winkt, nickt, ganz Grande Dame. «Der Bergsturz hat uns vereint», sagt sie. Nachbarn reichten den Evakuierten ihre Hausschlüssel, und in einem fort nahmen die Menschen von Bondo einander tröstend in die Arme. «Am Anfang haben wir uns ständig umarmt, das hat jetzt etwas aufgehört, aber die Freude ist immer noch gross, wenn wir uns sehen.»

Pro Bondo, die Brücke und die Gräben

Auf den Donner folgt das Flüstern. Und wie so oft sind jene, die das Flüstern zum Rauschen werden lassen, unzufrieden, besorgt oder einfach überzeugt, es könnte besser laufen.

Der politischen Fusion der Gemeinden stimmten vor acht Jahren 85 Prozent der Wähler zu. Ein Erfolg. Doch die kulturelle Fusion hinkt hinterher.

Ein Anblick, der viele Künstler inspirierte: Soglio mit Pizzo Cengalo.

Ein Tal, aber viele kleine Fürstentümer. Jedes ist ein wenig anders, das sieht man, an den Häusern, in den Gassen. Und jedem Dorf schreibt man hier andere Macken zu. Oben in Soglio, am Hang, leben angeblich die knausrigen Bauern in ihren Steinhütten, beim Zoll von Castasegna die reichen Händler mit südländischem Temperament, im schattigen Bondo die verträumten Ästheten in ihren Gärten.

Im Volksmund klingt das so: Ein Mann von Soglio, ein Mann von Castasegna und ein Mann von Bondo sind auf Brautschau. Der aus Soglio fragt: Kann sie anpacken? Der aus Castasegna fragt: Ist sie reich? Der aus Bondo: Ist sie schön?

Jedes Dorf werkte für sich an der Zukunft. An Ideen mangelte es nicht, nur am gemeinsamen Ziel. Aber dann kam der Cengalo. Und mit ihm ein Gefühl, das bislang nur auf Papier bestand: «Siamo la Bregaglia.» Wir sind das Bergell. Und die schweigsamen Bauern, die selbstbewussten Lebefrauen aus Castasegna, die modernen Touristiker aus Maloja, die Kleinunternehmer aus Vicosoprano – sie alle wurden zur Brigade, als Bondo, Spino, Sottoponte und Promontogno evakuiert werden mussten.

Die Frage ist, wie man die neu gefundene Einigkeit hinüberrettet in den Alltag. Pro Bondo glaubt, die Antwort zu kennen.

Das Bergell braucht einen Neuanfang. Und dafür soll Pro Bondo stehen.

Die Fragen an der Gründungssitzung klingen banal. Kann man die beschädigte Turnhalle wieder in Betrieb nehmen? Wäre es möglich, die Wege um das Dorf auch in der Nacht zu beleuchten? Wann haben wir wieder einen Campingplatz?

Sergio Salis, Mitgründer des Vereins Pro Bondo und Wochenaufenthalter.
Patrizia Guggenheim, Mitgründerin des Vereins und Heimkehrerin.

Sergio Salis und seine Mitstreiterin Patrizia Guggenheim nehmen die Fragen auf und ernst. Sie haben keine Antworten. Aber ein Modell: Pro Bondo soll ein Medium sein, wo Dorfbewohner ihre Sorgen und Bedürfnisse äussern können, die spezifisch auf ihre Siedlung zutreffen. Einige, sagt Patrizia Guggenheim, würden sich nicht trauen, ihre Stimme zu erheben bei den Gemeindeversammlungen.

Die Sache mit der Brücke zeigt, um was es dem Verein geht. Bondo hatte zwei Brücken, beide wurden mitgerissen, als der Cengalo kam. Die obere hätte ersetzt werden sollen durch eine Fertigbaubrücke, wie man sie in vielen Tälern findet. Billig und austauschbar. Eine verschenkte Chance, fanden viele im Dorf. Schliesslich hatte schon die alte Gemeinde Bondo eine Brücke im Wappen.

Das Wappen der alten politischen Gemeinde Bondo. Es ist das Wappen des Vereins. Darüber runzelt nicht nur Anna Giacometti die Stirn.

Die Präsidentin

Vom Municipio am Rand von Promontogno kann man auf die Schneise schauen, die die Steinmassen durch die vier Siedlungen geschlagen haben, sieht auf das neue, grössere Auffangbecken. Mehrere Male ist der Alarm im August losgegangen, die Leute sind unruhig, haben Fragen, erkundigen sich immer wieder, wie es um den Cengalo stehe. Die Mitglieder der Gemeindeverwaltung sind unterdessen irgendwo in der Nähe. Sie hatten beschlossen, diesen Sommer nicht allzu weit weg in die Ferien zu fahren. Falls doch etwas passiert.

Der Cengalo und die Gemeindepräsidentin – beide kommen nicht zur Ruhe. Kurz vor dem Jahrestag des Bergsturzes häufen sich nicht nur die Alarme, sondern auch die Anfragen von Journalistinnen bei Anna Giacometti. Die anderen Dörfer der Gemeinde haben langsam genug von den Diskussionen um den Cengalo, werden ungeduldig. Zu alledem das Verfahren der Staatsanwaltschaft, die untersucht, ob alles getan wurde, um den Tod der acht Wanderer zu verhindern. Die Gemeinde hat vor dem Gebiet rund um den Cengalo gewarnt. Aber die Gegend war nicht gesperrt. War das fahrlässig? Und wenn ja – wer trägt dafür die Verantwortung oder sogar die Schuld?

Wohl niemand, flüstern viele Bergeller, hätte die Katastrophe besser meistern können als Anna Giacometti. Wie schon bei der Fusion war sie die richtige Frau für den Job. Sie hat einen kühlen Kopf bewahrt, die Hilfe von Bund und Kanton nicht nur angenommen, sondern auch optimal kanalisiert.

Unerschrocken, eine Krampferin, eine Macherin. Egal, mit wem man im Bergell spricht, am Anfang sind alle voll des Lobes über ihre Gemeindepräsidentin. Die Kritik folgt leise. Anna ist die geborene Verwalterin. Gefolgt von dem Nachsatz: Aber ist sie auch eine Visionärin? Im Moment der Krise war sie ein Segen. Aber im Moment der Heilung, des Weiterschreitens?

Nach der Schule stellte sich Giacometti in den ausländischen Dienst, kehrte zurück ins Bergell, übernahm einen Bauernhof und wurde erst Präsidentin der Region Bregaglia, 2010 Präsidentin der fusionierten Gemeinde. Dort blieb sie streng mit sich und mit anderen. Eine Führungsfigur. Eine Hierarchin, die keine Widerrede duldet, flüstert es.

Die fragenden, kritischen Stimmen, die man von Maloja bis Castasegna hört, sie sind voller Respekt. Sie scheinen sich weniger gegen eine Gemeindepräsidentin zu richten als gegen eine Mutter, von der es sich zu emanzipieren gilt.

Vor dem Bergsturz hatte Anna Giacometti gesagt, es werde ihre letzte Legislatur werden. Heute kann man in allen Zeitungen nachlesen, dass sie weitermachen werde. Weil die Krise nicht vorbei sei und das Tal ihre Expertise brauche.

Von Italien her ziehen dunkle Wolken auf. Wird es regnen? Regen ist schlecht. Er weckt den Cengalo.

Ein Tal der Chancen

Schwarzseher könnten behaupten: Die Wirtschaft krankt, die Jugend wandert ab, die wenigen Arbeitsplätze werden weniger, die Abhängigkeit vom Elektrizitätswerk wird grösser, der Tourismus immer st.-moritzer, die Entwicklung lahmt, die Bevölkerung stirbt aus – ein Tal kurz vor der Verwilderung.

Aber: Vielleicht ist das Glas nicht halb leer, sondern halb voll. Findet jedenfalls Werner Bätzing, emeritierter Professor, Geograf und Alpenforscher an den Universitäten Erlangen und Bern, den manche als Alpenkoryphäe bezeichnen. Das Bergell, ein «potenzialarmer» Raum? Nein, ein «Raum voller Potenziale». Bätzing zählt sie auf:

Kunst am Bau: Palazzo Castelmur.
Historische Architektur: Steinweg mit rundem Felsen in Soglio.
700 Grün der Bergeller Wälder: Fluss an der Grenze zu Italien.
Erleuchtete Gasse in Soglio.

Erstens: Die Vielfalt der Natur, von der Weisstanne bis zur Palme. Wilde Berge, die durch den grossen Höhenunterschied auf so engem Territorium noch majestätischer erscheinen und Berggänger ködern. Die touristischen Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft.

Zweitens: Musische Siedlungen fast ohne Bausünden. Steinhäuser mit Dächern aus Gneis, Palazzi, Villen. Sie ködern ruhehungrige Architekturinteressierte. Mit anderen Worten: Perfekte Bleiben für Kunstschaffende oder junge Familien, die wollen, dass ihre Kinder in unberührter Natur aufwachsen.

Drittens: Ein ganzes Kapitel Kunstgeschichte. Nicht nur die Künstlerfamilien Giacometti, Segantini und Varlin sind Unterkapitel, auch Rainer Maria Rilke liess sich in Soglio inspirieren. Köder für Kunstliebhaberinnen und Kulturtouristen. Wenn man sie nur richtig anlockte.

Viertens: Wasserkraft, die stetig Wasserzinsen in die Gemeindekasse spült und gegebenenfalls auf umweltverträgliche Art und Weise noch kräftiger genutzt werden könnte.

Bergstation Funivia mit Albigna-Staumauer.
Der Albigna-Stausee.

All das seien Potenziale, findet Bätzing, an denen der Cengalo nicht gerüttelt hat. Nein, er hat die Erreichbarkeit für einige Monate und einige Wanderwege unterbrochen, das wohl, dafür aber das Bergell in die Fernseher gebracht. Aber dass die Menschen wegen des Cengalos nun das Bergell meiden, glaubt er nicht. «Nur Städter, die keine Ahnung vom Bergell haben, könnten glauben, dass es hier gefährlich ist.»

Das Potenzial ist da. Um es auszuschöpfen, brauche es allerdings bessere Zusammenarbeit, Mut und mehr Selbstvertrauen. Ein gemeinsames Bewusstsein. Und eine Wertschöpfungskette, an der sich alle beteiligen können. Vom Bauern bis zum Metzger, vom Hotelier bis zum Marketingexperten. Es gehe darum, die Region aufzuwerten. Die Bergeller Kastanien als Delikatesse zu verkaufen. Die Region überregional weiterzuentwickeln. Das Tal ein St. Moritz für Seele und Geist.

Für Bondo, fürs Bergell

An das Potenzial des Tals glauben auch Sergio Salis und Patrizia Guggenheim. Beide sind Heimweh-Bergeller: Salis ist Wochenaufenthalter, der im Flachland seinem Beruf nachgeht und jeden Freitag ins Tal zurückkehrt. Guggenheim hat vor 18 Jahren das Unterland hinter sich gelassen und lebt wieder ganz im Bergell.

Sie ist Kunsthistorikerin, leitet den Heimatschutz in der Sektion Engadin und Südtäler und ist die Tochter des Künstlers Willy Guggenheim, der international bekannt wurde unter seinem Pseudonym Varlin, einer der vielen Künstler des Tals, von denen der bekannteste Alberto Giacometti ist, der Bildhauer; seine spindeldürren, schwankenden Männchen werden heute für 100 Millionen Dollar das Stück gehandelt.

Er sitzt für die FDP als Vizepräsident der Sozialbehörde Dietikon vor, Eingliederungsberater bei der SVA Zürich, und war jahrelang als Delegierter mit dem Roten Kreuz um die Welt gereist. Als er in Somalia im Einsatz war und das Heimweh zu gross wurde, bat er seine Schwester, das Plätschern der Brunnen von Bondo aufzunehmen und ihm zu schicken.

Ein Bergeller geht nie gern weg, und wenn, dann auf Zeit. Für einige Wanderjahre. Immer die steilen, grünen Hänge im Herzen und den Bregaiot auf der Zunge. Sie träumen in Bregaiot, auch wenn sie schon Jahre fort sind. Dieser entlegenen Sprache, dieser Mischung aus Romanisch und Lombardisch, die heute noch von vielleicht 2000 Menschen gesprochen wird und weder von den Romanen noch den Italienern recht verstanden wird. Und als wäre dieser Stand nicht schon schwer genug, gibt es im Bregaiot – oder eben Bargaiot – auch noch drei verschiedene Dialekte. Die Bergeller sind eigen. Nicht nur für andere, auch unter sich.

Potenzial nutzen: öffentlich zugängliche Kunst und Architektur, wie der Palazzo Castelmur.

Gut möglich, dass Anna Giacometti daran denkt, als sie nach der zweistündigen Versammlung nicht wie alle andern noch in die Beiz auf ein Bier geht, sondern, rechts und links nickend, rasch nach Hause strebt.

80 Mitglieder hat der Verein am ersten Abend gewonnen. Viel für ein Tal mit 1500 Einwohnern.

Spaltpilze, die zurück zu eigenständigen Dörfern wollen? Nein, das seien sie nicht, sagen Sergio Salis und Patrizia Guggenheim. Ja, es laufe nicht alles optimal im Tal, aber man wolle mit der Gemeinde arbeiten, nicht gegen sie.

Sergio Salis erklärt seinen Antrieb so: Er wohnt in einem der alten Häuser am Dorfplatz, über dem Negozio und der Bar seines Bruders Donato, dessen bunte Stühle auf dem Platz die Geranien und Stiefmütterchen am Dorfbrunnen komplementieren.

Als die Sirene diesen Sommer das erste Mal wieder rief – Alarmstufe eins: Hochwasserwarnung –, hatten nicht alle die Nerven, den Anweisungen zu folgen und ruhig in den ersten Stock zu gehen, um abzuwarten.

Ein paar alte Witwen fanden sich stattdessen mit ihren Rollköfferchen auf der Piazza ein. Mit dabei das Nötigste: Kleider, das Nachthemd, den Familienschmuck, vielleicht ein paar Fotos; die Alben bleiben auf dem Schrank, die Katze sich selbst überlassen – Sergio Salis hat die Damen wieder beruhigt und sie zu sich in die Stube eingeladen; auf einen Grappa; im dritten Stock. Trost, Gemeinschaft, unmittelbares Handeln.

Verändertes Ortsbild: Das Geröll vom Bergsturz in Bondo wurde zum Schutzwall aufgetürmt.

Eine Verwaltung ist nie so nah an den Problemen und Sorgen dran wie die Menschen, die daneben wohnen. Dort will Pro Bondo ansetzen. Das zivile Engagement organisieren, strukturieren, aus dem Kleinen heraus ein optimales Ganzes schaffen. «Es ist uns wichtig, dass das Tal zusammenwächst. Das kann es aber nur, wenn jedes Dorf mit seinen Eigen- und Besonderheiten Platz im Denkprozess findet», sagt Salis. Nur so könne das Potenzial geeint als Tal genutzt werden.

Das Potenzial, es könnte besser genutzt werden, flüstert es denn auch über Bondo hinaus.

Grauvieh und Open Air

Einer dieser Flüsterer abseits von Bondo, Spino, Sottoponte und Promontogno ist Giacomo Waltenspühl, 28, zu Hause in Montaccio. Vor einem Jahr hat er für den Gemeinderat kandidiert, halb ernst, mit einem Plakat, dass ihm den Anschein des Revoluzzers gab. 241 Stimmen holte er im ersten Wahlgang. Ein unerwarteter Erfolg.

Trotz des Aargauer Nachnamens des Vaters ein echter Bergeller. Vor kurzem hat er den Familienbauernhof übernommen. Er hält zwölf Bündner Grauvieh-Kühe, diese fast vergessene Rasse, optimal fürs Hochgebirge. Und natürlich pflanzt er auch Buchweizen an, dieses Knöterichgewächs, das den Südtälern Bündens seit jeher als Weizenersatz dient. Seine Produkte vermarktet er direkt, ohne ein Label, das sie als echte Bergeller ausweisen würde, denn das fehlt bislang im Tal.

Giacomo Waltenspühl bauert, spielt Bass – und will um jeden Preis im Bergell bleiben.

Waltenspühl steht für die neue Generation, verwurzelt in der Tradition und zugleich modern. Er hat vor drei Jahren das Open Air Sur l’Aua in Casaccia mit ins Leben gerufen. 300 bis 400 Gäste lauschen dort JPson aus Berlin, The Raw Soul aus Zürich oder dem DJ aus Italien für die Afterparty. Waltenspühl spielt selbst Bass, trägt Vollbart – und überlegt sich, im Herbst dem Männerchor beizutreten.

Bei 1500 Menschen im Bergell reicht es nicht immer, wenn jeder nur einen Job hat. Der Müller macht Pasta, der Bäcker hat einen Laden. Nur vom Laden alleine könnte die Familie nicht leben, nur mit der Mühle alleine auch nicht. Waltenspühl überlegt gerade, ob er auch das Fleischerhandwerk erlernen soll, weil einer der beiden Metzger des Tals demnächst in Rente geht.

Waltenspühl ist einer derjenigen, der nicht weggeht, auch nicht auf Wanderjahre, höchstens mal in die Ferien. Er will hier leben, vom Anfang bis zum Ende. Ja, sogar im Nachbardorf Bondo, in Schusslinie des Tobels, würde er tausend Mal lieber wohnen als im Unterland neben irgendeinem AKW.

Er schüttelt den Kopf, wenn Auswärtige glauben, das Bergell sei das Ende der Welt, nein, sie haben hier doch alles, was er braucht. Arbeit, Freunde, Natur, Musik, Sport, Gesellschaft.

Waltenspühl stört es, wenn das Bergell jetzt nur auf den Bergsturz reduziert wird. Ja, klar sei hier etwas passiert, aber eben – «Es ist nicht das Ende der Welt.»

Da Capo

Marcello Negrini beschäftigt der Bergsturz noch immer. Vor einigen Wochen betrat er zum ersten Mal seit der Katastrophe wieder die Val Bondasca, zusammen mit anderen Bergrettern. Sie wollten schauen, ob es nicht doch eine Spur gibt von den Verschütteten. Sie fanden nichts, keinen Rucksack, keinen Schuh, kein Stück Kleidung, nur Schutt und Schlamm und Schlamm und Schutt.

Schutzwälle aus Lawinengestein: Damit der Berg das Tal beim nächsten Rutsch nicht noch einmal überrollt.

Der Cengalo – er wird wieder kommen, da ist sich der Bergretter sicher. 500’000 Kubikmeter Granit hat er schon ins Tal gespuckt. 3 Millionen liegen noch in der Bondasca, nochmals 3 Millionen werden sich in den nächsten Jahren aus dem Massiv lösen. Es wird so schnell nicht besser werden mit den Rüfen, Muren, Stürzen, auch da ist sich Marcello Negrini sicher. Nicht nur hier, überall in den Bergen, sagt er. Die Schlagzeilen in diesem Sommer geben ihm Recht. Allein dieses Jahr wieder: Die Rüfe in Trimmis, der Sturz am Piz Linard. Die Murgänge im Wallis.

Negrini deutet auf eine Felswand hoch über dem Bergell. Man sieht, wie sie nässt unter der Sonne dieses rekordheissen Sommers. Klimaerwärmung, sagt er schulterzuckend wie ein Vater, der es seinem Teenager schon immer gesagt hat. Die Berge schwitzen den Permafrost heraus, der ihr loses Geröll bislang zusammengehalten hat.

Ob der Berg kommt, sagt Marcello Negrini, das ist längst nicht mehr die Frage. Wann er kommt? Wo er kommt? Ja. «Hoffen wir, dass die Albigna bleibt, wo sie ist.» Eine Steinlawine wie die, die vom Cengalo rauschte, in den Stausee hoch oben im Tal? Marcello verzieht das Gesicht, klatscht auf den Oberschenkel: «Ecco!»

Dann lacht er den Schrecken, den er gerade gezeichnet hat, wieder weg. «Das ist halt so, wenn man hier oben wohnt. Der Berg ist immer stärker. E la natura.» Er hebt den rechten Arm und streicht mit dem Handrücken über die Steilhänge, die Hügel, die 700 Grün der Bergeller Wälder. «Es ist der Preis, den wir für das alles zahlen.»

So kühn wie Marcello Negrini geben sich viele Bergeller in diesen Tagen, in denen sich der Bergsturz jährt.

Virginia Marzulli, die ihren Sohn alleine ziehen lässt und sagt, das Thema Bergsturz, es verblasse: «Jetzt reden wir über den Neuanfang. Da Capo.»

Anna Giacometti, deren Nerven blank liegen, weil sie mit Leib und Seele alles daran setzt, dass der Berg das Tal beim nächsten Rutsch nicht noch einmal überrollt.

Sergio Salis und Patrizia Guggenheim, die das Beste aus der Katastrophe machen wollen, entschlossen sind, den Blick der Menschen rund um Bondo weg vom Berg auf eine blühende Zukunft zu richten.

Giacomo Waltenspühl, der schon das nächste Projekt andenkt und das übernächste und der vielleicht auch noch einmal für den Gemeinderat kandidiert, weil das Tal junge Menschen braucht.

Piz Bacun: Ob der Berg kommt, das ist längst nicht mehr die Frage. Sondern: Wann kommt er? Wo kommt er?

Kein Wunder, lassen sich die Bergeller nicht beeindrucken von den Massen an Gestein, die noch auf sie zukommen – haben die Ängste um die Existenz doch eine lange Tradition im abgelegensten Tal der Schweiz.

Denn so schön er auch ist – der Boden der Bregaglia gab noch nie genug her, um all seine Söhne und Töchter zu ernähren. Und schon damals machten sie das Beste daraus. Sie zogen in die Fremde, versuchten ihr Glück als Händler, Söldner, Zuckerbäcker. Viele kehrten zurück. Einige wurden reich. Die meisten blieben arm. Doch auch die Armen brachten etwas mit – Wissen, Weltgewandtheit. Resilienz.

Der Berg mag noch nicht fertig sein mit dem Bergell, aber die Bergeller werden mit ihm fertig. «Senza dubbio», flüstert es.

Ja, der Donner des Cengalo hat sie alle durchgerüttelt, die Frauen und Männer der Bregaglia. Vielleicht auch wachgerüttelt. Gerade genug, um mit den Problemen fertigzuwerden, die hinter dem Berg schon auf sie warten.

In Sachen Transparenz

Anja Conzett ist Mitglied des Vorstands von Progetti d’Arte in Val Bregaglia, einem Verein, der in unregelmässigen Abständen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst im Bergell organisiert. Sie kennt Gemeindepräsidentin Anna Giacometti seit langem. So kam es zu einem Missverständnis: Ein Gespräch, in Anwesenheit des Fotografen, verstand Anja Conzett als journalistisches Interview, während Anna Giacometti darin ein Hintergrundgespräch sah, nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Alle Zitate aus diesem Gespräch wurden aus dem Text entfernt.

Zur Autorin Sabrina Bundi

Sie ist Bündner Journalistin und Reporterin bei RTR. Ihre Schwerpunkte sind Sprach- und Bildungspolitik, rätoromanische Sprache und Kultur sowie die Berichterstattung aus dem Bündner Parlament. Ausserdem schreibt sie den rätoromanischen eComic «Il Crestomat» – eine Abenteuergeschichte mit den skurrilen Figuren aus der bündnerromanischen Sagenwelt.

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