Eine Schwalbe macht auf Sommer

Petra Gössi war ein Fragezeichen, als sie FDP-Chefin wurde: Kann sie das? Heute, zwei Jahre später, ist anders zu fragen: Klar kann sie es – aber hat sie auch Erfolgschancen? Mit dieser Partei?

Ein Porträt von Viktor Parma (Text) und Nadja Athanasiou (Bild), 26.07.2018

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In der Natur die Energie für die politischen Herausforderungen finden: Petra Gössi will die FDP fit für die Zukunft machen. Und sich selbst für den Bundesrat?

«Das Schöne am Sommerhalbjahr ist: Es finden viele Schwingfeste statt», schrieb Petra Gössi im vergangenen Sommer im «Boten der Urschweiz». Das war keine Floskel, sondern aus dem Herzen gesprochen. Die Schwyzerin liebt den alteidgenössischen Nationalsport, eilt von einem Schwinget zum andern, war im Mai am Schwyzer «Kantonalen» dabei, Anfang Juli am Innerschweizer Schwingfest im luzernischen Ruswil, und am kommenden Sonntag will sie den Brünigschwinget auf keinen Fall verpassen. Petra Gössi geniesst sozusagen jeden Hosenlupf.

Der gegenwärtige Sommer freilich übertrifft alle früheren. Inmitten der politischen Sommerpause findet zu allem Überfluss in Bundesbern noch ein Schwingfest der andern Art statt, ein politisches Kräftemessen – und die FDP-Chefin ist im Regieraum mit dabei. Eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen liberalen Pragmatikern und zürnenden Gewerkschaftsbossen mit offenem Ausgang – für die FDP ein Jahr vor den nächsten eidgenössischen Wahlen im goldrichtigen Augenblick.

Der Machtpoker der zwei freisinnigen Bundesräte mit linken, offenbar ewig gestrigen Dogmatikern verspricht das FDP-Wählerpotenzial zu mobilisieren. Der Streit wurde von Aussenminister Ignazio Cassis mit provokativen Spitzen herbeigeredet, ehe er von Johann Schneider-Ammann in sozialpartnerschaftlichem Jargon fortgesetzt worden ist.

Cassis stellte die roten Linien für die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit scheinbar spontan infrage. Um in den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU voranzukommen, müsste auch die Schweiz über ihren Schatten springen, sagte er in ein SRF-Mikrofon. Es müsse im 21. Jahrhundert doch vorstellbar sein, dass man die Anmeldefrist für EU-Firmen, die Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden wollen, von acht auf vier Tage verkürzt und ihnen für die Voranmeldung eine App bereitstellt.

Alles in allem eine Auseinandersetzung wie geschaffen für eine Partei, die als «Gralshüterin des bilateralen Wegs» gelten möchte, ja als die «einzige Partei», welche die Bilateralen «immer ohne Wenn und Aber unterstützt» hat – Ansprüche, die die FDP in ihrem Positionspapier «Bilateralen Weg sichern und weiterentwickeln – Rote Linien und Forderungen der FDP» für sich erhebt.

Die FDP-Chefin lächelt: «Meine Herausforderung ist es, die Partei erfolgreich in die Wahlen 2019 zu führen.» Nun würde sich Petra Gössi lieber die Zunge abbeissen, als auch nur von einem für ihre Partei glücklichen Zufall zu sprechen, geschweige denn von einer parteipolitisch kalkulierten Inszenierung. Sie beansprucht für ihre Partei nur, besser als die andern für die europapolitische Auseinandersetzung gerüstet zu sein. Sie untertreibt. Zeitweise arbeitete der Parteiapparat am Thema Europa beinahe monothematisch. Man hat darauf hingearbeitet.

Im Aufwind

Aber der Reihe nach. Nach Jahrzehnten des Niedergangs nehmen die Wähleranteile seit 2015 wieder zu, wenn auch nur marginal. Aus übernationaler Sicht sind die guten Wahlergebnisse der FDP auf eidgenössischer und kantonaler Ebene erstaunlich, denn rund um den Erdball ist der klassische Liberalismus in der Defensive.

Scheinbar unberührt von der globalen Erschütterung ihres Ordnungsmodells, wähnen sich manche Schweizer Freisinnige im Aufwind. Zu ihnen gehört Petra Gössi nicht. Sie urteilt vorsichtiger. Und rät von Euphorie ab.

Das macht sie von Anbeginn klar, als sie den Reporter der Republik in ihrer Wohnung in Küssnacht am Rigi empfängt. «Der Liberalismus ist in der Krise», betont sie, «zahlreiche Menschen fühlen sich als Verlierer der Globalisierung. Vieles läuft deshalb Richtung konservativ und Abschottung, siehe USA.»

Kann und will Petra Gössi dazu beitragen, die Krise des Liberalismus zu überwinden?

Gössi zählt, wie viele ihrer Parteifreunde, eher zu den Gewinnerinnen der Globalisierung. Ihr Heimat- und Wohnort, Küssnacht am Rigi, ist eine Idylle, und ihre Fünf-Zimmer-Attikawohnung im von ihren Eltern neu gebauten dreistöckigen Mehrfamilienhaus ist, wie sie lächelnd gesteht, für sie allein eigentlich zu gross. «Ich bin auch zu wenig daheim», sagt die 42-Jährige. Sie habe die Wohnung schon zu zweit bewohnt, fügt sie bei: «Es hätte durchaus wieder Platz für jemanden!»

Sie und ihr letzter, fünfter Partner gingen vor einem Jahr auseinander. Seitdem ist sie wieder Single. Zum Wohnraum mit Küche und Terrasse kommt ein Schlaf- und ein Bücherzimmer hinzu, eines mit Kleiderschrank und eines, das von einem imposanten, aber so gut wie unbenützten Rudergerät verstellt ist. «Bevor ich mich aufs Fitnessgerät setze, schlüpfe ich lieber in meine Turnschuhe und jogge im Freien», sagt Gössi.

Der Schock

Aus den Fenstern ihrer Wohnung ist das Dorf gut zu überblicken. Vor ihren Füssen ist die gesamte Lebenswelt ausgebreitet, die sie von klein auf geprägt hat. Aufgewachsen ist sie drüben im Oberdorf, als ein von den Eltern, einem Schwyzer Gewerbetreibenden und einer Tessiner Berglerin, lang ersehntes Wunschkind. Der Vater, einst Mitglied der Jungliberalen, ging im örtlichen Brauchtum auf, in der St.-Niklausen-, der Fasnachts- sowie der Sennen- und Älplergesellschaft, die Mutter war in Turnverein, Frauen- und Müttergesellschaft dabei.

Beide Eltern arbeiteten stets hundert Prozent in ihrer Sanitär-Spenglerei, waren für die Tochter aber immer in der Nähe. Büro und Wohnung waren am gleichen Ort. Petra blieb zwar Einzelkind, doch sie gehörte zu einem Dutzend gleichaltriger Kinder, die sich alle um das Mehrfamilienhaus der Firma Gössi bewegten. Petra konnte bereits vor dem Kindergarten lesen und schreiben. Ein fünf Jahre älterer Cousin brachte es ihr bei. «Wir organisierten uns selber.» Das ganze Quartier bewegte sich in den gleichen Häusern. Im Nachbarhaus der Gössis gab es ein Kinderclublokal.

Ins Gymnasium Immensee radelte sie entlang der Hohlen Gasse, die vom hinteren Zimmer ihrer heutigen Wohnung aus zu sehen ist. Sie wirkte im Oberstufenparlament des Gymnasiums mit, einer Art Schülervertretung.

1996 nahm sie das Studium der Rechte an der Uni Bern auf. «Ich schwimme schon», erklärte sie der Berner Tageszeitung «Der Bund», die sich für eine Reportage über den Studienbeginn von 1700 jungen Frauen und Männern am ersten Tag des Wintersemesters an ihre Fersen geheftet hatte: «Man darf aber», setzte die Studentin hinzu, «nicht zu verbissen sein und muss dran glauben, dass es geht, und es kommt gut.»

Sie schloss ihr Studium 2002 erfolgreich ab und wollte danach das Anwaltspatent erwerben. Sie fiel jedoch gleich zweimal durch die schriftliche Prüfung im öffentlichen Recht – für sie ein Schock, der zum Wendepunkt ihres Lebens geworden ist.

Als «Trotzreaktion» (Gössi) darauf arbeitete sie bei ihrem damaligen, dritten Freund, einem gelernten Koch, mit, als er von seinem Vater ein Putzinstitut übernahm und beim Küssnachter Tagungs- und Kongresszentrum Monséjour einen Catering-Service aufbaute.

Petra Gössi half in der Küche mit. «Glauben Sie mir, da ist extrem viel los, wenn man zum Beispiel in drei Stunden 600 Essen für ein Bankett raushauen und alles gleichzeitig erledigen muss! Da fliegen beinahe die Pfannen, und am Abend kann man trotzdem ein Bier miteinander trinken.»

Die Ziehväter

In der Küche sammelte sie Erfahrungen, die ihr noch als Parteipräsidentin zugutekommen. «Das wurde für mich deshalb prägend, weil man in der Küche unbedingt mit allen zusammenarbeiten können muss. Ich lernte wohl nie so gut, auf Leute zuzugehen, wie in dieser Zeit. Gut, ich hatte Menschen immer gern, aber was das wirklich heisst, lernte ich dort. Das lernt man nicht im Studium, sondern wenn man am Knütteln, am Rotieren ist und denkt: Jesses, hoffentlich kommt das noch gut. Dann wird man kreativ, lernt, Druck auszuhalten und sich durchzusetzen. War alles extrem wertvoll.»

Lange hatte sie mit Politik nichts am Hut. Was ihr den Einstieg in die politische Karriere ebnete, war ausgerechnet die Krise des Liberalismus, die nach der Jahrtausendwende die FDP Schwyz erschütterte. In jenen Jahren erlitt nicht nur Petra Gössi einen Schock, sondern auch die Kantonalpartei – eine katastrophale Niederlage an den Eidgenössischen Wahlen 2003. Ihr Wähleranteil schrumpfte um 4 auf 15 Prozent, überraschend verlor sie den Nationalratssitz von Maya Lalive d'Epinay.

Die SVP Schwyz hingegen feierte einen Triumph. Ihr Wähleranteil schnellte um 8 auf 44 Prozent hoch. Sie errang einen zweiten Nationalrats- und einen Ständeratssitz. Die FDP Schwyz war am Boden zerstört. Das hat Gössis schnelle Karriere erst möglich gemacht.

Ehe die Schwyzer Freisinnigen eine neue Strategie hatten, suchten sie bereits nach neuen Gesichtern. Petra Gössi war noch Zwanzigerin und nicht einmal Parteimitglied, als sie 2004 von der FDP zur Wahl in den Kantonsrat auserkoren wurde. Ein Kollege, dessen Schwester in der Partei politisierte, hatte sie ins Spiel gebracht. Man wollte eine junge Frau auf die Liste bringen. Gössis erste Parteiversammlung war gleich ihre Nominationsversammlung. Zur Kantonsrätin wurde sie vom Volk auf Anhieb gewählt.

Die Anwälte Martin Wipfli und Vincenzo Pedrazzini übernahmen den Job, die Kantonalpartei nach ihrem Wahldebakel wieder aufzurichten. Sie entwarfen eine Strategie, die im Verhältnis zur SVP eine Mischung aus Kooperation und Konkurrenz vorsah – für manche Freisinnige damals ein Tabubruch, weil sie jede Zusammenarbeit mit der SVP ablehnten.

Die zwei Strategen entwickelten die FDP Schwyz zum Modell, dem die FDP Schweiz dereinst nacheifern sollte, um der SVP-Herausforderung besser standzuhalten. Sie bauten für die Partei auch neues politisches Personal auf. Als ihre beste Wahlkämpferin erwies sich Petra Gössi – gerade weil sie ohne politische Vergangenheit war. Schon deshalb war für sie ein EU-Beitritt, anders als für Maya Lalive, nie ein Thema gewesen.

Zusage nach dem dritten Mittagessen

Ehe sich Martin Wipfli zur Unterstützung ihrer Karriere entschloss, prüfte er Gössi auf Herz und Nieren, interessierte sich für die Geschichte ihrer urliberalen Familie, erfuhr etwa, dass schon ein Grossvater und ein Onkel im Kantonsrat sassen, und ihr Vater zwar vor vielen Jahren von den Jungliberalen ausgeschlossen worden sei, aber nur Schabernacks wegen.

Pedrazzini und Wipfli fragten Gössi im Zürcher Fünfsternhotel Alden mit Blick auf die Nationalratswahlen 2007 unverblümt, ob sie gefördert werden wolle – eine politische Laufbahn wolle schliesslich von langer Hand geplant sein. Gössi lehnte zunächst ab. Nach dem dritten Mittagessen sagte sie zu.

Tagelang war sie mit Wipfli unterwegs und plakatierte. Dass ein Anwalt aus Zürich eigenhändig mithilft, Plakate aufzustellen, imponierte ihr, und er nahm sie ins Team seiner Beratungsfirma Baryon AG mit Sitz am General-Guisan-Quai in Zürich auf. Seit 2008 ist sie als Partnerin in der Unternehmens- und Steuerberatung dabei.

Die Wahl zur Nationalrätin schaffte sie zwar im ersten Anlauf nicht, holte aber doch so viele Stimmen, dass die Partei sie von nun an mit aller Macht förderte. Im Kantonsrat avancierte sie 2008 zur Fraktionschefin und arbeitete mit der SVP sogar so eng zusammen, dass sie bald nicht nur mit der SP, sondern auch mit der Kirche übers Kreuz war. Pfarrer gingen gegen ihre Sparpolitik auf die Barrikaden, als der Kantonsrat auf Gössis Antrag mit 41 zu 36 Stimmen ein Gesetz über Ergänzungsleistungen für Familien aus dem Programm strich. «Armutsbekämpfung», betonten sie in der Regionalpresse, «ist dringend nötig.» Die SP forderte mit einer Initiative, das Gesetz wieder einzuführen, doch dazu sagte das Schwyzer Volk wuchtig Nein.

Der Dissens mit der Kirche nahm noch zu, als Gössi mit ihren Kollegen 2011 im Kantonsrat einer neuen Spitalstrategie zustimmte, die die Schliessung des Spitals Einsiedeln vorsah. Nun hatte sie gar den damaligen Abt von Einsiedeln, Martin Werlen, gegen sich. In seinem abendlichen Gebet am Fest der Engelweihe auf dem Klosterplatz empfahl er Gott «alle, die sich in den vergangenen Monaten fürs Spital Einsiedeln eingesetzt haben», und dankte ihm «für die politische Entscheidung, die heute fürs Spital gefällt wurde».

Vor Ärger erwog Gössi einen Kirchenaustritt. Heute ist sie freilich froh, darauf verzichtet zu haben. Bestärkt fühlt sie sich durch eine von Martin Grichting, Generalvikar des Bistums Chur, kürzlich publizierte Schrift, in der er die Einmischung von Klerikern ins politische Tagesgeschäft ablehnt.

Kirche hin oder her, Gössi schaffte 2011 die Wahl in den Nationalrat auch so. Den Ausschlag für sie gab die grosse Unterstützung durch das Küssnachter Wahlvolk.

Tanz mit der SVP

Im Nationalrat fuhr sie fort, mit der SVP gleichzeitig zu kooperieren und zu konkurrieren. Als einziges FDP-Ratsmitglied unterstützte sie SVP-Ratskollege Gregor Rutz, als er mit einer Parlamentarischen Initiative forderte, das Landesrecht nur dann dem Völkerrecht noch anzugleichen, wenn dies in einem dem Referendum unterstehenden Erlass so vorgesehen sei. Beim Nationalen Finanzausgleich (NFA) überholte sie die SVP sogar rechts. Weil Schwyz immer höhere Beiträge in den NFA zahlen musste, schlug sie vor, das Geld auf ein Sperrkonto einzahlen zu lassen, um Bundesbern zur Senkung der Beiträge zu zwingen.

Mal für Mal war sie in der Sache zunächst erfolglos, doch im Kanton Schwyz wurde sie gefeiert. Bei der Nationalratswahl 2015 stieg ihre FDP mit 21 Prozent Wähleranteil (plus 5 Prozent) zur zweitstärksten Partei auf – hinter der SVP, die um 5 auf 43 Prozent zulegte.

Mit Unterstützung ihrer alten Seilschaft avancierte Gössi 2016 zur Chefin der FDP Schweiz. Nach dem Rücktritt Philipp Müllers hatte der Schwyzer Vincenzo Pedrazzini, inzwischen Vizepräsident der FDP Schweiz, die Leitung der Findungskommission übernommen. Die einzige Kandidatin, die er fand, war Petra Gössi. Ihre einstimmige Wahl durch die Delegierten war Formsache. Sie werde sich, versprach sie, politisch «einmitten». Als Präsidentin müsse sie fähig sein, integrativ zu wirken.

In den Bundesrat?

Das ist ihr inzwischen ein Stück weit gelungen. Sie hat sich parteiintern so weit durchgesetzt, dass sie sogar als mögliche Bundesratskandidatin gilt und so Karin Keller-Sutter, Ständeratspräsidentin und Ex-Regierungsrätin aus St. Gallen, der stärksten Anwärterin auf die Nachfolge Johann Schneider-Ammanns, gefährlich werden kann. Alle Fragen, ob sie denn zur Bundesratskandidatur bereit wäre, beantwortet Gössi beharrlich ausweichend. «Mein Ziel ist es nicht, Bundesrat zu werden», antwortet sie nur. Eine Absage klingt anders.

Schneider-Ammann hat seinen Rücktritt auf spätestens Ende 2019 angekündigt. Hinter den Kulissen der FDP-Fraktion nimmt die Nervosität spürbar zu.

Schon bei der Wahl des Nachfolgers von Didier Burkhalter 2017 zog Gössi eine Strategie nach ihrem Gusto durch, mit Erfolg: Sie setzte sich vorbehaltlos für Fraktionschef Ignazio Cassis ein, ihren Sitznachbarn im Nationalratssal. Im Hintergrund führte sie zahllose Gespräche mit Kollegen über Szenarien, Chancen und Intrigen. Geschickt stellte sie das Ticket der offiziellen FDP-Bundesratskandidaturen so zusammen, dass sich die Cassis-Gegner auf zwei Mitbewerber mit je eigenen wahlpolitischen Handicaps, Pierre Maudet und Isabelle Moret, verzetteln mussten. Am Ende konnte Gössi das Ergebnis von Cassis’ Wahl auf zwei Stimmen genau antizipieren.

Noch immer überquillt Cassis von Begeisterung, sobald er Gössi begegnet, so noch während der Sommersession beim Fraktionsausflug auf dem Vierwaldstättersee. Im Gespräch mit dem Reporter der Republik lobte er sie überschwänglich: «Die beste Präsidentin der Welt!» Dann verriet der gut gelaunte Aussenminister, Gössi und er hätten sich als Sitznachbarn im Nationalrat laufend ausgetauscht und sich, wenn die Ratsdebatten mal wieder deprimierend verlaufen seien, gegenseitig moralisch wieder aufgerichtet.

Petra Gössi tauscht sich mit Cassis auch nach seiner Wahl zum Bundesrat oft und gerne aus. Sie unterstützt seine Politik, wo sie kann. Wie genau? Vorne hinzustehen und den Fraktionskollegen zu sagen, wo es langgeht, sei nicht erfolgversprechend, sagt sie: «Wer beim Freisinn so vorgeht, bewirkt das Gegenteil.» Setzt sie hingegen eine Arbeitsgruppe ein, wählt sie deren Mitglieder stillschweigend so aus, dass sie das gewünschte Ziel erreicht.

So ging sie auch bei der Arbeitsgruppe Europapolitik vor. Während Monaten beriet sie sich in der von ihr selber präsidierten Arbeitsgruppe mit Wissenschaftlern, Beamten und Diplomaten detailliert über die Zukunft der Bilateralen, besonders über die roten Linien für das Rahmenabkommen. Der Bericht der Arbeitsgruppe diente der Fraktion bei ihrem Europaseminar im Februar als Diskussionsgrundlage. Und die Folgerungen der Fraktion lagen in groben Zügen wiederum der Delegiertenversammlung im Juni in Airolo vor. Kurz, Cassis wusste durchaus den Parteiapparat hinter sich, als er seine provokativen Spitzen gegen die Gewerkschafter lancierte.

Nun ist Gössi aber im Dilemma. Will sie den Bilateralen die in den Räten nötigen Mehrheiten sichern, muss sie mit der SP und der CVP eng zusammenarbeiten. Ganz wie dies etwa Karin Keller-Sutter beim AHV-Deal im Ständerat mit Konrad Graber (CVP), Paul Rechsteiner (SP) und andern Ratskollegen getan hat. Zwar bezeichnete Gössi noch Anfang Jahr die SP bei den Bilateralen als «natürliche Verbündete» der FDP. «Ja», sagt sie dazu heute, «das gilt grundsätzlich weiter, doch geht es nicht um Bündnisse, sondern um Mehrheiten für die Bilateralen.» So gesehen, ist das gegenwärtige Schwingfest in Bundesbern für die FDP ein Spiel mit dem Feuer.

Freilich sind ihre strategischen Herausforderungen weit umfassender. Allzu viele Menschen haben das Vertrauen in den Liberalismus verloren und sehnen sich nach autoritären Gegenmitteln, nicht nur im Ausland. Was hat das für die Schweiz und gerade für die Partei zu bedeuten, die den liberalen Bundesstaat 1848 gegründet hat und seitdem – Weltrekord – ununterbrochen Regierungspartei geblieben ist? Noch hat die FDP nicht begonnen, das Problem zu verstehen, geschweige denn, es zu lösen.

Will der politische Liberalismus eine Zukunft haben, muss er das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen – in diesen Zeiten eine Herkulesaufgabe. Fühlen sich, nach Petra Gössis Worten, immer mehr Menschen als Verlierer der Globalisierung, so wird sich der Freisinn neu erfinden und, zum Beispiel, die drohende Aufweichung des Lohnschutzes durch aus dem EU-Raum entsandte Arbeitnehmende richtig ernst nehmen müssen.

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