Am Gericht

Das Wohl des Kindes

«Es geht um das Kind», sagt die Mutter und legt die Ohrenoperation des Jüngsten in die geplanten Familienferien ihres Ex-Partners. Zu Recht?

Von Sina Bühler, 08.08.2018

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Ort: Kreisgericht Rheintal
Zeit: 24. Juli 2018, 9 Uhr
Fall-Nr.: ST.2017.33142
Thema: Besuchsrecht, Einsprache gegen einen Strafbefehl

Braun gebrannt, in Flipflops und Sommerkleid sitzt sie im Vorzimmer, beladen mit Rucksack und Umhängetasche. Sie lächelt alle an. D. Z., 40 Jahre alt, fünf Kinder, die drei jüngeren mit ihrem ehemaligen Partner U. Die Kommunikation zwischen den beiden Ex-Partnern scheint seit längerem nicht mehr zu funktionieren, sonst hätte die Kesb keine Verfügungen zum Besuchsrecht erlassen, die Sozialen Dienste keine Weisung mit genauen Daten, die Staatsanwaltschaft keinen Strafbefehl. Den Strafbefehl, um den es hier geht, bekam Z. letzten Oktober: Sie hatte den Jüngsten nicht dem Vater in die Sommerferien übergeben. Als U. die Tochter und die beiden Söhne am 15. Juli 2017 abholen will, kommen nur zwei. Der Kleine müsse in drei Tagen operiert werden, beschied ihm die Älteste. Er könne deshalb nicht mit nach Paris. U. klagte.

«Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen» entschied die Staatsanwaltschaft und büsste Z. mit 500 Franken und Gebühren von 450 Franken. Sie wehrte sich dagegen vor dem Kreisgericht in Altstätten.

Dort sitzen neben der Beschuldigten nur Einzelrichter Mark Schärz und die Gerichtsschreiberin. Von der Staatsanwaltschaft ist niemand da, Z. verzichtet auf einen Verteidiger. Der Richter belehrt die Frau über ihre Rechte und fragt sie, wie sie sich heute fühle. Noch lächelt Z., sagt nervös: «Schwierig …», und belässt es dabei. Sie arbeite als medizinische Praxisangestellte, erklärt sie dann, doch weil der Richter sie vorher darauf hingewiesen hat, dass sie die Aussage verweigern kann, tut sie das auch: Sie will nicht sagen, wie viel sie verdient. Selbst dann nicht, als sie erfährt, dass das für die Berechnung der Busse wichtig wäre.

Dann soll sie den Vorfall mit den Ferien schildern. Und sagt zum ersten Mal jenen Satz, den sie bis zur Urteilsverkündung noch 15 Mal sagen wird: «Es ging mir um die Gesundheit meines Kleinsten, die geht vor. Das Kind steht für mich im Vordergrund.» Er habe schon länger Probleme mit den Ohren gehabt, hörte wenig, war in der Logopädie. «Ich war froh, dass er möglichst schnell operiert werden konnte, auch wenn es in die Ferien mit seinem Vater fiel», sagt Z. Sie legte den Operationstermin fest, ohne mit diesem zu reden. Die Ärztin habe das Datum vorgeschlagen, und sie habe nicht daran gedacht, wann der Vater seine Ferien habe. «Ich habe so viele Termine. Ich habe keine Agenda im Kopf.»

«War es eine Notfalloperation?», fragt der Richter. Z. antwortet indirekt: «Ich meine, es geht um die Gesundheit meines Kindes. Jeder, der selber Kinder hat, weiss, wie es ist, wenn das Kind leidet.» Die Ärztin sagte der Staatsanwaltschaft vorab, sie hätte den Termin auf später verschoben, hätte sie von den Ferien gewusst.

Jedenfalls meint Z., sie habe die Terminkollision etwa zehn Tage später bemerkt und habe den Vater dann informiert. Der Vater bestreitet das. Und der Beistand, über den eigentlich die gesamte Kommunikation laufen sollte, wusste ebenfalls von nichts – «ein Fehler», sagt Z. Der Richter fragt, warum die Kesb es überhaupt für nötig befand, den Beistand einzusetzen. «Es geht um die Kommunikation», antwortet sie und lacht verlegen.

Der Richter will es ganz genau wissen – was wann passierte, wie es dem Sohn ging, wie die Mutter jeweils reagierte. «Es geht um die Gesundheit meines Kindes!», kommentiert Z. Frage um Frage. Irgendwann kippt ihre Stimme, wird zittrig und bleibt es bis zuletzt. Sie vertut sich mit den Daten, mit dem Ablauf, mit der Dramatik der medizinischen Probleme. Als sie sich erstmals gegen den Strafbefehl wehrte, schrieb sie noch, das Hörleiden hätte seit einem halben Jahr bestanden. Jetzt im Gerichtssaal meint sie: «Alles kam innerhalb eines Monates heraus.» Sie habe schnell handeln müssen, das Kind habe gelitten. Schärz ist sichtlich verärgert und fragt: «Frau Z., verstehen Sie mich? Ich habe Sie vorhin extra gefragt, ob er noch Schmerzen hatte. Sie haben Nein gesagt.» Es sei echt nicht mehr schön gewesen, sagt Z. als Antwort, sie weiss nicht mehr alles so genau. Schärz ist wenig beeindruckt: «Wenn Ihnen das Kind das Wichtigste ist, erwarte ich, dass Sie das genauer sagen können.» Z. knetet ihre Hände.

«Möchten Sie noch etwas ergänzen? Möchten Sie sich zur Strafe äussern?» «Joo …», sagt die Beschuldigte und dann nichts mehr. Erst zuletzt, als sie ein Schlusswort halten darf, spricht sie, lange, sehr lange: «Ich kann nur sagen, dass es mir wirklich nur ums Kind ging. Dass ich ihm nicht ewig Schmerzmittel geben will. Ich kann nicht verstehen, dass man als Vater so reagiert. Wenn man davon ausgeht, dass es um das eigene Fleisch und Blut geht …» Z. weint jetzt. «Es ist vielleicht bös gesagt, aber eine Kesb ist so kaltblütig, wenn sie entscheidet, das Kind müsse zum Vater, auch wenn es sagt: ‹Mami, ich bin einfach froh, wenn ich wieder höre, keine Schmerzen habe, schlafen kann.›» Die Verfügung sei einfach ein Blatt Papier, wo weiss nicht was draufstehe. Die Gesundheit stehe aber weiter oben: «Irgendwann muss das Mami hinstehen und sagen: ‹He! Es ist mein Kind!› Schliesslich habe ich die Sorge, ich muss es verantworten.»

Dreissig Minuten lang will das Gericht sich beraten, Z. wird aus dem Zimmer geschickt, und dieses Mal lächelt sie nicht mehr. Mit verschränkten Armen und verkniffenem Mund wippt sie mit dem rechten Fuss. Z. wird schuldig gesprochen, gegen eine behördliche Verfügung verstossen zu haben. Die Busse wird auf 400 Franken reduziert, die Gebühren haben sich auf 1682.05 Franken erhöht.

«Ihre Aussagen sind widersprüchlich gewesen, dramatisierend und überfürsorglich», begründet der Kreisrichter den Entscheid: «Die Gesundheit ist wichtig, doch Sie kannten die Rahmenbedingungen der Kesb-Verfügung.» Es war schon die zweite Verfügung gewesen, in der ersten war noch keine Strafe vorgesehen. Dann zitiert Schärz aus den Akten: Seit 2014 habe die Mutter schon mehrfach Ferien mit dem Kindsvater verhindert, unter anderem, als sie einfach mit den Kindern ins Tessin reiste, während diese dem Vater zugeteilt waren. «Ich hatte die Ferien schon gebucht», fällt ihm Z. ins Wort. Der Richter wehrt ab, will jetzt nicht darüber reden. Er will ihr lieber noch etwas Persönliches mitgeben: Wenn ihr das Kindswohl so wichtig sei, wie sie sage, müsse ihr auch bewusst sein, dass ein Streit, der über die Kinder ausgetragen werde, dem Kindswohl sicher nicht förderlich sei. «Es gehören zwar immer zwei dazu, aber laut den Akten der Kesb liegt die Problematik eher darin, dass Sie immer wieder verhindern, dass die Kinder den Vater sehen.» Die Verhandlung ist geschlossen, das Urteil noch nicht rechtskräftig. Z. schluchzt.

Illustration Friederike Hantel

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