Herd und Hof

Die Wutbürger von nebenan

Von Michael Rüegg, 28.07.2018

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364 Tage im Jahr bin ich glücklich in und mit meiner Wohnung. Nur an einem Tag kippt das Glück: Wenn wir uns alle treffen. Denn meine Wohnung gehört mir. Und Eigentum verpflichtet zum Gang an die jährliche Stockwerkeigentümer-Versammlung.

Unter Traktandum 8, Diverses, entlädt sich der angestaute Ärger der Wutbürger-Fraktion. Wie ein Wasserfall prasselt er auf uns hernieder. Wir, das sind die vier Tapferen. Die von nebenan. Der von oben. Der von unten. Und ich. Die, wie wir glauben, letzten normalen Menschen.

«Ohne euch würde ich das hier nie überleben», sage ich. Und ernte verständnisvolles Nicken. Da gehts auch schon los. Dr. Gruber, der von zu Hause aus arbeitet, kriegt alles mit. All die Missstände: die fremden Leute, die unseren Privatgrund illegal betreten, und den Müll, der sich ansammelt. Und die Menschen, die ins Gebüsch pinkeln.

Mit seinen ihm angeborenen forensischen Fähigkeiten hat Dr. Gruber unsachgemäss deponierte Abfallsäcke durchsucht. Und die Sünder im Gebäude gegenüber ermittelt: «Das waren zwei Ungarn und ein Araber. Man muss denen eintrichtern, wie wir das in der Schweiz mit dem Abfall machen!» Dr. Gruber stammt aus dem Süden Deutschlands.

Es muss etwas unternommen werden gegen die Fremden, die unsere Anlage betreten. «Im Coop gibt es für acht Franken Schilder, da steht drauf: Betreten verboten, richterliche Verfügung», erklärt Dr. Gruber. Wir stimmen ab, konsultativ, wie der Verwalter betont. Die konsultierte Mehrheit will keine Schilder. Doch Dr. Gruber lässt nicht locker. Er kündigt an, sie selber zu bezahlen. «Aber Sie dürfen sie nicht aufstellen, wenn die Mehrheit nicht will», ermahnt ihn der Verwalter.

«Jeden Freitag kiffen Jugendliche vor meinem Fenster», empört sich eine junge Frau. «Nachts sind da dunkle Gestalten. Einmal habe ich sogar ein weisses Pulver gesehen!», sagt ein Mann.

Mir wird klar, dass ich die Augen davor verschliesse. Die marodierenden Jugendbanden, die bei uns ihr Unwesen treiben – ich sehe und höre sie nie. Obwohl auch ich häufig zu Hause arbeite. Aber vielleicht habe ich einfach mehr zu tun als Dr. Gruber.

Aber die Kinder sehen sie, die dunklen Gestalten, ist eine Mutter überzeugt. «Und sie sehen in ihren Gesichtern, dass sie böse sind.» Böse junge Menschen, die danach trachten, unser Gefühl der Geborgenheit zu zerstören. «Wir müssen unsere Kinder schützen. Sie sind unsere Zukunft!», schreit ein Mann in den Saal.

Ein anderer meldet sich, doch man hört ihn nicht. Eine der kleinen Zukünfte im Saal quengelt lautstark.

In unserer kleinen Runde wird das Gehörte leise kommentiert: «Es sind sowieso die Scheisskinder, die den meisten Lärm und Dreck machen», meint die Nachbarin von nebenan. Sie hat den Balkon zum Innenhof und kennt die Namen aller Kids auswendig. Selbst im Zeitalter von Türklingeln und Handys ziehen es Kinder vor, ihre Freundinnen durch lautes Schreien vor geschlossenen Fenstern zum Spiel aufzufordern.

«In zehn Jahren sind die alle Teenager. Und dann kiffen sie zwei Überbauungen weiter und nerven die Leute dort», findet die Nachbarin von nebenan. Und der Nachbar von oben meint: «Eh klar. Möglichst weg von den eigenen Eltern.»

Die Zustände sind unhaltbar, so viel wird klar. Der Hauswart ist nie zu sehen, «obwohl wir ihm» respektive der Facility-Management-Firma (Anm. d. Verf.) «über 40’000 Franken im Jahr bezahlen!», empört sich Dr. Gruber. Dafür dürfe man doch eine Vollzeitpräsenz mit 24-Stunden-Pikett erwarten, findet er. «Sonst könnt ihr die 40’000 auch mir geben!», schreit ein anderer.

Jetzt meldet sich ein Herr Rossier, er fordert einen Patrouillendienst. Was lustig ist, denn Herr Rossier wohnt gar nicht bei uns. Er vermietet seine Wohnung. Also rein theoretisch dürfte er die Liegenschaft gar nicht grundlos betreten, schliesslich geht das Nutzungsrecht auf seine Mieterin über. Streng genommen begeht er Hausfriedensbruch. Sein eigener Patrouillendienst müsste ihn vom Grundstück wegweisen.

Die Debatte setzt sich fort. Die Mehrheit schweigt. Nach einer Stunde schleichen wir zu viert aus dem Saal. Wir brauchen jetzt sehr dringend Alkohol. Wie die Sache ausgeht, erleben wir nicht mehr mit.

Dem Vernehmen nach wurde die Verwaltung beauftragt, Offerten einzuholen: für einen bewaffneten Sicherheitsdienst, für Uniformen und Schlagstöcke der neu zu gründenden Bürgerwehr. Sowie für Selbstschussanlagen und Tretminen.

Wenigstens sind diese blöden Verbotsschilder vom Tisch, stellen wir mit Befriedigung fest.

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