Aus der Serie «Les Amours extraordinaires», von Guillaume Perret. Guillaume Perret/Lundi 13

Lustprinzip

Warum wir uns mehr Zeit lassen sollten

Alles geht heute. Aber was ist mit den Gefühlen? Wie soll man sich verlieben, wenn man schon am ersten Abend miteinander ins Bett geht? Ein Plädoyer für die Geduld – und die Entdeckung der Zwischentöne.

Von Anna Miller, 09.08.2018

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Da liegst du, in meiner Wohnung, liegst auf meinem Sofa, manchmal trinken wir Wein, manchmal knutschen wir, manchmal bleibst du über Nacht, aber auch dann läuft nichts, irgendwann drehst du dich zur Seite, ich mache das Licht aus, und am nächsten Morgen hören wir uns die Nachrichten im Radio an, manchmal mache ich den Kaffee, und manchmal machst ihn du.

Wir kennen uns seit 24 Tagen, wir haben uns per Zufall getroffen, ich mochte deine unerschrockene Art und dass du dich selbst nicht zu ernst nimmst. Seither haben wir uns sicher ein Dutzend Mal verabredet. Wir schauen zusammen Fussball oder gehen mitten in der Nacht Burger essen, ab und zu telefonieren wir. Bin ich verliebt? Sehne ich mich nach einer Beziehung mit dir? Wird es uns in einer Woche, einem Jahr noch geben? Ich weiss es nicht.

Ich habe Lust auf dich, grosse. Aber ich werde dich nicht ins Bett zerren. Weil es alles platt walzt, wenn der zweite Schritt vor dem ersten kommt. Immer wieder klagen meine Freundinnen, dass sie sich einfach nicht mehr verlieben in ihre neue Bekanntschaft oder er sich irgendwie doch nicht so sehr in sie. Wie denn, frage ich dann zurück, wenn ihr am ersten Abend Oralsex hattet?

Ich will dich zuerst erahnen, bevor ich dich ertaste.

Ich will wissen, wie sich dein Schlüsselbein anfühlt, bevor ich weiss, wie du klingst, wenn du kommst. Wie sich ein Nein bei dir anfühlt, ohne dass du es aussprechen musst. Ich möchte, dass dein Atem auf meiner Haut reicht, mich schwindelig zu machen.

Ich möchte dich zuerst als Menschen spüren, ehe ich dich als Mann spüre.

Ich möchte, dass es sich wieder so anfühlt wie mit 15. Als ich meinem damaligen Schwarm auf dem Pausenhof nach der Schule näherkam, auf dieser kleinen Mauer hinter der Kirche, und es reichte, dass sich unsere Oberarme beinahe berührten, unsere Hände nicht mal. Aber ich, ich hatte ein rasendes Herz, ich hatte die grössten Fantasien. Eine kurze Berührung fühlte sich an wie der beste Sex, all das, was unausgesprochen, unangetastet in der Luft lag, lud sich auf, über Wochen, über Monate, mit jedem Blick, mit jedem Zettelchen in der Pause.

Persönliche Protokolle zum Thema Liebe

Wir haben Menschen zu ihren Erfahrung zum Thema befragt. Ihre sehr persönlichen Geschichten lesen Sie hier.

Da war diese klare Grenze vor dem ersten Sex, und diese Zeit davor offenbarte so viele Zwischentöne. Sie liess Raum für Sinnlichkeit, für ein naives Herantasten. Die Zeit lief langsamer, und sie war aufgeladen, lautlos, schwerelos.

Toast Hawaii

Bei dir habe ich am Anfang gar nicht gedacht, dass du mir körperlich gefällst. Wir sassen in einer Bar und haben geredet, haben Witze über Tinder gemacht, und nach einer Weile hattest du diesen Blick, der verrät, dass du jetzt mit mir nach Hause kommen würdest. Ich fand das lustig und klischeehaft, ein paar Minuten mit einer Frau reden, und schon ist alles möglich. Und wie sonderbar. Du kennst mich doch gar nicht.

Jetzt, drei Wochen später, stehe ich in deiner Küche, und wir machen Toast Hawaii und regen uns darüber auf, dass der Käse nicht so schmilzt, wie er sollte, und dabei trinken wir Bier aus der Flasche. Wenn es Abend wird, spiegelt sich das letzte Sonnenlicht an der Fensterfront deiner Wohnung. Du hast schöne Hände, und wenn ich dir dabei zusehe, wie du damit kochst, wie du den Druck verlagerst und deine Fingerspitzen die Dinge festhalten, dann erahne ich, wie es sein könnte, mit dir.

Wie sehr kenne ich dich, weil ich mit dir schlafe?

Wie sehr kennst du mich, wenn du es nicht tust?

Auch bei mir kommt es vor, dass ich am ersten Abend mit einem Mann knutsche. Aber danach gehe ich allein nach Haus, und beim zweiten Mal verabreden wir uns zum Kaffee und starten von vorn. Vielleicht lege ich dann meine Hand in seinen Nacken und rede davon, wie meine Schulzeit war, vielleicht übernachtet er bei mir auf dem Sofa. Aber über Wochen nicht in meinem Bett. Ich lasse mir Zeit, viel Zeit für die heutige Zeit, ein paar Wochen können es werden oder zwei, drei Monate.

Ich kenne niemanden, der das so handhabt. Manchmal frage ich mich, wer eigentlich verrückter ist: die, die sich nach zwei Stunden mit einem Fremden vergnügen, oder ich, die ich mich erst emotional öffne, bevor ich mich körperlich öffne. Ich frage mich: Welche Variante ist gefährlicher? Welche intimer?

Denn das ist ja nicht einfach. Miteinander ins Bett zu gehen, wenn man schon fast ein Paar ist, und dann vielleicht feststellen, dass es dort gar nicht harmoniert. Dass er zu grob oder zart oder klein oder gross ist. Da kann man sich dann nicht einfach aus dem Staub machen.

Du musst Sex haben

Sex ist heute überall. Alle Barrieren, mit denen ihn frühere Gesellschaften eingehegt haben, sind gefallen. Wir haben alles aus dem Weg geräumt, was unseren Trieben im Weg stehen könnte. Wir haben unsere Freiheiten salonfähig gemacht. Haben One-Night-Stands, lieben Menschen, die das gleiche Geschlecht haben oder eine andere Religion oder dreissig Jahre älter sind, und das alles ist grossartig.

Aber: Ist es auch erlaubt, zu zaudern? Zu warten? Sich zurückzuhalten? Gilt der Imperativ: Du musst Sex haben – unumschränkt? Ist Widerstand erlaubt? Darf eine dreissigjährige Frau sich drei Monate Zeit lassen, ehe sie sich zum Beischlaf entschliesst?

Es ist noch nicht lange her, da haben sich die Menschen vor ihrer Haustür kennengelernt, in ihrer Strasse, ihrem Dorf, ihrem Block, beim Einkaufen, beim Tanzen, beim Warten auf dem Bahnsteig und blieben dann ein Leben lang zusammen. Ich habe einmal in einem Altersheim Senioren über die Liebe befragt, und einer von ihnen erzählte mir seine Geschichte, die ich bis heute nicht vergessen habe:

Als Bäckerlehrling, mit 18 Jahren, sah er eine junge Frau, die er besonders hübsch fand. Jeden Morgen um halb zehn fuhr sie vorbei auf ihrem Rad, also stellte er sich jeden Morgen um halb zehn, wenn er Pause hatte, vor den Laden und wartete, bis das Mädchen an ihm vorbeifuhr. Zwei Jahre lang.

Bis er eines Morgens all seinen Mut zusammennahm und sie ansprach. So lernten sie sich kennen, und als er für ein halbes Jahr ins Militär ging, schrieben sie sich Briefe. Später haben sie geheiratet. Ihre Ehe hielt mehrere Jahrzehnte.

Das mag viele Gründe haben. Aber einer davon war ganz sicher: das Warten. Die Freude. Die lange Zeit zwischen dem ersten Kennenlernen und dem ersten Sex. Ich habe viele solcher Liebesgeschichten gehört, die zu langen Ehen wurden. Und es ist immer das gleiche Muster.

Zu viel, zu müde

Ja, auch ich möchte nicht so leben wie vor fünfzig Jahren, mit all diesen Zwängen, dieser minimalen Auswahl an potenziellen Partnern, auch ich möchte nicht erst fünfmal zusammen tanzen gehen, bevor der erste Kuss fällt. Und doch. Manchmal fühle ich mich wie aus der Zeit gefallen.

Wir sehnen uns nach wilder Körperlichkeit und ertragen keine Oben-Ohne-Strände mehr. Wir laden Pferdepornos runter, verziehen aber das Gesicht, wenn das Paar im Nachbarhaus gern in einen Swingerclub geht. Wir taumeln durch unsere sexualisierte Welt und kommen furchtbar durcheinander, so sehr, dass wir alle nicht mehr wissen, woran wir uns halten sollten.

Wir zensieren Brustwarzen auf Facebook und zahlen dann hundert Franken für eine Stunde Sex in einer Seitenstrasse, wir wollen vulgäre Wörter in unseren Schlagzeilen, aber reden nicht darüber, dass es tausend verschiedene Vulva-Formen gibt. Wir wollen versaute Sexgeschichten, duschen aber alle dreimal täglich, wir verurteilen die Kirche für ihre Haltung, keine Kondome zu benutzen, und lassen sie beim One-Night-Stand dann plötzlich weg.

Wir konsumieren Menschen, fühlen uns kurz wach im Kopf, um dann umso müder wieder in unsere Realität zu sinken und uns zu fragen, was eigentlich mit uns nicht stimmt. Wer heute mit dreissig noch Jungfrau ist, für den gibt es Selbsthilfegruppen mit dem Namen «Absolute Beginners», dort kann man sich anonym darüber austauschen, wie problematisch alles ist. Hauptsache, die Welt schaut sich «Fifty Shades of Grey» an, und niemand sagt offen, dass er noch nie einen Orgasmus hatte beim Sex.

Und bei all dem hat meine Generation Angst vor Bindung, die Krankheit unserer Zeit. Alle wünschen sich die grosse Liebe, aber keiner glaubt mehr daran. Lebensabschnittspartner ist das Maximum, was wir heute noch schaffen. Jahrzehntelange Stabilität ist nichts, womit sich unsere Generation gern schmückt. Lieber holen wir das Maximale aus dem Moment heraus, auch wenn uns das vielleicht überfordert. Auch wenn es uns die Möglichkeit nimmt, das Gegenüber mit Ruhe zu ertasten.

Und dann sitzen die meisten von uns drei Monate nach dem ersten Sex in einer Bar und wundern sich, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben. Entdecken, dass sie im Alltag nicht zueinander passen. Dass sie sich hineingesteigert haben in etwas, das keine Bindung war, sondern eine hormonelle Achterbahnfahrt, so rasch verpufft, wie sie angefangen hat.

Ich kann dazu nur sagen: Lassen wir uns mehr Zeit. Dann klappts vielleicht auch mit der Romantik.

Entdecken wir Menschen so naiv, wie wir das getan haben, als Sex noch das Ultimative war, das andere Ende der Skala, das, was nach tausend Zwischentönen kommt. Entdecken wir ihn langsam, mit Sorgfalt, mit Achtsamkeit. Sehen wir ihm in die Augen, bevor wir ihn ausziehen. So kitschig das klingt: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Nutzen wir ihn. Kosten wir ihn aus. Lassen wir ihn funkeln. Damit er wirkt.

Und jetzt?

Inzwischen ist eine Woche vergangen. Ich kenne dich jetzt schon seit 31 Tagen, und ich kenne dich inzwischen gut. Die Höhe deiner Stimme ändert sich je nach Tagesform und danach, worüber du gerade sprichst. Du magst den Rotwein 18 Grad kühl und fotografierst Mäuse im hohen Gras, wenn du per Zufall an ihnen vorbeiläufst.

Ich frage mich immer häufiger, wie der Sex zwischen uns wäre, und mittlerweile glaube ich, er wäre ziemlich gut. Vielleicht wird es aber auch eine Katastrophe, peinliche Stille, wir hören dann durch das offene Fenster, wie der Linienbus an der Haltestelle hält, versuchen, unsere Körper möglichst geschmeidig ineinander gleiten zu lassen und müssen dann zugeben, dass es mehr schlecht lief als gut.

Dann werden wir vielleicht darüber lachen können. Oder auch nicht. Und dann werden wir weitersehen.

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Schildern Sie uns hier in den kommenden Tagen jeweils zwischen 10 und 22 Uhr Ihre Höhenflüge, Wünsche, Traumpartner. Anonym.

Zur Autorin

Anna Miller, 30, ist freie Journalistin und Autorin. Sie schreibt am liebsten über Menschen, die Liebe, den Tod und alles dazwischen. Ihre Texte erscheinen u.a. in der «Zeit», dem «Magazin», der «NZZ am Sonntag» und dem «SZ Magazin».

Zu den Bildern dieser Themenwoche

Für seine Serie «Aussergewöhnliche Liebschaften» hat Guillaume Perret atypische Paare fotografiert. Menschen, deren Liebe gesellschaftlich stigmatisiert ist. Etwa wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung, des Altersunterschieds oder einer Behinderung. Entstanden sind einzigartige und sehr persönliche Porträts, die zeigen, dass letztendlich alle Formen von Liebe schön sind.

Guillaume Perret lebt und arbeitet im Kanton Neuenburg und ist Gründungsmitglied der Agentur Lundi 13. In seinen Arbeiten versucht er die zerbrechliche Schönheit der menschlichen Existenz zu erfassen. Die Intimität, die er dabei einfängt, sagt auch viel über unsere Gesellschaft aus.

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