Portrait von Abdulrazek Seid, auf einem Stein sitzend
Kein Eritreer soll ins Ausland kommen müssen. Denn jeder, der flieht, fehlt für den Aufbau des Landes nach dem Sturz der derzeitigen Diktatur, findet Abdulrazek Seid.

Comeback Kid

Am Tag macht Abdulrazek Seid Salatsaucen in St. Gallen. In der Nacht plant er die Revolution in Eritrea. Auf Demo mit Eritreas Lenin.

Ein Porträt von Solmaz Khorsand (Text) und Guadalupe Ruiz (Bilder), 03.08.2018

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So wird das nichts mit der Revolution. Abdulrazek Seid schüttelt den Kopf. «Immer sind wir Afrikaner zu spät», murmelt er. Konzentriert schaut er über die Genfer Place des Nations. Ein paar Inderinnen haben sich hier versammelt. Neben dem «Kaputten Stuhl», dem zwölf Meter hohen Mahnmal des Platzes, protestieren sie gegen Kinderarbeit in ihrem Land.
Seid beachtet sie nicht. Er muss sich um seinen eigenen Kampf kümmern. Er sieht auf sein Handy. Es ist zwölf Uhr. In einer Stunde beginnt die Demonstration für mehr Menschenrechte in Eritrea. Wochenlang hat Seid mit Mitstreitern aus der ganzen Welt daran getüftelt. Jeden Abend hat er sich nach der Arbeit mit ihnen zusammengesetzt, in Chats mit ihnen konferiert und geplant, die Slogans, die Reden, der Ablauf. Und jetzt? Wo sind seine Landsleute? Gemächlich trudeln die ersten Männer und Frauen von der Bushaltestelle zum Treffpunkt ein, unterm Arm zusammengerollte Transparente und Snacks.

Seid kennt ihren Rhythmus. In zwei Stunden ist der Platz voll, du wirst schon sehen, versichert der 32-Jährige. Er lächelt. In seinem Job braucht man Optimismus.

Abdulrazek Seid ist Dissident. Vor zwölf Jahren floh er aus Eritrea in die Schweiz. Hier lebt er in zwei Welten. Am Tag bereitet er in St. Gallen Salatsaucen zu. Honig-Balsamico, French Dressing und Blutorangen-Vinaigrette. Fünf Tage die Woche, von sieben Uhr morgens bis 15 Uhr am Nachmittag.

Am Abend tut er das, was Dissidenten im Schweizer Exil am besten können: schreiben, konspirieren, unsichtbar sein.

Für das grosse Comeback.

Schon einmal ist das einem aus dem Schweizer Exil gelungen. Wladimir Iljitsch Lenin. Drei Jahre hat er in der Schweiz ausgeharrt, bevor er sich in einen plombierten Zug gen St. Petersburg setzte. Abdulrazek Seid lächelt. Der Lenin-Vergleich schmeichelt ihm. Sieht er Parallelen zum Vater der Russischen Revolution? «Vielleicht, ein bisschen», sagt er schüchtern. Dann winkt er ab. Lenins Fussstapfen sind ihm zu gross.

Und Revolution? Nein, das klingt so blutig. Regimewechsel, das klingt friedlicher. Das ist Seids Ziel für Eritrea. Dafür lobbyiert er, was das Zeug hält. Jedes zweite Wochenende ist er unterwegs. Er reist quer durch die Schweiz, Europa und sogar bis nach Afrika, um die eritreische Diaspora auf eine Linie zu bringen. Selbst vor dem eritreischen Regime und Militär macht er nicht halt. Jeder Abtrünnige ist ihm willkommen. Jeder Maulwurf bringt ihn seinem Ziel näher. «Wir müssen vorbereitet sein, wenn es so weit ist», sagt er. Dieses «so weit» ist für ihn in greifbarer Nähe. Denn für Seid sind die Tage des eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki gezählt. Seit 25 Jahren ist er an der Macht. Mit eiserner Hand kontrolliert er das Land, verpflichtet Männer und Frauen zum unbefristeten Militärdienst und lässt Oppositionelle verhaften.

Fünf Gefängnisse hat Abdulrazek Seid von innen gesehen, weil er als Jugendlicher in der Schule wissen wollte, was mit ein paar inhaftierten Ministern passiert war. Ein Jahr lang musste er dafür büssen, bevor sie ihn gehen liessen. Bis heute weiss er nicht, wem er seine Freilassung zu verdanken hat. Er vermutet seinen Onkel dahinter, einen regimetreuen Oberst in der Armee.

Die Zeit in den Gefängnissen hat ihn geprägt. Er hat seine Mitinsassen nicht vergessen. Sie sind der Grund, warum Seid an seinem Feierabend am Telefon mit London, Amsterdam, Addis Abeba und Asmara hängt, statt mit seiner Freundin und den zwei kleinen Töchtern in Ruhe zu Abend zu essen. Viel Zeit geht drauf für sein Projekt Regimewechsel. Zwischen Auftritten bei arabischen Fernsehsendern und Besuchen bei der sudanesischen Regierung versucht er mit Hunderten anderen, ein Exilparlament auf die Beine zu stellen. Es soll den Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Eritrea einleiten, sobald der alte Isaias von der politischen Bildfläche verschwunden ist. Vor drei Jahren haben sich zu diesem Zweck 600 Exilierte in Äthiopien getroffen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr Einsatz kommt. Davon ist Seid überzeugt.

In Genf fühlt sich Seid am Wohlsten, hier fühlt er sich seinem Ziel ganz nah.

Der Diktator muss weg

Danach richtet sich sein gesamter Alltag. Seine Freundin hat aufgehört, sich zu beschweren, dass er zu wenig Zeit hat für sie und die Kinder. Die Kollegen wundern sich nicht mehr, warum der Salatsaucenchef am Freitag wieder freimacht. Sie kennen die Antwort. Sie haben Verständnis für Seids Sache. Dafür ist er ihnen dankbar. Er ist der Schweiz dankbar, dass er hier in Ruhe sein Ding durchziehen kann. Dass sie ihm dieses Leben in zwei Welten ermöglicht.

Auch wenn sie es mit seinen Landsleuten nicht immer gut meint. Eritrea ist das wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz. Rund 37’000 Eritreer und Eritreerinnen leben hier. Im April wurde bekannt, dass man den Status von 3200 vorläufig Aufgenommenen prüfen wolle. Eine gängige Praxis, heisst es aus dem Staatssekretariat für Migration (SEM). Es gilt festzustellen, ob die Voraussetzungen für ihre Aufnahme in der Schweiz noch gültig seien. Sind sie es nicht, müssen sie zurück nach Eritrea.

Anfang Juli folgte die nächste Hiobsbotschaft für die eritreische Diaspora. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass abgewiesene Asylbewerber nach Eritrea abgeschoben werden können, auch wenn ihnen dort die Einberufung in den Nationaldienst droht. Zwar seien die Verhältnisse im eritreischen Nationaldienst problematisch, aber nicht problematisch genug, um eine Wegweisung aus der Schweiz zu verunmöglichen.

Abdulrazek Seid schüttelt den Kopf. Richtig mitzunehmen scheint ihn die Sache nicht. Es bedeutet für ihn nur: business as usual. Auch dagegen wird er protestieren, seine Transparente aufspannen und aufmarschieren. Bloss: Die Probleme der Diaspora in der Schweiz sind nicht seine Priorität. «Ganz ehrlich, ich bin aktiv in der eritreischen Politik. Wenn wir die Asylsituation in der Schweiz und in der EU verbessern wollen, müssen wir das Problem in Eritrea lösen», erklärt er trocken.

Dort liegt sein Fokus. Nervös beobachtet er die aktuellen Entwicklungen. Vor wenigen Wochen hat Eritrea mit Äthiopien ein Friedens- und Freundschaftsabkommen unterzeichnet. Ein historisches Ereignis. Seit Jahrzehnten standen sich die beiden Länder unversöhnlich gegenüber, zuerst in einem 30-jährigen Unabhängigkeitskampf, dann 1998 bis 2000 in einer militärischen Auseinandersetzung mit knapp 80’000 Toten. Die Bedrohung durch den Erzfeind Äthiopien diente in Eritrea als Legitimation für den unbefristeten Nationaldienst. Ist das mit der Annäherung nun bald Geschichte? Ohne Erzfeind kein Nationaldienst? Ohne Nationaldienst kein Fluchtgrund? Abdulrazek Seid ist skeptisch. «Abwarten», sagt er. «Solange wir einen Diktator haben, werden die Leute kommen, jeden Tag.»

Und Seid will nicht, dass sie kommen. Denn jeder, der ins Ausland abhaut, fehlt für den Aufbau in Eritrea nach dem Tag X.

Das muss allen klar sein. Vor allem seinen Landsleuten. Daran will er sie täglich erinnern. Sie gilt es auf das gemeinsame Ziel einzuschwören. Deswegen steht er an diesem Freitagnachmittag auch in Genf vor dem Uno-Gebäude. Er liebt diesen Platz. Er bedeutet für ihn alles, wofür er seit zwölf Jahren kämpft: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Neben dem kaputten roten Stuhl, da nimmt er für gewöhnlich Stellung. Das ist sein Stammplatz.

Er sieht auf sein Handy. Es ist 14 Uhr. Knapp 200 Menschen haben sich mittlerweile eingefunden. Seid ist enttäuscht. Tausende hat er erwartet. Bis zu den Brunnen ganz hinten wollte er den Platz füllen. Macht nichts. Das nächste Mal werden mehr kommen. So lange, bis auch er eines Tages in einen plombierten Zug steigen kann.

Debatte: Was bedeutet für Sie Heimat?

Aus welchen Fakten, Mythen und Legenden speisen Sie Ihr Schweiz-Bild? Was wurde in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten vergessen, was Sie als Teil des helvetischen Nationalcharakters definieren würden – im Guten wie im Schlechten? Was bedeutet für Sie Heimat?

Lesen Sie auch die anderen, unten angezeigten Artikel von Solmaz Khorsand, und unterhalten Sie sich heute Freitag von 13 bis 15 Uhr mit der Autorin sowie Michael Rüegg und Daniel Binswanger. Hier gehts zur Debatte.

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