Seien Sie selbstbewusster, liebe Politiker!

Warum es richtig ist, die flankierenden Massnahmen – und andere Errungenschaften – mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Kommentar von Olivia Kühni, 15.08.2018

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Es ist noch immer Sommer, es gibt wie immer zu viele Nachrichten statt zu wenig. Lassen Sie mich darum gleich zum Punkt kommen, liebe Leserin, lieber Leser: Ich fürchte im Moment nicht zum ersten Mal, dass die politische Debatte in diesem Land nicht ganz auf der Höhe der Zeit ist.

Sie haben es wohl mitbekommen: Der Gewerkschaftsbund boykottiert die Gespräche mit dem Bundesrat zur Zukunft ebendieser Lohnschutzmassnahmen, die sich die Schweiz gegenüber der EU begleitend zu den bilateralen Verträgen ausbedungen hat. Hier finden Sie das Interview mit Signor Cassis, mit dem die Vertrauenskrise begann, in der Bern zurzeit steckt.

Sie werden in den nächsten Tagen und Wochen – auch hier bei der Republikeiniges an Analysen lesen, worum es im Detail geht, wer genau was will und was die einzelnen Parteienvertreter bis in die dritte Reihe hinten links und rechts dazu zu vermelden haben.

Doch mir geht es um etwas anderes. Ich frage mich gerade, ob die Herren und vereinzelten Damen, die unsere nationalen Politikdebatten dominieren, mitbekommen, was zurzeit auf der Welt passiert?

Was tun, damit es die Demokratien nicht in die Luft jagt?

Kurz: Die ganze wohlhabende Welt, allen voran die grossen europäischen Staaten und die USA, machen sich zurzeit Gedanken, wie sie ihre Politik so verändern können, dass es nicht alle modernen Demokratien in die Luft jagt. Was müssen und wollen wir korrigieren an der Politik der vergangenen Jahrzehnte, damit die Bürgerinnen wieder ihr Vertrauen in die Institutionen zurückgewinnen?

Für viele Wissenschaftler und Denkerinnen des 21. Jahrhunderts – gerade für die Jüngeren unter ihnen – sind zwei Dinge sonnenklar.

Erstens: Handel, Wissensaustausch und Personenfreizügigkeit machen die Welt grundsätzlich reicher, und das keinesfalls nur im ökonomischen Sinne. Leben, Kultur, Innovation blühen, wo Menschen aufeinandertreffen. Das ist eine Einsicht, die seit längerer Zeit mehr als gut belegt ist.

Zweitens: Das gilt zwar grundsätzlich, aber nicht automatisch: Es braucht gute Politik dazu. Es gibt Branchen, Menschen und Dinge (zum Beispiel: Landschaft) auf der Verliererseite – manchmal kurzfristig und vorübergehend, manchmal für immer. In einer Demokratie kann man sogenannte Globalisierungsverlierer nicht einfach jahrelang ignorieren, ohne dass es einem um die Ohren fliegt. Und manche Anliegen – etwa jene der Umwelt – sollte man selbst dann nicht ignorieren, wenn sie nicht für sich sprechen oder an der Urne abstimmen können. Einfach, weil einem der Platz auf Erden, an dem man nun mal lebt, nicht völlig gleichgültig ist.

Mit anderen Worten: «Wir brauchen ein Modell von Wohlstand und Wachstum, das umfassender, nachhaltiger und robuster ist.»

Von wegen Neiddebatte

Das schreibt nicht Ihr lokaler Protestverein, das schreibt die Universität Oxford auf der Website ihres Institute for New Economic Thinking, das sie im Mai 2012 mit Stiftungsgeldern an der Oxford Martin School eingerichtet hat.

Diese wiederum besteht seit 2005 und hat nicht weniger zum Ziel, als an den drängendsten globalen Problemen des Jahrhunderts zu arbeiten. «Wir investieren in Forschung, die über einzelne Disziplinen hinausgeht und die sich Themen wie dem Klimawandel, Krankheiten und Ungleichheit widmet», stellt sich das renommierte Institut vor. Die Hoffnung: «die Wohlfahrt heutiger und zukünftiger Generationen dramatisch zu verbessern».

Auch an Schweizer Universitäten befassen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit ähnlichen Fragen – in Zürich unter anderen etwa die Ökonomin Stefanie Walter.

Gerade die Ökonomie als Disziplin habe sich in den vergangenen Jahren enorm verändert, schrieb Bloomberg-Autor Noah Smith kürzlich in einem lesenswerten Essay zur Lage des Fachs: Die Forschung sorge sich über ganz andere Themen als früher, darunter prominent insbesondere um die zunehmende ökonomische Ungleichheit. «Es gibt noch immer einige konservative oder libertäre Ökonomen, die Sorgen um Ungleichheit als Neiddebatte abtun – aber sie werden selten und seltener.»

Wie als Bestätigung all dieser Entwicklungen – und als ironischer Kommentar zur Schweizer Debatte um die flankierenden Massnahmen – publizierte Harvard-Professor Dani Rodrik letzte Woche einen Leitartikel in der «Financial Times». Der schlichte Titel: «The WTO has become dysfunctional», die Welthandelsorganisation funktioniert so heute nicht mehr. Der Grund: Das Freihandelsregime sei in seiner aktuellen Form zu weit gegangen – ein faires und funktionierendes Handelssystem müsse Raum für Diversität lassen, und zwar in allen Ländern.

«Wenn Handel lokale Arbeitsstandards, Steuersysteme oder bereits getätigte Investitionen in künftige Technologien zu gefährden droht, sollten auch reiche Staaten diesen Anliegen Vorrang (…) geben dürfen.»

Darüber diskutiert man gerade, liebe Leserin, lieber Leser. Und zwar wie gesagt nicht (nur) bei Ihrem lokalen Protestverein, sondern an wichtigen Schaltstellen intellektueller, ökonomischer und politischer Macht.

Eine Pioniertat der Schweiz

Das bedeutet nicht, dass Herr Rodrik – oder überhaupt irgendwer, bei solch komplexer Sachlage – einfach recht hat. Robert H. Wade von der London School of Economics beispielsweise antwortete dem Kollegen nur wenige Tage später ebenfalls in der FT, dass die WTO sehr wohl gut funktioniere, wenn auch nur für reiche westliche Länder.

Wir kommen um ständige Debatten nicht herum, um politische Entscheide nicht und um Imperfektion nicht. Es gibt kein reines Glück, auch wenn Populisten das versprechen. Sondern nur mehr oder weniger sinnvolle Trade-offs.

«Die Flankierenden sind eine Meisterleistung der Konsensdemokratie – und eine Pioniertat.»

Damit zurück zu den Flankierenden. Ich halte sie nicht nur für eine Meisterleistung der Konsensdemokratie – sondern auch für eine Pioniertat. Die Schweiz tut manche Dinge immer wieder etwas vorsichtiger und nachhaltiger als andere Länder. Selbstverständlich nicht, weil sie klüger wäre als andere. Sondern weil ihr Konsensmodell und die ständige Referendumsdrohung ihrer Bürger die Schweiz zum gesellschaftlichen Ausgleich zwingen. Die flankierenden Massnahmen gehören zu diesen frühzeitig clever gelösten Dingen.

Sie haben uns im letzten Jahrzehnt vor einigen der explosivsten Probleme bewahrt, die im Moment viele europäische Länder quälen: Dequalifizierung von Handwerksberufen, Lohnzerfall am unteren Ende der Skala, steigende Einkommensungleichheit, extremistische Protestbewegungen.

Die EU – genau wie nach Ansicht Rodriks die WTO – wird sich langfristig vermutlich mehr in Sachen Ausgleich und pragmatischer Lohnschutz überlegen müssen, nicht weniger. So stehen die Zeichen. Kurz: Die Schweiz war hier der Zeit voraus.

Seien Sie selbstbewusster, liebe Politiker! Bieten Sie unser Modell als Prototyp für gemeinsames Lernen an (perfekt ist es nicht), verhandeln Sie unbedingt über klügere und möglichst unbürokratische Wege.

Aber bitte hören Sie auf, mit bravem Scheitel knicksend unsere Ware feilzubieten, als wären Sie die vergangenen Jahre der Welt ferngeblieben.

Und zwar nicht, weil Handel, Freizügigkeit, Lebendigkeit und Wachstum des Teufels wären. Sondern im Gegenteil gerade darum, weil sie der richtige Weg sind – aber so, dass es auch langfristig gut kommt.

Debatte: Ist das Rahmenabkommen mit der EU noch zu retten?

Ist das Festklammern der Gewerkschaften an den FlaM gerechtfertigt und zielführend? Kann der Bundesrat bei seinen Verhandlungen mit den Sozialpartnern zu einem Resultat kommen? Oder braucht es einen Kompromiss? Doch wie könnte der aussehen?

Lesen Sie auch die anderen, unten angezeigten Artikel zum Thema, und unterhalten Sie sich heute Donnerstag mit den Autorinnen und Autoren Daniel Binswanger, Urs Bruderer, Carlos Hanimann, Olivia Kühni und Daria Wild. Hier gehts zur Debatte.

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