Am Gericht

Freie Fahrt für Raser im Dienst

Das Bundesgericht hat mit 3:2 Stimmen entschieden: Unternehmen können ab sofort nicht mehr gebüsst werden, wenn ein der Polizei unbekannter Angestellter mit dem Firmenfahrzeug zu schnell unterwegs war. Die öffentliche Beratung des Urteils zeigt anschaulich, wie Juristenköpfe ticken.

Von Markus Felber, 01.08.2018

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Ort: Bundesgericht Lausanne
Zeit: 20. Juni 2018, 10.00 Uhr
Urteilsreferenz: 6B_252/2017
Thema: Geschwindigkeitsbusse (Strafbarkeit des Unternehmens)

Das Palais des Bundesgerichts auf Mon Repos in Lausanne ist kaum wiederzuerkennen, seit im Februar zwei zentnerschwere Platten von der Decke herabgestürzt sind. Vom Haupteingang über die majestätische Treppe bis zu den Eingängen der Gerichtssäle ist alles eingerüstet. Die ehrwürdigen Hallen sind eine Baustelle. Und sie werden es bleiben, bis die zuständigen Behörden der Denkmalpflege ihr OK geben zur Sanierung der Gefahrenstellen. Nur im Gerichtssaal selbst ist von alledem nichts zu spüren. Da herrscht die übliche sakrale Stimmung, die für einmal durchaus erträglich ist. Denn es tagt die strafrechtliche Abteilung, deren Mitglieder eher pfleglich miteinander umgehen.

Zu Beginn der öffentlichen Urteilsberatung schildert Bundesrichter Yves Rüedi als Referent dem eher spärlich vertretenen Publikum im Saal die Ausgangslage. Der Sachverhalt ist völlig unbestritten: Am 2. August 2014 um 16.14 Uhr war in Stalden ob Sarnen ein Autolenker innerorts um 14 km/h zu schnell in eine Radarkontrolle der Obwaldner Kantonspolizei geraten. Der Lenker wurde nicht angehalten und blieb deshalb unbekannt. An seiner Stelle wurde die Halterin des Fahrzeugs, eine GmbH in Deutschland, mit einer Ordnungsbusse von 250 Franken bestraft. Das ist seit 2014 möglich: Damals wurde unter dem Titel «Via sicura» eine neue Bestimmung ins Ordnungsbussengesetz aufgenommen, laut der der Halter eines Fahrzeugs für das Verhalten eines unbekannten Fahrers zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Alle fünf Richter sind sich darin einig, dass elementare Grundsätze des Strafrechts ausgehebelt werden, wenn jemand für eine Tat bestraft wird, die wahrscheinlich ein anderer begangen hat. Zu denken ist etwa an das Schuldprinzip, an die Unschuldsvermutung, aber auch an den Grundsatz «nemo tenetur», wonach niemand sich selber belasten muss. Doch ebenso einmütig teilt die strafrechtliche Abteilung die Auffassung ihres Referenten, dass die strafrechtliche Haftung des Halters für den unbekannten Lenker grundsätzlich zulässig sei. Bundesrichter Niklaus Oberholzer versteigt sich sogar zur Bemerkung, dass Ordnungsbussen eigentlich gar keine richtigen Strafen seien, sondern eher eine Art Lenkungsabgabe.

Trotzdem findet der Antrag des Referenten, die Beschwerde der deutschen GmbH abzuweisen und die Busse zu bestätigen, keine Mehrheit in der Kammer. Die Geister scheiden sich in der Frage, ob der Fahrzeughalter auch dann stellvertretend für den Fahrer gebüsst werden darf, wenn das Auto nicht einer natürlichen Person gehört, sondern einer juristischen Person, etwa einer AG oder einer GmbH. Bundesrichterin Laura Jacquemoud-Rossari weist darauf hin, dass Unternehmen laut Strafgesetzbuch zwar für Verbrechen und Vergehen bestraft werden können, aber nicht für blosse Übertretungen. Nur solche aber werden mit Ordnungsbussen geahndet. Für Übertretungen könnten juristische Personen strafrechtlich nur belangt werden, wenn das in einem anderen Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Eine solche Norm aber vermag Richterin Jacquemoud-Rossari weder im Ordnungsbussengesetz noch im Strassenverkehrsgesetz zu finden. Sie stellt deshalb den Gegenantrag, die Beschwerde teilweise gutzuheissen und die in Obwalden verurteilte GmbH freizusprechen. Ihre Überlegungen werden von Bundesrichterin Monique Jametti geteilt, und schliesslich spricht sich auch Abteilungspräsident Christian Denys für den Gegenantrag aus. Dieser beruhe zwar auf einer formalistischen Betrachtungsweise, aber von überspitztem Formalismus könne keine Rede sein.

Damit wird der Referent überstimmt, dem sich einzig Bundesrichter Niklaus Oberholzer anschliesst. Für ihn ist klar, dass die umstrittene Regelung im Ordnungsbussengesetz den allgemeinen Bestimmungen im Strafgesetzbuch vorgeht und auch gilt, wenn der Halter eine juristische Person ist. Aus Sicht der Minderheit ist der Wille des Gesetzgebers klar. Dem kontert die Mehrheit: Falls der Gesetzgeber tatsächlich auch juristische Personen hätte zur Verantwortung ziehen wollen, hätte er bei der Umsetzung seines Willens gepfuscht und müsse nun halt nachbessern.

Der Wortlaut des Strafgesetzbuchs ist klar: Bestimmungen über die Verantwortlichkeit des Unternehmens sind bei Übertretungen nicht anwendbar (Art. 105). Ebenso klar ist der Wortlaut des Ordnungsbussengesetzes: Ist der Fahrer nicht bekannt, wird die Busse für die Übertretung dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Fahrzeughalter auferlegt (Art. 6). Und die beiden Bestimmungen beissen sich auch nicht, solange der Fahrzeughalter eine natürliche Person ist. Gehört das Fahrzeug indes einer juristischen Person, kann man sich trefflich streiten. Und das tun Juristen, wo immer sich Gelegenheit bietet, und nicht selten mit pathologisch anmutender Leidenschaft.

Argumentiert wird dabei wissenschaftlich. Das Gesetz legen Juristen angeblich rein rational aus, einzig den Willen des Gesetzgebers im Auge und die Systematik des Rechts. Dass das Illusion ist, zeigt der Umstand, dass zwei Juristen nur ganz selten mit wissenschaftlicher Präzision die einzig richtige Antwort auf eine Frage finden. Denn in aller Regel gibt nicht die Analyse im Kopf des Richters den Urteilsspruch vor, sondern das Gefühl in seinem Bauch. Der Kopf kommt danach erst zum Einsatz, wenn es gilt, eine halbwegs überzeugende Begründung für das Urteil zu ersinnen.

Das erklärt, warum im Gerichtssaal zu Lausanne keine Einigkeit besteht in der Frage, ob nach geltendem Recht eine juristische Person zur Verantwortung gezogen werden darf, wenn der fehlbare Fahrer nicht bekannt ist. Ja, sagen zwei Richter aus voller Überzeugung, die auf eher pragmatischen Überlegungen fusst. Nein, sagen drei andere Richterinnen ebenso überzeugt und berufen sich auf eher formelle Argumente. Auf Einzelheiten der Debatte einzugehen, wäre für Nichtjuristen unter den Leserinnen eine Zumutung. Viel spannender ist auszuleuchten, was in diesem konkreten Fall beim einzelnen Richter den Ausschlag gibt für seine Entscheidung.

Die parteipolitische Herkunft kann es nicht sein, denn die beiden linken Richter sind sich in der Frage nicht einig, und auch die beiden Mitglieder der SVP stimmen nicht gleich. Tauglicher ist ein anderes Erklärungsmuster: Überstimmt worden sind die beiden Deutschschweizer Männer in der Runde. Und mit der Mehrheit stimmten die beiden Frauen und die beiden französischsprachigen Mitglieder der Abteilung. Das ist kaum Zufall, zumal Deutschschweizer und Männer in rechtlichen Belangen ein Problem eher pragmatisch angehen, während Welsche und Frauen eher aufs Grundsätzliche und Formelle achten.

In der Frage nach den Konsequenzen des Verdikts sind sich die drei Richter der Mehrheit einig: Der Gesetzgeber wird innert nützlicher Frist tätig werden und eine klare rechtliche Regelung schaffen, damit künftig auch juristische Personen gebüsst werden können, wenn ein unbekannter Lenker mit ihrem Fahrzeug eine Verkehrssünde begeht. Die beiden überstimmten Richter dagegen fürchten, wenig überraschend, dass jetzt schlimme Zeiten anbrechen. Bundesrichter Oberholzer erwartet eine Überbeanspruchung der Staatsanwaltschaften, weil nun in jedem Fall ein Strafbefehlsverfahren eingeleitet wird.

Bundesrichter Rüedi scheint vom Gegenteil auszugehen. Er überlegt laut, aber vermutlich nicht ganz ernsthaft, eine GmbH zu gründen, sein Auto auf diese zu übertragen und dann Gas zu geben.

Illustration Friederike Hantel

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