Menschen zwischen den Gesetzen

Harsche Briefe und der Entzug des legalen Status: Das Migrationsamt setzt Eritreerinnen unter Druck. Hilfe erhalten sie von einem Landsmann – via Facebook-Posts und Video-Streams.

Von Benjamin von Wyl (Text) und Evan Ruetsch (Bilder), 12.07.2018

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Falls hier noch jemand lebt, dann nicht mehr lange. Negasi Sereke betritt eine Wohnung, die nach Auszug aussieht. Die Stühle auf dem Tisch, der Kinderwagen steht auf der Kommode, nichts liegt rum, die Böden sind besenrein. Im ersten Moment dachte der Eritreer, die Bewohnerin habe schon jetzt für ihre Ausschaffung gepackt.

Sereke ist hergekommen, weil er gerufen wurde. Fast täglich streamt der 39-Jährige Live-Videos auf Facebook und erreicht damit Zehntausende in der eritreischen Diaspora. Zu seinen Facebook-Freundinnen gehört auch Birhin Tekleweini, die Frau, die in dieser Wohnung in Olten lebt. Noch hier lebt. Birhin Tekleweini und ihre Tochter müssen das Land verlassen. So steht es in einem Brief des Migrationsamts. Für die Behörden ist Tekleweinis Ausreise beschlossene Sache. Das will sie nun Serekes Facebook-Publikum erzählen.

Sereke sitzt auf dem Sofa, die Frau setzt sich zu ihm. Ihr kommen die Tränen. Sie lässt sich interviewen, weil sie es wichtig findet. Nicht weil sie unbedingt will. Tekleweini ist eine schüchterne Frau, spricht weder Deutsch noch Englisch. Als Sereke ihr seine Fragen gestellt hat, hält er einen eindringlichen Monolog, wird schneller und schneller, zwei Minuten lang.

Dann ist die Handy-Kamera aus und Sereke still. Jetzt ist er nicht mehr der Machertyp und Vielredner wie sonst, wenn er innert Minutenfrist vier Facebook-Calls annimmt, schnell redet und den Anrufern erklärt, was sie tun sollen. Mal sucht jemand seinen Bruder, der vor Jahren in einem eritreischen Gefängnis verschollen ist, mal will jemand den Treffpunkt für die nächste Demonstration erfahren. Sereke sagt jetzt leise: «Ich verstehe das Asylsystem einfach nicht.» Weil der Asylantrag dieser Frau abgelehnt worden ist? «Nein, allgemein.»

Heute Regimegegner, früher Polizist

Frühling 2018, drei Monate zuvor, zu Hause bei der Familie Sereke. Sereke fläzt sich auf das Sofa in seinem Wohnzimmer. «Bevor ich mit der Kritik beginne, möchte ich der Schweiz danken», sagt er. Er lobt das Sozialsystem, die Massnahmen zur Arbeitsintegration, bedankt sich dafür, dass seine Kinder zur Schule gehen können und er – mit einer ständigen Aufenthaltsbewilligung – hier angstfrei leben darf. Ja, sogar auf die Schweizer Justiz könne er zählen: Schon zweimal seien Internet-Trolle verzeigt worden, weil sie ihn bedroht und ihm Hassnachrichten geschickt hätten.

Dann wechselt Sereke den Ton: Es laufe aber der Menschenrechts-Charta zuwider, dass die Schweiz nicht alle Eritreer als Flüchtlinge anerkenne. Insbesondere für Leute, die sich öffentlich gegen das Regime in Asmara stellen, sei eine Rückkehr ins ostafrikanische Land absolut unmöglich.

Sereke ist noch nicht lange auf Facebook. Aber er hat bereits über 4000 Facebook-Freundinnen, bald erreicht er die Maximalzahl von 5000 Freunden. Für ein paar Momente hat er die Internet-Verbindung auf seinem Handy ausgeschaltet, ein ruhiges Gespräch ohne Unterbruch wäre sonst nicht möglich gewesen. Als er das Netz wieder einschaltet, sieht er, dass sich vierzig Menschen mit ihm verbinden wollen. Regelmässig löscht er eritreische Verbindungen. Er braucht Platz für Schweizer – aus ganz pragmatischen Gründen. Denn sie können die Asylpolitik verändern.

Serekes Popularität in der eritreischen Diaspora ist älter als sein Facebook-Profil. Seit zehn Jahren ist der 39-Jährige in der Schweiz – und engagiert sich gegen das Regime in seiner Heimat. Er organisiert Demonstrationen und ist auf Paltalk vernetzt, einem bei Eritreern beliebten sozialen Netzwerk. Und seine Vergangenheit sorgt dafür, dass ihm viele zuhören.

In Eritrea war Negasi Sereke Polizist. Er kannte das Regime von innen. «Ich habe erlebt, wie der Diktator das Land kontrolliert. Keine Verfassung, keine Menschenrechte, keine Meinungsfreiheit. Eritrea ist unter der Kontrolle der Geheimdienste.» Nach sieben Jahren als Polizist wollte man auch ihn zum Militär-Geheimdienst versetzen. Das konnte er nicht mit sich vereinbaren. Er floh.

Sereke wollte nie Polizist werden. Die Entscheidung fällten andere für ihn. Ebenso wenig konnte er seine Versetzung zum Geheimdienst beeinflussen. Beides war Teil des Nationaldienstes, der Open-End-Zwangsarbeit, die jeder und jede leisten muss. Warum wurde gerade er in den Geheimdienst geholt? Sereke erklärt es sich mit seinen Sprachkenntnissen: Er spricht Tigrinya, Tigre und Arabisch – ideale Voraussetzungen für einen Spitzel.

Ex-Polizist, Kritiker, Aufklärer: der Eritreer Negasi Sereke.

Seit Jahren teilt Sereke seine Erfahrungen als Polizist mit oppositionellen Diaspora-Medien und redet gegen das Regime an. Mittlerweile auch auf seinem Facebook-Profil. Negasi Sereke ist ein oppositioneller Influencer im Exil. Seine Wut gilt den Zuständen in Eritrea, aber seit die Schweiz findet, dass für Eritreer eine Rückkehr möglich ist, kritisiert er vor allem das Land, das ihn aufgenommen hat.

Offizielle Drohbriefe

Am Anfang stand ein Brief, den das Staatssekretariat für Migration (SEM) diesen Frühling verschickte. «Aufhebung der vorläufigen Aufnahme: Rechtliches Gehör», hiess es darin. Und weiter: «Das SEM beabsichtigt deshalb, Ihre vorläufige Aufnahme aufzuheben und den Vollzug der Wegweisung anzuordnen.» Das klang eindeutig. Als die ersten Eritreerinnen diesen Brief erhielten, bekam Sereke verängstigte Anrufe. Was tun? Sereke informierte einen Journalisten vom Fernsehen.

«Wende in der Asylpolitik: Sommaruga will Tausende Eritreer zurückschicken» – Die Nachricht der «Rundschau» verbreitete sich ab Anfang April durch alle Medien. Bis zu 3200 Eritreer sollten ihren Status als vorläufig Aufgenommene verlieren und ausgewiesen werden.

«Ein Paradigmenwechsel, ein Meilenstein», begeisterte sich CVP-Präsident Gerhard Pfister. FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen sagte, die Schweiz müsse sich stärker bemühen, Ausschaffungen nach Eritrea zu ermöglichen. Freude herrschte. In der eritreischen Diaspora aber machte sich Angst breit. Wer nach Italien ausgeschafft wurde, fürchtete jetzt, in ein Flugzeug Richtung Afrika gesteckt zu werden. Gerüchte machten die Runde, dass Asylsuchende scharenweise untertauchen würden.

Negasi Sereke weiss, dass die Schweiz niemanden nach Eritrea ausschaffen kann. Die Diktatur am Horn von Afrika weigert sich, zurückzunehmen, wer nicht freiwillig kommt. Die Empfängerinnen dieses Briefs werden also nicht nach Eritrea, sondern schlimmstenfalls in die Nothilfe abgeschoben. Das erklärt Sereke auch in einem Aufklärungsvideo auf Facebook, das er nur wenige Tage nach den Schreckensmeldungen streamt. Es wird Hunderte Male geteilt. Es ändert wenig an der Stimmung in der eritreischen Diaspora.

Sereke will weiter aufklären. Aber in ihm schwelt Wut. Zwei Wochen später kündigt er in einem Facebook-Video eine Demonstration an: am 18. Mai auf dem Bundesplatz in Bern. Kommt alle – wirklich alle –, auch die, die illegal in der Schweiz sind. Das Video wird über 50’000 Mal angesehen.

Erzählen, hoffen, bangen: Die Eritreerin Birhin Tekleweini erzählt Sereke ihre Geschichte.

«Wir sind Flüchtlinge, keine Wirtschaftsflüchtlinge!», rufen die Demonstranten Mitte Mai auf dem Bundesplatz. Gekommen sind zwischen 1500 und 4000 Eritreer – je nach Quelle. Ein engagierter Pfarrer, Aktivistinnen, Vertreter eritreischer Exilparteien halten Reden. Die Anlage ist zu schwach, dass alle hören könnten, was gesagt wird. Ein paar Leute halten die Lautsprecher in die Höhe, damit man doch etwas davon mitbekommt. Hinter den Rednern drehen die Cars Runden, die die Teilnehmerinnen zur Kundgebung gebracht haben, einige Chauffeure recken die Faust zum Gruss. Viele eritreische Flaggen, eine Jura-Flagge, eine Schweizer Flagge. Die Medien berichten, linke Politiker kritisieren die Asylpolitik, SVP-Nationalrätin Natalie Rickli filmt aus dem Bundeshaus und streut Häme auf Twitter.

Live auf Facebook bei der Migrationsbehörde

Ende Juni, Wabern bei Bern. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) passt architektonisch zum Gewerbegebiet, an das es grenzt. Auf dem Vorplatz warten Menschen alleine, zu zweit oder mit Kindern. Viele rauchen, sie warten eine Stunde oder länger. Niemand spricht.

Anders beim Hintereingang des Gebäudes. Dort ist die Stimmung herzlich. Es endet gerade ein privater Gesprächsanlass zwischen Vertretern der Diaspora, Staatssekretär Mario Gattiker und weiteren SEM-Mitarbeitenden. Auch Negasi Sereke ist dabei. Zum Treffen geladen hat das SEM. In der Einladung an die Diaspora-Vertretung schrieb es: «Die Medienberichterstattung über diese Überprüfung hat innerhalb der eritreischen Diaspora viel Verunsicherung ausgelöst. Staatssekretär Mario Gattiker ist es ein Anliegen, die offenen Fragen im direkten Austausch zu klären.» Als das Treffen offiziell vorbei und Gattiker schon weg ist, schwatzen eritreische Autoren, Sportlerinnen und Oppositionelle, SEM-Mitarbeiter, Schweizer Aktivistinnen und Wissenschaftler zu zweit oder in Gruppen.

Vor zehn Jahren war Sereke der Migrationsbehörde Red und Antwort gestanden, «das Interview» beim SEM entscheidet über Gedeih und Verderb eines Asylgesuchs. Heute ist er wieder da, doch heute stellt er die Fragen. Sereke wäre nicht Sereke, würde er nicht auch seine Facebook-Community live ins Staatssekretariat für Migration holen. In einem Live-Video befragt er einen SEM-Sprecher für seine Community.

Tausende Eritreer würden überprüft, hatte es vor drei Monaten im Brief der Behörden geheissen. «Das SEM beabsichtigt deshalb, Ihre vorläufige Aufnahme aufzuheben und den Vollzug der Wegweisung anzuordnen», stand dort. Nun sprechen die SEM-Mitarbeiter zu Serekes Zuschauerschaft: Bisher seien erst 200 Leute überprüft worden. Aber es sei korrekt, dass bis zu 3200 Überprüfungen geplant seien. Bis zu 3200 Menschen könnten theoretisch ihren Aufenthaltsstatus verlieren und nach Eritrea ausgeschafft werden.

Und doch tönt das, was der SEM-Sprecher jetzt sagt, weniger alarmierend: «Unsere Erfahrung sagt, dass etwa drei bis vier Prozent aller geprüften vorläufigen Aufnahmen aufgehoben werden können.» Die allermeisten Betroffenen werden also bleiben dürfen. Zwischen 100 und 130 könnten ihre Bewilligung verlieren.

Beim Treffen wird auch klar: Die Migrationsbehörde verschickt solche Briefe seit Jahren, immer in diesem harschen Ton, an Menschen aus Westafrika, Sri Lanka oder dem Balkan. Neu ist nur, dass auch Eritreer ein solches Drohschreiben erhalten.

Der Brief, der so viel Verunsicherung und Gerüchte auslöste, der Politikerinnen von einem «Paradigmenwechsel» sprechen liess, der Sereke so wütend machte und die Eritreer auf den Bundesplatz trieb, der Brief, der letztlich Anlass für dieses Treffen war, wird am Ende viel weniger Folgen haben, als Sereke vor drei Monaten gefürchtet hat.

Trotzdem: Er will wissen, was mit den 100 bis 130 Menschen geschieht, die ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren könnten. «Sie müssen die Schweiz verlassen», erklärt der SEM-Sprecher. Und wenn sie das nicht können? «Dann hat diese Person in der Schweiz keinen legalen Status, sondern ist eine Person zwischen den Gesetzen.»

Nothilfe, Notunterkunft, Arbeitsverbot: Birhin Tekleweini hat ihren legalen Status verloren.

Birhin Tekleweini ist so jemand. Sie ist eine «Person zwischen den Gesetzen». Als Tekleweini in die Schweiz kam, war sie im sechsten Monat schwanger. Ihre Tochter ist mittlerweile zweieinhalb Jahre alt. Der Asylantrag der beiden wurde abgelehnt, ihr Rekurs beim SEM ebenfalls, vor dem Bundesverwaltungsgericht ist sie aufgelaufen. Kein Schutz, keine Chance. In Tekleweinis Urteil steht, das Gericht gehe bei unverheirateten Müttern grundsätzlich davon aus, dass sie in Eritrea vom Nationaldienst befreit seien. Deshalb sei eine Rückkehr zumutbar.

Nicht alle Eritreerinnen und Eritreer, die in der Schweiz Asyl beantragen, können hier bleiben. 77,7 Prozent der 2017 abgeschlossenen Verfahren endeten mit einer Bewilligung. Aber 10 bis 15 Prozent, die Zahl nannte das SEM gegenüber Sereke, müssen das Land verlassen.

Die Asylgesuche von Menschen aus Eritrea nehmen seit Jahren ab; der Anteil der Ablehnungen nimmt zu. Vor allem seit das Bundesverwaltungsgericht im Sommer 2017 in einem Leiturteil entschied, dass eine Rückkehr zumutbar sei, weil nicht allen der Nationaldienst drohe. Gleichzeitig dauern die Menschenrechtsverletzungen in Eritrea an: «Gefängnisstrafen werden willkürlich und zum Teil aussergerichtlich verhängt, und es gibt gewichtige Hinweise auf prekäre Bedingungen in den Haftanstalten.» Die Sätze stammen nicht von Amnesty International, sondern aus dem Leiturteil des Bundesverwaltungsgericht im August 2017.

Negasi Sereke schildert dem SEM-Sprecher die Situation von Birhin Tekleweini. Was soll sie tun, fragt er ihn. Sereke lächelt kurz, vielleicht eine halbe Sekunde lang. Es lockt den Befragten nicht aus der Komfortzone: «Schwierig. Ich kenne den Fall nicht.» Und selbst wenn, dürfe er dazu nichts sagen.

Zum Abschluss des Treffens gibts ein Gruppenfoto: Die Diaspora-Vertreter lächeln, die SEM-Mitarbeitenden lächeln. Weitere Treffen sind geplant.

Keine Umgebung für ein kleines Kind

Am Tag danach sitzt Birhin Tekleweini auf ihrem Sofa und erzählt Serekes Facebook-Publikum ihre Geschichte: Sie sei in Eritrea Läuferin gewesen. Sie habe die Anweisung bekommen, ihre Sachen für einen Wettkampf an der sudanesischen Grenze zu packen. Dann sei sie verhaftet worden: Fluchtverdacht.

Im Gefängnis habe man sie tagsüber – gefesselt und geknebelt – in die brütende Sonne gebracht, dann wurde sie mit Wasser abgespritzt, sodass sie die Nächte in nasser Kleidung verbringen musste. Nur weil sich ihre Mutter und ihr Trainer für sie einsetzten, sei sie freigekommen. Aber fortan sei sie intensiv überwacht worden. Darum sei sie geflohen.

Die Schweizer Behörden glaubten ihr diese Geschichte nicht: Die Orte, die sie im einen Interview nannte, seien nicht identisch mit denen, die sie in einem anderen Interview genannt hatte. Tekleweini sagt, sie sei hochschwanger gewesen, gestresst, verwirrt – deshalb die falschen Angaben.

«Ihre Mandantin und deren Kind müssen die Schweiz bis am 4. Juli 2018 verlassen», heisst es im Brief, den Birhin Tekleweini erhalten hat. Sie sagt zwar, sie gehe nicht. Aber sie glaubt dem Satz, der da steht. Sie glaubt, dass an jenem Tag die Polizei vor ihrer Wohnung stehen und sie und ihre Tochter in ein Flugzeug stecken wird. So wie es sich wohl viele Empfänger des Briefs mit dem Betreff «Aufhebung der vorläufigen Aufnahme» ebenfalls vorstellten.

Dabei wird die Schweiz nur jene Eritreer los, die freiwillig gehen. Das ist mit ein Grund für die Behörden-Briefe in drohendem Ton: Es ist eine Wette darauf, dass die Leute aufgeben und gehen. Dass sie resignieren. Diese Wette beginnt bereits im Asylverfahren und erreicht mit dem Brief, den Tekleweini erhalten hat, eine andere Härte. Bleibt sie in der Schweiz, landet sie in der Nothilfe, lebt von wenigen Franken am Tag, in einer Notunterkunft, mit Arbeitsverbot, kontrolliert von Betreuern, die nach eigenem Ermessen Sanktionen aussprechen. Das ist das Leben «zwischen den Gesetzen».

Blitzblank: Die junge Mutter muss die Wohnung verlassen und mit ihrer zweijährigen Tochter in eine Notunterkunft ziehen.

Dann kommt der 4. Juli, der Tag, an dem Tekleweini gehen muss. Die Stühle stehen noch immer auf dem Tisch. Sereke ist zurückgekommen. Nur für den Fall, dass wirklich was passiert. Tekleweini sitzt verheult auf dem Sofa. Ihre Tochter lacht, reisst Papiertaschentücher aus der Verpackung, zerknüllt sie und verteilt sie auf dem Boden der blitzblanken Wohnung.

Tekleweini hat einen neuen Brief erhalten. Sereke erklärt ihr den Inhalt: Jetzt ist es der 12. Juli, an dem Mutter und Kind das Land verlassen müssen. Im neuen Brief steht auch, dass die Wohnkosten ab diesem Tag nicht mehr bezahlt werden. Danach läuft Sereke im Raum auf und ab und regt sich ausgerechnet über das auf, was Tekleweini bald verliert: ihre Wohnung. Weil sie der Suchthilfe gehört, weil sie von den Oltner Behörden hier untergebracht wurde, weil die Alkohol- und Drogenabhängigen abends oft laut sind, weil dies keine Umgebung für ein kleines Kind ist.

Die Schweiz wird Tekleweini nicht verlassen, wohl aber die Wohnung. Sie wird in eine Notunterkunft umziehen müssen. Auch keine Umgebung für ein kleines Kind.

Zum Autor

Benjamin von Wyl, geboren 1990, ist Journalist und Autor. Regelmässig schreibt er unter anderem für «WOZ», «Swissinfo», «Medienwoche» und die «bz Basel». Einmal pro Monat verbringt er für die «Tour de Kaff» im «AAKU» einen Tag in einem kleinen Aargauer Dorf. 2017 ist sein Debütroman «Land ganz nah» bei Lectorbooks erschienen. Die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich prämierte das Buch 2018 mit einem Anerkennungsbeitrag. Benjamin von Wyl hat für die Republik bereits über den rumänischen Politiker Liviu Dragnea geschrieben.

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