Aus der Serie «Les Amours extraordinaires», von Guillaume Perret. Guillaume Perret/Lundi 13

Lustprinzip

Wie meine Freunde und ich mit Offenheit und Treue experimentieren

Gibt es Fortschritt? Nimmt die Verklemmtheit ab? Oder sind offene Beziehungen nur eine wilde Phase? Steht am Ende doch die monogame Zweisamkeit? Ein Erfahrungsbericht.

Von Michael Kuratli, 08.08.2018

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Fortschritt ist messbar. Als ich Anfang zwanzig war, gab es auf Facebook neben den althergebrachten Schubladen nur einen anderen Beziehungsstatus: «Es ist kompliziert.» Und das traf es.

«Es ist kompliziert» wurde zum Rettungsring, wenn eine Freundin nach Worten rang, um ihre Liebschaft zu beschreiben, von der sie in verdächtiger Regelmässigkeit berichtete. Eine Affäre, ein Ding irgendwo zwischen Kinobesuch und zärtlichem Abschiedskuss, irgendwo zwischen Three-Night-Stand und Bettlaken voller Croissantkrumen. «Es ist kompliziert» war die Kurzversion für lose sich anbahnende Drei- oder Mehrecksbeziehungen, bei denen wahlweise alle über alles informiert waren oder niemand genau wusste, was die «Affäre» sonst noch trieb.

Persönliche Protokolle zum Thema Liebe

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Die ausführliche Version füllte bierselige Abende, bei denen meine Freunde und ich uns auf den neusten Stand der Irrungen und Wirrungen brachten. Manche Namen brauchte man sich nicht zu merken, ein paar wuchsen zu platonischen Freunden heran, andere tauchten unvermittelt wieder auf. Es war kompliziert, und wir wollten es so. Wir waren jung, wild und sehr darauf bedacht, uns nur ja nicht zu stark zu binden. Aber doch gerade so, dass es bedeutungsvoll war.

Dramen waren dabei vorprogrammiert. Manchmal erschien uns unser Leben wie eine Telenovela. Wir litten an gebrochenen Herzen, halbherziger Bindungsbereitschaft, schwelgten in Leidenschaft und Enttäuschung und gewannen die Erkenntnis, dass Liebe relativ ist.

Zur Lage der Beziehungen

Unsere Zwanzigerjahre neigen sich dem Ende zu. Zeit ist wertvoller geworden wie auch die Frage, mit wem man sie verbringt. Aus Freunden wurden gute Freunde, oder man versucht, sich im Supermarkt zu ignorieren. Alles wird etwas ernster. Und mit dem Ernst zieht auch die Erwartung in die Beziehungen ein, emotional und körperlich exklusiv zu sein. WGs werden aufgelöst, man wohnt allein oder zieht bei der «Partnerin» ein. Statt Einladungen zu WG-Partys flattern nun regelmässig Hochzeitskärtchen oder Geburtsanzeigen ins Haus. Fast scheint es, als hätten wir einfach die Lebenswelt unserer Eltern kopiert: Monogamie, gemeinsame Wohnung, gemeinsames Glück.

Doch da existiert noch eine andere Realität. Ich muss nur einmal im näheren Umfeld herumfragen, um festzustellen, dass sich zur unheimlichen Zweisamkeit klammheimlich eine Parallelwelt entwickelt hat. Offene Beziehungen sind en vogue, und die Vielfalt ist so gross wie die auf einer Blumenwiese in der Wüste nach einem Regenfall. Wobei, um im Bild zu bleiben, an allen Ecken und Enden der Wassermangel droht:

Da ist das Paar, das jedes Jahr zur gleichen Zeit eine Woche Ferien nimmt – um jeweils allein zu verreisen. Ein schwarzes Loch in Raum und Zeit, in dem alles geschehen darf, irgendwo auf der Welt – nur nicht im gemeinsamen Zuhause. Eine Woche lang liegen sie von ihren Partnern getrennt unter anderen Menschen oder doch nur mit einem Buch am Strand und geben sich dem Gefühl hin, sexuell und emotional unabhängig zu sein. Danach kommen sie beide nach Hause – und schweigen und leben wieder 51 Wochen in Treue.

Paar zwei ist kommunikativer. Die Verfassung ihrer Beziehung wurde über die Jahre immer wieder revidiert. Früher galt «Don’t ask, don’t tell»: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss. Bis sich herausstellte, dass sie seit Jahren ein Verhältnis mit einem gemeinsamen Freund hatte. Der Freundeskreis rümpfte die Nase. Woraufhin sie in zehnfacher Ausgabe ein Büchlein über offene Beziehungen bestellte, um damit bei all jenen monogam Verblendeten zu missionieren. Es folgte: die unvermeidliche Paartherapie. Dabei wurde vereinbart, dass sexuelle Eskapaden zwar weiter erlaubt sind, jeder aber sein Vetorecht einlegen darf. Die Verhandlung im akuten Fall erfolgt per Telefon. Die Bilanz: Sie bekam bislang noch keinen Anruf von ihm. Er bekam bislang mehrere Anrufe von ihr – und legte jedes Mal sein Veto ein.

Paar Nummer drei machte von Anfang an klar: «Ich will mit dir mein Leben verbringen, aber du wirst nicht die letzte Person sein, mit der ich im Bett war.» Emotionale Treue, sexuelle Freiheit. Entsprechend die beiden Grundregeln: nicht im Freundeskreis, nicht mehr als dreimal mit derselben Person. Ein Fortschritt, gemessen an den 68ern, wo es bekanntlich hiess: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.

Sie erzählen sich alles, jedes Detail, diskutieren jede Gefühlsregung, schliesslich sei das ein Zeichen des Vertrauens, und die Beziehung gewinne an Tiefe, «wenn mein Partner mich nicht besitzen will, sondern sich darüber freut, wenn ich schöne Erfahrungen mache». Inzwischen haben sie ein Kind zusammen. An der Offenheit änderte sich nichts. Und das, obwohl die Regeln ein paarmal gebrochen wurden. Sie schlief mit einem Arbeitskollegen und verliebte sich in ihn. Meine Freunde blieben auch da zusammen – und meldeten sich in einer Paartherapie an.

Das vierte Paar ist an seiner Offenheit gescheitert. Sie haben es lange miteinander versucht. Über Jahre hinweg haben sie ihr Regelwerk angepasst. Hatten immer wieder intensive, auch emotionale Beziehungen ausserhalb ihrer Zweierkiste – und fanden immer wieder zu sich. Bis sie ihn für einen anderen verliess. Er war am Boden zerstört und schwört sich heute, es beim nächsten Mal anders zu machen. Nie wieder, sagt er, werde er die Beziehungsbüchse der Pandora öffnen.

Eine kleine, stabile Oase mit schönen Blüten und offenen Bestäubungsverhältnissen bleibt das letzte Paar. Seit ungefähr zehn Jahren führen sie miteinander eine Beziehung – sowie je eine stabile Seitenbeziehung. Fast schon grenzt dieses Verhältnis an Polyamorie, wäre da nicht der Anspruch, dass immer klar ist, wer die Stammbeziehung ist und wer die Nebenblüte.

Freiheit und andere Komplexe

Und ich? Ich mache gerade eine bürgerliche Schnellbleiche durch. Vor wenigen Monaten bin ich mit meiner Freundin in eine neue, gemeinsame Wohnung gezogen. Ein wahnwitziger Schritt, kennen wir uns doch noch nicht einmal ein Jahr. Als Paar würden wir uns frühestens seit dem Einzug bezeichnen. Wir haben eine ähnliche Geschichte, über das Thema offene Beziehung haben wir schon beim ersten Date geredet. Und haben uns dann entschieden, vorerst monogam zu leben.

Wir erzählen uns von unseren Freunden, ihrem Herumtasten, ihrem Scheitern. Fragen uns: Wie weit kann man sich emotional für andere öffnen, ohne die eigene Verbundenheit zu gefährden? Wie wichtig ist uns körperliche Treue? Wenn Sex mit anderen nicht nur beliebige One-Night-Stands bedeuten soll, wie weit wären wir zu gehen bereit? Wie werden sich unsere Bedürfnisse und Rollen wandeln? Würde uns die gemeinsam ermöglichte Freiheit stärker machen? Oder uns die Verlustangst zerreissen?

Wir wissen es nicht. Ohnehin ist es erst mal wichtiger, dass wir eine Garderobe kaufen.

Meine Freunde und ich, wir probieren aus, was es heisst, sich mit Herz und Körper frei zu bewegen, in der urbanen Welt zwischen Uni und Kunsthochschule. Es wäre vermessen, von einer Generation zu reden, vielleicht sind wir nur wenige. Und ich frage mich bis heute: Wer sind wir?

Wir hinterfragen nicht nur die Welt, sondern auch uns selbst unentwegt.

Wir lieben furchtlos und fürchten nichts mehr als die Lieblosigkeit.

Wir wollen absolute Freiheit und absolute Verbundenheit.

Wir lieben unsere Freunde dafür, dass sie neue Aspekte aus unserem Selbst herauskitzeln. Manche nur auf der Tanzfläche, manche auch zwischen den Laken.

Unsere Erkenntnis bis hierhin: Liebe ist relativ. Wir wissen, dass der eine Partner im besten Fall nur einen überragenden Teil unserer Persönlichkeit abdecken kann. Aber nie die Gesamtheit.

Fortschritt ist messbar: Bei Facebook kann ich heute auch angeben, ob ich «in einer Lebensgemeinschaft» oder «in einer offenen Beziehung» bin. Doch was helfen die neuen Schubladen? Ich weiss nicht, wohin wir treiben, meine Freunde und ich. Ob am Ende doch die Häuslichkeit über die neuen Freiheiten siegt oder ob wir einen gangbaren Mittelweg beschreiten. Ich weiss nur: Es bleibt kompliziert.

Erzählen Sie uns Ihre Geschichte

Schildern Sie uns hier in den kommenden Tagen jeweils zwischen 10 und 22 Uhr Ihre Höhenflüge, Wünsche, Traumpartner. Anonym.

Zu den Bildern dieser Themenwoche

Für seine Serie «Aussergewöhnliche Liebschaften» hat Guillaume Perret atypische Paare fotografiert. Menschen, deren Liebe gesellschaftlich stigmatisiert ist. Etwa wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung, des Altersunterschieds oder einer Behinderung. Entstanden sind einzigartige und sehr persönliche Porträts, die zeigen, dass letztendlich alle Formen von Liebe schön sind.

Guillaume Perret lebt und arbeitet im Kanton Neuenburg und ist Gründungsmitglied der Agentur Lundi 13. In seinen Arbeiten versucht er die zerbrechliche Schönheit der menschlichen Existenz zu erfassen. Die Intimität, die er dabei einfängt, sagt auch viel über unsere Gesellschaft aus.

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