Aus der Serie «Les Amours extraordinaires», von Guillaume Perret. Guillaume Perret/Lundi 13

Lustprinzip

Warum Monogamie moderne Sklaverei ist

«Die Ehe ist eine Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebs», wusste schon Gottfried Benn. Ein Plädoyer für mehr Offenheit, mehr Ehrlichkeit und mehr Lust in unseren Betten.

Von Michael Rüegg, 07.08.2018

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Man stelle sich vor: zwei Fünfzigjährige im Gespräch. Der eine erzählt, dass er seit 25 Jahren in einer offenen Beziehung lebt. Der andere bekundet Mühe damit: «Ich war immer monogam», sagt er stolz, «in jeder meiner drei Ehen.»

In den folgenden Zeilen will ich kein gutes Haar an der Monogamie lassen. Nicht, weil ich ihre Anhänger verurteile. Es gibt sicher Paare, die aus Überzeugung und echter Lust aneinander ein Leben lang monogam sind. Ihnen gratuliere ich von Herzen.

Über die Mehrheit will ich schreiben. Die Mehrheit, die betrügt, fremdgeht, Prostituierte aufsucht, mit dem Partner einen Deal hat, Freiräume nutzt, in einer offenen Beziehung oder polyamorid lebt.

Ich schreibe als Angehöriger dieser Mehrheit, ohne die Minderheit verurteilen zu wollen.

Wie alles begann

Bald zwanzig Jahre ist es her, seit ich, an einem Sonntagnachmittag, im Zug nach St. Gallen sass. Mein damaliger Lebensabschnittspartner rief an. Ich log, dass ich zu Hause sässe. Und dachte: «Hoffentlich kommt jetzt keine dieser Lautsprecherdurchsagen.» Denn ich war auf dem Weg, ihn zu betrügen, mit einem Koch, der gerade Zimmerstunde hatte. An den Sex mit dem Koch erinnere ich mich noch heute gern. Genauso wie an viele schöne Momente mit meinem Ex-Partner.

Ja, ich versuchte es mit der Monogamie. Immer wieder. Doch wir waren einfach kein passendes Paar. Ich kam mir vor wie ein Tier, das in einen Käfig gesperrt wurde, statt die Savanne durchstreifen zu können. Vielleicht ein Raubtier, auf der Jagd nach Beute. Oder – mit weniger Pathos – ein Erdmännchen, das unter Steinen nach Würmern und Käfern sucht.

In den ersten Jahren hatte ich noch ein schlechtes Gewissen, wenn ich ausserhalb von Beziehungen Sex hatte. Das bekommt man jahrelang eingeimpft. In fast allen Büchern, Filmen, im Alltag: Die Rollen sind verteilt. Wer fremdgeht, ist ein Täter, die Betrogene ein Opfer.

Eigentlich begann meine Fremdgeherkarriere bereits vor meiner Geburt. Meine Eltern streiften die 1968er nur am Rande. Sie lebten im Tessin, wo man nicht allzu viel von Studentenprotesten und dergleichen mitbekam. Doch immerhin schaffte es die sexuelle Befreiung bis an den Luganersee. Mein Vater war in jungen Jahren ein Schürzenjäger. Damals trug man vermutlich noch Schürzen. Meine Mutter nervte die Untreue ihres frischgebackenen Ehemanns. Und so suchte auch sie sich einen Lover. Aber die Ehe hielt allem stand. Die beiden feierten neulich goldene Hochzeit.

Dabei hätte meine Mutter es doch wie meine Oma, ihre Schwiegermutter Martha, handhaben können, mit rasender Eifersucht: Eines Tages, nach vielen Ehejahren, fand sie beim Bettenmachen nur noch eine von Opas beiden Socken. Die andere blieb verschwunden. Für Martha war der Fall klar: Walti betrügt sie, die Socke lag bei irgendeinem Luder auf dem Bettvorleger. (Sie hat es ja immer gewusst, er hat eine andere!) Oma Martha heulte lautstark und bitterlich, den ganzen Tag. Bis die Socke am Abend zwischen Matratze und Bettstatt zum Vorschein kam.

Hat nicht möglicherweise der Milchmann bei Oma Martha auch gelegentlich zweimal geklingelt? War sie wirklich immer die tugendhafte Ehefrau, die sie in der Öffentlichkeit gab?

Ich bin der festen Überzeugung, dass Monogamie für die Mehrheit der Menschen nur eine Fassade ist. Mal hat sie nur ein, zwei kleine Risse. Mal riesige Löcher. Aber wir sind grundsätzlich auf der Welt, um mit mehr als einem Menschen sexuell zu verkehren. Die Evolution ist damit viele Jahrtausende gut gefahren. Die Frage ist nur: Wenn die Mehrheit schon nicht monogam ist – wieso halten wir die Fassade aufrecht? Und vor allem: Wieso fügen wir uns gegenseitig Verletzungen zu, die nicht nötig wären?

Welches Recht habe ich, von meinem Partner zu verlangen, dass es für ihn nur mich gibt? Ich kann weder den Körper noch den Geist eines Menschen besitzen. Woraus soll sich ein Exklusivitätsanspruch an den Körper ableiten? Wenn ein Mensch den anderen als sein Eigentum ansieht, ist das Sklaverei.

Man muss nicht fühlen, um zu spüren

«Aber fürchtest du nicht», sagt die gute Freundin zum Thema offene Beziehung, «dass du dich in einen der anderen Männer verlieben könntest?» Man hört dieses Argument oft. Das Objekt der Lust in einem Geplänkel ausserhalb der Beziehung könnte zu einem der Begierde werden.

Ja, das soll vorkommen, den Partner für den Lover verlassen. Aber dagegen halte ich: Ich habe mich schon in Menschen verliebt, ohne mit ihnen zu schlafen. Es ist eher so, dass Sex für mich eine deromantisierende Wirkung hat. Hat man ihn mal hinter sich, ist das Funkeln meist weg.

Zudem: Angenommen, man verliebt sich in einen Gelegenheitslover und will für ihn den Partner verlassen – sagt das nicht etwas Grundsätzliches über die Qualität der eigenen Beziehung aus? Ist das nicht einfach die Konsequenz einer bereits gescheiterten Zweierkiste, die nur noch vor sich hin röchelt?

Die Lösung heisst: Instant-Liebe. Man macht für den Moment mit dem Lover eine Dose Gefühle auf, konsumiert sie gemeinsam, hat eine oder zwei schöne Stunden. Und weiss danach, dass die Gefühle aufgebraucht sind. Sie waren nur eine Dosis Feenstaub. Längst evaporiert, aber sie haben sich im Moment selber doch echt angefühlt.

Übung macht den Meister

Die Geschichtsschreibung zeigt es eindrücklich: Man kann in der Regel nicht von heute auf morgen aus einer Diktatur eine funktionierende Demokratie machen. Genauso wenig, wie man in einer jahrelang monogamen Beziehung mit einem Schlag die freie Liebe installieren kann. Hier dient uns das Gleichnis der Wüste: Fährt man durch den Sinai, am Golf von Akaba, sieht man links und rechts Wüste. Trockene Erde, Staub, Gesteinsbrocken. Etwa einmal im Jahr fällt etwas Regen. Und plopp, schiessen die Blumen aus dem Boden, und die Erde grünt.

Ich behaupte: So ergeht es sprichwörtlich ausgelutschten Beziehungen, wenn Paare nach Jahren der sexuellen Flaute den Schritt hin zur Öffnung wagen. Kaum darf Gerlind mal mit einem anderen als ihrem Rolf vögeln, blüht sie auf, hat da so ein Glühen, man sieht es förmlich an ihrer Aura.

Das ist natürlich eine saudumme Idee. Von null auf hundert. Wie wenn man einen Tanzbären aus dem Graben befreit, in den Wald stellt und sagt: «So, du bist jetzt frei. Viel Spass.» Die Chance, dass der Bär die Geschichte heil übersteht, ist gering. Und auch eine Beziehung wird den Wetterwechsel nicht einfach so wegstecken. In vielen Fällen ist die Öffnung der Anfang vom Ende.

Darum habe ich einen Disclaimer entwickelt. Beim letzten ersten Date, das zu einer Beziehung geführt hat, habe ich ihn gleich auf den Tisch gelegt: «Ich schreibe Monogamie aus einem einzigen Grund gross. Weil sie ein Substantiv ist. Inhaltlich distanziere ich mich von ihr.»

Das Date blieb erstaunlich gelassen. Seither reden wir nur noch selten darüber.

Natürlich war in der neuen Beziehung meine erste Handlung nicht, von Bett zu Bett zu hüpfen. Aber ich wollte eine klare Ansage machen, was von mir mittel- und langfristig zu erwarten war. Respektive was nicht. Es kommt der Punkt, an dem man wieder einen anderen Körper spüren, riechen und schmecken will. Wie in den Ferien, wenn man nach vier Abenden am Buffet beschliesst, mal das «À la carte»-Restaurant auszuprobieren. Ans Buffet kann man am nächsten Abend noch immer zurück, ist ja inbegriffen.

Eifersucht ist Feind, nicht Freund

Hat unsere Partnerin Sex mit jemand anderem, hat sie einfach Sex mit jemand anderem. Sie hat nicht keinen Sex mit uns. Und schon gar nicht nimmt sie uns einen Sex weg, der eigentlich bei uns im Schrank steht und uns gehört.

Sex ist eine Freizeitbeschäftigung. Sie macht Spass. Unglaublichen Spass. Unser Körper belohnt uns dafür, dass wir Sex haben. Er schenkt uns irrsinnig tolle Gefühle dabei. Der Orgasmus ist ein Leckerli fürs Gehirn, dafür, dass wir etwas gut gemacht haben. Und Orgasmen mit Gelegenheitspartnern sind nicht schlechter, sie sind oft sogar besser. Einzig die miesepetrige Psyche kommt mitunter daher und hält uns Moralpredigten. Nieder mit der Psyche!

Und nieder mit der Eifersucht! Ich habe in vier Jahrzehnten meines Lebens nicht eine einzige Episode erlebt, in der die Eifersucht eine positive Rolle gespielt hätte. Weder als Kind im Sandkasten noch als Erwachsener am Frühstückstisch. Eifersucht ist eine Säure, die Löcher in die Beziehung frisst. In kleinen Mengen mag sie noch anregend sein. Aber meist hat sie nur eine zerstörerische Kraft – und treibt Paare eher auseinander, als dass sie sie zusammenschweisst.

Dramen sind toll, aber sie gehören auf die Kinoleinwand. Sofern man nicht dringend ein neues Porzellanservice erwerben möchte, sollte man aufs Tellerwerfen verzichten.

Was also rate ich dem Rest der Menschheit? Nichts. Ich bin ein miserabler Beziehungsmensch wie viele, die ich kenne. Aber ich habe einen Weg gefunden, die Dinge zum Funktionieren zu bringen. Die erste Beziehung, in der ich mich von Anfang an als Nichtmonogamist geoutet habe – sie ist meine bislang längste. Und konfliktfreiste.

Damit entspreche ich meinem Bauplan, bin ich überzeugt. Der Mensch hat seine überragende Stellung im Tierreich nicht deswegen erlangt, weil schon Herr und Frau Ur-Homo-sapiens sich feierlich in der des noch unentdeckten Feuers wegen düsteren Höhle die Treue geschworen haben. In vielen Stammesgesellschaften galten nicht nur die selbst gemachten Kinder, sondern alle Kinder des Clans gleich viel. Egal, von wem der Samen stammte, der sie entstehen liess. So sind wir heutigen Menschen kein Produkt des Konzepts Monogamie. Sondern eine Spezies, die davon profitiert hat, dass ihre Angehörigen fröhlich in der Welt herumgevögelt haben. Wer skeptisch ist, sollte unsere nächsten Verwandten studieren, die Schimpansen und Bonobos.

Den wenigsten von uns gelingt es, exakt der Mensch zu sein, der wir gern wären. Aber mit etwas Glück und Anstrengung können wir uns selbst respektieren. Damit ist schon viel erreicht. Der Weg dazu führt womöglich darüber, ehrlich zu sein, was unsere sexuellen Bedürfnisse betrifft. Ehrlich mit uns selbst. Und wenn wir stark genug sind: ehrlich mit denen, die wir lieben.

Persönliche Protokolle zum Thema Liebe

Wir haben Menschen zu ihren Erfahrung zum Thema befragt. Ihre sehr persönlichen Geschichten lesen Sie hier.

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Schildern Sie uns hier in den kommenden Tagen jeweils zwischen 10 und 22 Uhr Ihre Höhenflüge, Wünsche, Traumpartner. Anonym.

Zur Fotografie

Für seine Serie «Aussergewöhnliche Liebschaften» hat Guillaume Perret atypische Paare fotografiert. Menschen, deren Liebe gesellschaftlich stigmatisiert ist. Etwa wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung, des Altersunterschieds oder einer Behinderung. Entstanden sind einzigartige und sehr persönliche Porträts, die zeigen, dass letztendlich alle Formen von Liebe schön sind.

Guillaume Perret lebt und arbeitet im Kanton Neuenburg und ist Gründungsmitglied der Agentur Lundi 13. In seinen Arbeiten versucht er die zerbrechliche Schönheit der menschlichen Existenz zu erfassen. Die Intimität, die er dabei einfängt, sagt auch viel über unsere Gesellschaft aus.

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