«Salome» in der Felsenreitschule in Salzburg mit Asmik Grigorian als Salome und Gábor Bretz als Jochanaan. Mike Vogl/APA/Keystone

Klang

Der Geist von einst ist wieder da

Mit Markus Hinterhäuser als Intendant haben die Salzburger Festspiele an Energie gewonnen. Konzise Programmgestaltung und mutige Interpretationen zeugen davon. «Die Zauberflöte» und «Salome» bestechen – und lösen Diskussionen aus.

Von Peter Hagmann, 07.08.2018

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Ein Hauch von Nostalgie zieht durch Salzburg. Nichts daran ist wehmütig, nein, alles ist Gegenwart – kreativ und anregend, berührend und intensiv. So wie damals, vor fünfundzwanzig Jahren, als für die Salzburger Festspiele eine neue Zeit anhob. Gerard Mortier hatte die Intendanz übernommen, Hans Landesmann die Geschäftsführung und die Konzertdirektion.

Noch nicht dabei, aber kurz davor, mit einzusteigen, war damals Markus Hinterhäuser. In Salzburg eine Aufführung von «Prometeo», der «Hörtragödie» Luigi Nonos, zustande zu bringen, das hatte sich der junge Pianist in den Kopf gesetzt. Es gelang – und daraus wurde der «Zeitfluss», das Festival im Festival. Die Reihe enthielt neben Musik stets auch Text, Bild, Aktion und ging von der Auffassung aus, dass sich Kunst nicht im geschützten Raum ereignet, sondern eng mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit verbunden ist – sie aufnimmt, spiegelt und reflektiert. Vor allem aber lebte der «Zeitfluss» von eindrücklicher, konziser Programmgestaltung.

Gewagt und gewonnen

Seit 2017 ist Markus Hinterhäuser nun selbst Intendant der Salzburger Festspiele. Und gleich ist er wieder eingekehrt, der Geist von ehedem – vital wie damals, aber in neuer, persönlicher Färbung. Die VIP sind nach wie vor da, und natürlich ist auch Hinterhäuser nicht frei von Pressionen und Zwischenfällen. Gleichwohl ist weder zu übersehen noch zu überhören, dass erneut die Kunst das Regiment übernommen hat. Jedenfalls scheinen die Salzburger Festspiele die Aufmerksamkeit wieder weniger durch die spektakuläre Äusserlichkeit als durch das Wagnis in der Sache erzielen zu wollen.

Die Rechnung geht auf; im vergangenen Sommer belief sich die Auslastung auf 97 Prozent, dieses Jahr wird es kaum anders sein.

Festspiele müssen klare Erkennungsmarken aufweisen, wollen sie nicht zu Verschönerungen des touristischen Angebots verkommen. In Salzburg liegen die Besonderheiten auf zwei Ebenen. Im Bereich der Oper richtet sich die Abfolge der fünf neuen Produktionen, die im Verlauf von knapp fünf Wochen dreissigmal gezeigt werden, auch diesen Sommer wieder an einem durchgehenden Thema aus. Nach den «Spielen der Macht» von 2017 steht nun das «Begehren» zur Diskussion. Zum Beispiel mit «L’incoronazione di Poppea» von Claudio Monteverdi, wo eine ehrgeizige Frau einen triebgesteuerten Mann so weit treibt, bis er sich ihr vollkommen unterwirft. Oder mit den «Bassariden», der 1966 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten Oper Hans Werner Henzes, in der die Leidenschaft die moralische Werteordnung durcheinanderbringt.

Die dramaturgische Konsistenz bewährt sich allerdings erst dann, wenn sie durch die szenisch-musikalischen Verwirklichungen eingelöst wird. Auch da setzt Markus Hinterhäuser auf einen eigenen, letztlich in der Ära Mortier verwurzelten Weg: den des Unbequemen. Auf die Anregung, an der Anstoss genommen werden darf. Für «Pique Dame» von Peter Tschaikowsky, wo das Kartenspiel zu einer lebensbedrohenden Sucht wird, hat er neben dem Dirigenten Mariss Jansons den Regisseur Hans Neuenfels verpflichtet – den Altmeister, dessen umstrittene «Fledermaus»-Inszenierung, herausgebracht zum Abschluss der zehn Jahre mit Mortier und Landesmann 2001, gar vor Gericht gezerrt wurde.

Für beträchtlichen Wellenschlag sorgte nun bereits die Eröffnungspremiere dieses Sommers: Lydia Steier, eine junge Amerikanerin österreichischer Herkunft, inszenierte Wolfgang Amadeus Mozarts «Zauberflöte». An der Produktion, die im Musikalischen wie im Szenischen von dezidiert interpretierendem Zugriff lebt, schieden sich die Geister. Kann Besseres geschehen?

Die Zeichen der Gründerzeit

Wie es im sogenannten Regietheater üblich ist, wich Lydia Steier von den szenischen Vorgaben Mozarts und seines Librettisten Schikaneder ab – ja, sie griff ins Textbuch ein, indem sie die Oper mit einer Rahmenhandlung versah. Das Stück spielt bei ihr in einem grossbürgerlichen Wiener Haus der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs, wie sie auch der 1791 entstandenen «Zauberflöte» zugrunde liegt.

Rahmenhandlung: Der Grossvater (Klaus Maria Brandauer) erzählt seinen Enkeln (drei Wiener Sängerknaben) die Geschichte der «Zauberflöte». Ruth Walz/Salzburger Festspiele
Sarastros Gesellschaft als hedonistische Zirkuswelt: Michael Porter (Monostatos) und Christiane Karg (Pamina) in «Die Zauberflöte». Ruth Walz/Salzburger Festspiele

In diesem Haus greift ein Grossvater – Klaus Maria Brandauer, sehr kurzfristig für den schwer erkrankten Bruno Ganz eingesprungen, versieht diese Aufgabe mit aller Würde – zu einem Märchenbuch und erzählt den drei grossartigen, aktiv zuhörenden Wiener Sängerknaben die Geschichte der «Zauberflöte». Das hat manchen Vorteil. Auch den, dass die gesprochenen Texte für einmal nicht von radebrechenden Sängern vorgetragen werden.

Doch nicht nur das. Es erfolgt auch eine radikale Umwertung. Die Gesellschaft um Sarastro, welche die edelsten Werte menschlichen Daseins zu vertreten vorgibt, ist hier restlos am Ende, versunken in Hedonismus, wie ihn die glitzernde, von zahlreichen Artisten bevölkerte Zirkuswelt der Bühne (von Katharina Schlipf) und die Kostüme (von Ursula Kudrna) herbeizaubern.

Das ist nicht ohne Gefahr, denn die unvergessliche, ganz im Zirkus angesiedelte Inszenierung der «Zauberflöte» von Achim Freyer aus dem Jahr 1997 steht überlebensgross im Erinnerungsraum. Bildete dort der Zirkus das rührende Herzstück, steht er hier, bei Lydia Steier, für den Zustand der Degeneration – wie ihn Tareq Nazmi als Erster Priester in der hochnäsigen Befragung Taminos zum Ausdruck bringt. Um so stärker geraten die oft langfädig wirkenden, nur von einer Flöte getragenen Prüfungsszenen im zweiten Akt; sie werden von Videosequenzen aus jenem Weltkrieg begleitet, der auf die Gründerzeit folgte.

Schockartig werden Tamino und Pamina da erwachsen. Leider tritt es nicht sehr deutlich heraus, was weniger an der szenischen Ausgestaltung der einzelnen Figuren als an der Besetzung der Partien liegt. Die ist kein Glanzstück. Besonders zu bedauern ist Matthias Goerne, der als Sarastro der tiefen Töne nicht Herr wird. Als Tamino bleibt der junge Schweizer Tenor Mauro Peter eine blässliche Figur – wobei ihm zugutezuhalten ist, dass er in der Bildnisarie mit ihrem heiklen Sextsprung, aber auch darüber hinaus jede Weinerlichkeit zu vermeiden weiss. Mehr Ausstrahlung erzielt Christiane Karg als Pamina; den Tiefpunkt ihrer Verzweiflung vor dem heiss begehrten, aber mit Schweigen reagierenden Geliebten bringt sie berührend zur Wirkung. So quirlig, wie es sich gehört, Adam Plachetka als Papageno, witzig Maria Nazarova als Papagena, während Albina Shagimuratova als Königin der Nacht technisch untadelig, im Ausdruck aber einförmig wirkt.

Die musikalische Überraschung des Abends kommt aus dem Orchestergraben, wo der 44-jährige Constantinos Carydis, Neffe eines bekannten Dirigenten aus Griechenland, für lebendigstes Musizieren sorgt. Angesagt ist historisch informierte Aufführungspraxis, ohne die alten Instrumente zwar, aber auf dem letzten Stand der Erkenntnisse. Die Wiener Philharmoniker sind kaum zu erkennen in ihrer Kunst des vibratoarmen Spiels und der geschärften Artikulation – blendend, wie sie das in der für das Grosse Festspielhaus erstaunlich reduzierten Besetzung meistern.

Verschlankten Ton gibt es, zugespitzte Farben und ein sehr sparsam, aber erheiternd eingesetztes Continuo mit Cembalo (Andreas Skouras) sowie Pianoforte und Orgel (Sofia Tamvakopoulou) – einen Generalbass der Übergangszeit. Aufsehen erregen vor allem die Tempi: hier extrem gedehnt, dort fast hektisch und in der Beziehung zwischen den beiden Polen absolut schlüssig; ausserdem im Innern der Verläufe sehr lebendig nuanciert, den Ausdruckskurven angepasst, so, wie es die historische Praxis mittlerweile sieht. Beispielhaft ist das, in der innovativen Qualität ganz auf der Höhe einer Einrichtung wie der Salzburger Festspiele.

Die trotzige Kindfrau

Einen Salzburger Sommer mit der «Zauberflöte» zu beginnen, dem allerheikelsten Zentralwerk des Festspielrepertoires, zeugt von Mut. Darauf jedoch mit dem Gründervater Richard Strauss gleich noch den zweiten Salzburger Säulenheiligen hereinzubitten und «Salome» anzusetzen, erscheint geradezu tollkühn – auch wenn bei einem Thema wie «Begehren» kein Weg an diesem mitreissenden Einakter vorbeiführt.

Grossartige Sängerin und Darstellerin: Asmik Grigorian als Salome neben dem kopflosen Jochanaan. Ruth Walz/Salzburger Festspiele
Bilden neben der umwerfenden Hauptdarstellerin bloss Staffage: John Daszak als Salomes Stiefvater Herodes (Vierter von links) und seine Festgesellschaft. Ruth Walz/Salzburger Festspiele

Die bedingungslose Leidenschaft ist an diesem Abend jedoch scharf gezügelt und dem analytischen Blick ausgesetzt. In der fabulösen Inszenierung von Romeo Castellucci, der auch die Ausstattung bis hin zu den Kostümen gestaltet hat, läuft das von vibrierender Erotik aufgeladene Geschehen wie in einem unerbittlichen Uhrwerk ab. Das Stück ist ganz auf seine expressionistische Seite hin ausgerichtet; das Laszive, aus dem Geist des Fin de Siècle geboren, bleibt so gut wie ausgespart.

Das geht zunächst auf die Wiener Philharmoniker zurück. Mit den betörenden Tönen, zu denen sie in der Lage sind, gehen sie unter der Leitung von Franz Welser-Möst knausrig um, darum bleibt das Wechselspiel zwischen Anziehung und Abstossung in der Begegnung zwischen der Prinzessin und dem Propheten orchestral unterbelichtet.

Salome wiederum – in unschuldiges Weiss gekleidet, aber, wie der rote Fleck an ihrem Hintern erweist, mit Erfahrung versehen – setzt weniger auf die Reize der Weiblichkeit als auf kindlichen Trotz. Wird ihr ein Wunsch abgeschlagen, wiederholt sie ihn so lange, bis sie am Ziel ist. Wie die junge Litauerin Asmik Grigorian das tut, ist eine Wucht. Schon letzten Sommer hat sie triumphiert: als Marie in Alban Bergs «Wozzeck». Salome ist definitiv ihre Partie. Sie passt genau in ihren Ambitus; mühelos schafft sie die Höhe, und im Brustregister verfügt sie über unglaubliche Reserven. Und dazu fasst sie Ausdruckscharaktere mit unglaublicher Schärfe. Was für eine Sängerin, was für eine Darstellerin.

Die Titelfigur bildet das Epizentrum der Produktion. Die Figuren, die ihr gegenüberstehen, ihr Stiefvater Herodes (John Daszak), ihre Mutter Herodias (Anna Maria Chiuri), der ihr hoffnungslos ausgelieferte Offizier Narraboth (Julian Prégardien), selbst der in einem riesigen schwarzen Erdloch hausende Jochanaan (Gábor Bretz mit herrlichem Volumen) – alles bloss Personal, Staffage. Salomes Gegenspieler ist Romeo Castellucci mit seiner Bühne.

Anders will er es haben als gewöhnlich. Kein Blut soll fliessen, dafür gibt es jede Menge nackter Leichen in Plastiksäcken. Kein Kopf soll in einer Silberschüssel präsentiert werden, dafür wird der Rest auf einen Stuhl gesetzt, der Leib des Geköpften, an den sich Salome zum Schluss wendet – das grausame Kind mit den kurzen schwarzen Haaren, das ein Pferd zum Freund hat (es haust im selben Loch wie der Prophet und erfährt das nämliche Schicksal). Welches von all den Bühnenrätseln was bedeutet, darüber darf nachgedacht, ja gestritten werden. Wie damals, vor einem Vierteljahrhundert.

Zum Autor

Peter Hagmann, promovierter Musikwissenschaftler und diplomierter Organist, wirkt seit 1972 als Musikkritiker. In dieser Funktion war er ab 1986 für die «Neue Zürcher Zeitung» tätig, ab 1989 als Redaktor im Feuilleton. Seit seinem altersbedingten Rücktritt im Frühjahr 2015 ist er als Musikkritiker wieder in freier Wildbahn unterwegs, unter anderem mit seinem Blog «Mittwochs um zwölf». Sein jüngster Eintrag dort gilt dem Konzertbereich der Salzburger Festspiele.

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