Merkel. Machos. Und die Macht

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bewies letzte Woche, dass sie die begabteste Killerin von Testosteronpolitikern ist. Ist sie die Versicherung gegen die Populisten Europas?

Von Constantin Seibt (Text) und Andrea Ventura (Illustration), 09.07.2018

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Der letzte Montag begann mit der Frage, ob die Machtstruktur von Europa in die Luft fliegt. Heute, eine Woche später, ist alles schon vergessen.

Die Ereignisse im Zeitraffer:

Die Sitzung der bayrischen CSU begann am Sonntagnachmittag vor einer Woche. Ihr Verlauf zog sich bis in die frühen Morgenstunden des Montags und schockierte den halben Kontinent. Der CSU-Parteichef Horst Seehofer drohte, wegen der Flüchtlingspolitik die Partnerschaft mit der CDU zu kündigen. Und die Regierung zu sprengen. Und damit die Kanzlerschaft der mächtigsten Frau Europas zu beenden: Angela Merkel.

Seehofers Worte schienen endgültig. «Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten», hatte er bereits zwei Wochen zuvor gesagt. Und seiner Chefin ein Ultimatum gestellt: Sie habe in Brüssel etwas «Wirkungsgleiches» zu Seehofers Idee zu verhandeln: eine sofortige Zurückweisung von bereits registrierten Flüchtlingen an der bayrischen Grenze. Ansonsten werde er als Innenminister diese Massnahme im Alleingang befehlen. «Es geht auch um die Glaubwürdigkeit eines Vorsitzenden.»

Merkel schwieg und machte sich an die Arbeit. Sie verhandelte im EU-Rat ein komplexes Papier, das auf den ersten Blick die Flüchtlingspolitik klar verschärfte, auf den zweiten Blick jedoch unklar blieb: Zwar gab es neu die Möglichkeit von Auffanglagern – und von sofortigen Rücknahmen durch andere EU-Länder. Letzteres allerdings nur auf freiwilliger Basis. Und Ersteres war im Prinzip ein altes, bereits 2015 gescheitertes Konzept: Nur dass die Auffanglager damals «Hot Spots» genannt wurden.

Kurz: Sie erreichte weit mehr, als fast alle Beobachter erwartet hatten – das perfekte Gesichtswahrungspapier. Merkel sagte mit einem für sie seltenen Pathos: «Ich bin einigermassen zufrieden.»

Doch die CSU-Chefs Markus Söder, Alexander Dobrindt und Seehofer tobten. Die Sitzung zog sich endlos hin. Kurz vor Mitternacht hörte man, dass Seehofer beschlossen habe, aus Protest gegen Merkel als Innenminister und Parteichef zurückzutreten. Dann, um vier Uhr morgens, trat Seehofer vom Rücktritt zurück. Er gebe Angela Merkel noch einmal drei Tage: Dann trete er zurück.

In der gleichen Nacht gab Seehofer ein Interview, in dem er sagte, er befinde sich in einer «unmöglichen Situation»: «Die Person, der ich in den Sattel verholfen habe, wirft mich raus.» Das war ein Fehler. Denn damit war der deutschen Presse klar, dass Seehofer den Bruch der Regierung nur aus einem Grund riskierte: Eitelkeit.

Nur sah niemand einen möglichen Kompromiss. Den ganzen Montag liefen Liveticker zum Ende der Regierung Merkel. Dann, gegen Abend, traf Seehofer die Kanzlerin und erschien etwas später mit einem 3-Punkte-Kompromiss. Er sagte, das Papier beweise, dass es sich lohne, «für seine Überzeugungen zu kämpfen». Und dass er jetzt Innenminister bleiben könne.

Angela Merkel gab lächelnd ein kurzes Statement ab, in dem sie sagte, dass man nach «langem Ringen» einen «guten Kompromiss» gefunden habe.

Die deutsche Kanzlerin erwies sich erneut als Zauberin beim Verkleinern von Problemen und der dazugehörigen Männer. Am Ende war die Bombe eine Tischbombe.

Nur war es verdammt knapp. Ein einziger Amok laufender Chef einer Regionalpartei hatte genügt, um die erfahrenste Frau Europas wackeln zu lassen. Und damit Europa.

Machos als Nachos

Eine der verblüffendsten Eigenschaften von Angela Merkel ist, dass sie die vielleicht begabteste Killerin von Testosteronpolitikern ist.

Horst Seehofer stand lange auf ihrer Liste. (Und sie auf seiner.) Seit Montagabend ist er politisch ein so gut wie toter Mann.

1. Deshalb, weil sich nach seinem gescheiterten Putsch eigentlich niemand fand, der seinen Rücktritt bedauert hätte. Der freundlichste Witz lautete noch: «Was unterscheidet den Bundesadler von einem gewöhnlichen Adler? Er braucht keinen Horst.»

2. Weil man, sobald man das 3-Punkte-Papier genauer las, darauf kam, dass Merkels Konzession exquisit vergiftet war: Die erwähnten «Transitzentren» machen nur dann Sinn, wenn der Populist Seehofer einen gleichartigen Populisten von der Rücknahme von ausgereisten Flüchtlingen überzeugen kann: den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Und dieser versprach der Presse: «Ich schliesse sicher keine Verträge zum Nachteil Österreichs ab!» (Kein Wunder, verlief dann das erste Treffen letzten Freitag wie erwartet: voller Sympathie und ohne Ergebnis.)

3. Weil Seehofer, sobald man nachrechnet, den Aufstand für ein lächerlich kleines Ziel riskiert hat: Er kämpfte um das Rückweisungsrecht an drei Grenzübergängen in Bayern – pro Jahr geht es um etwa 250 Fälle.

4. Weil Seehofer versucht hat, mit der Erpressung der Kanzlerin die AfD an Härte zu überholen. Am 14. Oktober sind in Bayern Wahlen. Und der CSU drohen brutale Verluste. Nun hat Seehofer mit seinem Lärm um Flüchtlinge und seinem stillen Rückzieher der AfD perfekte Wahlwerbung geliefert. Und Konservative mit Augenmass irritiert.

5. Nicht ohne Grund überredeten ihn in der Sonntagnacht die beiden anderen CSU-Chefs Markus Söder und Alexander Dobrindt zum Rücktritt vom Rücktritt. Nach der Wahlniederlage braucht die Partei ein Opfer. Und das will keinesfalls Söder heissen. Während der Parteichef gern Dobrindt heissen würde.

Kurz: Seehofer ist so gut wie gegessen.

Fragt man (oder frau), wie man auftrumpfende Herren erledigt, so besteht Angela Merkels Rezept aus einem Ozean an Geduld. Zu Beginn ihrer Machtübernahme in der CDU galt Merkel als keinen Gedanken wert. Sie war dreifache Aussenseiterin: Frau, Wissenschaftlerin, Ostdeutsche. Und tat lange nichts. Sie liess die ehrgeizigen Konkurrenten sich gegenseitig zerfleischen. Später, an der Macht, wartete sie weiter ab: bis ihre Gegner sich eines kühnen Tages selbst zerlegten.

Das Entscheidende ist Timing: Niemand hat ein perfekteres Gefühl dafür als sie. Als der in der Partei noch allmächtige Ex-Kanzler Helmut Kohl in einer Parteispendenaffäre versackte, tat sie, was seine zu Loyalität zurechtgebissenen Söhne nie gemacht hätten: Sie erklärte ihn öffentlich als untragbar. Kurz darauf sass sie auf seinem Stuhl. (Kohl nannte sie davor «mein Mädchen», danach «mein grösster Fehler» – aber da war es zu spät.)

Und als sie die Rache der Partei zu spüren bekam, bot sie dem Bayern Edmund Stoiber von sich aus die Kanzlerkandidatur an: Stoiber nahm die vergiftete Praline – und verlor. Und sie hatte freie Bahn.

Kein Wunder, schrieben Zeitungen nach der Wahl Trumps, dass Angela Merkel nun die Hoffnung für die Vernunft Europas, die führende Figur des freien Westens sei. Immerhin hat sie Erfahrung im Bändigen von unangenehmen Herren.

So ist Merkel die einzige Regierungschefin, die wöchentlich mit Wladimir Putin telefoniert. Das funktioniert, weil sie Russisch und er Deutsch spricht. Und weil Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands ist. Dabei macht sie sich keine Illusionen über Putin – seine in den ersten Jahren noch prodemokratischen Reden nannte sie trocken «typisches KGB-Geschwätz». Und erklärte seine aggressive Aussenpolitik einmal ebenso trocken: «Er ist ein Mann. Er hat weder politisch noch wirtschaftlich viel Erfolg. Männlichkeit ist das Einzige, was sie dort haben.»

Sie hält trotzdem den engen Kontakt, weil sie glaubt, dass es ein schwerer Fehler wäre, den Mann zu isolieren. Als er sie nach der Besetzung der Krim einmal anlog – was er sonst so gut wie nie tat –, liess sie in der nächsten Woche das Telefonat ausfallen. Die Bestürzung der Russen soll gross gewesen sein.

Mit solchen Erfahrungen scheint Merkel tatsächlich gewappnet als perfekte Kämpferin gegen das grösste Problem Europas: die immer zahlreicher gewählten Anhänger der illiberalen Demokratie. Nur: Sie ist das wahrscheinlich nicht.

Denn so sehr sie diesen Leuten misstraut: Die deutsche Kanzlerin ist den Autokraten näher verwandt, als erfreulich wäre. Denn ihre Politik ist halb Abwehr, halb Ursache der rechtsnationalen Erfolge.

Cool Chancellor

Angela Merkels zweitgrösstes Talent ist ihre Unlesbarkeit. Sie hat ein langes Training als Pastorentochter und theoretische Chemikerin in der DDR hinter sich: schweigen, beobachten, andeuten.

Nichts an ihr hat je den Kult der Authentizität akzeptiert, den so gut wie alle im Westen aufgewachsenen Jugendlichen mitbekommen. Sie hat nichts für Rebellion übrig, nichts für Auffälligkeit, nichts für Selbstdarstellung.

Privat ist sie – versichern alle – sehr lustig. Und ein fröhlicher Mensch. Öffentlich sieht man davon wenig: Sie hasst Reden. Sie versucht die eigenen so langweilig wie möglich zu halten – ihr Markenzeichen, die berühmte Raute, entwickelte sie, um die Hände am Rednerpult ruhig zu halten.

Ebenso hasst sie, Reden zu hören. Sie mochte Obama nicht, als ihn alle liebten – sein Pathos ging ihr auf die Nerven. Sie begann ihn erst zu schätzen, als er unbeliebt und müde wurde – seine stoische, nervenstarke Intelligenz imponierte ihr. Obamas Mitarbeiter sagten, dass die enge Freundschaft der beiden auf ihrer inneren Ähnlichkeit beruhte: Sie waren beide Profis. Ihre Treffen müssen beeindruckend gewesen sein – «wie zwei Auftragsmörder in einem Raum».

Kein Wunder, ist ihre Politik dezidiert technokratisch: Sie ist eine exzellente Interessenvertreterin. Gefragt, wofür Angela Merkel stehe, antworten laut dem «New Yorker» alle engeren Mitarbeiter dasselbe: «Sie brennt für die Freiheit – alles andere ist Verhandlungssache.» Und gefragt nach dem langfristigen Horizont, antworteten sie: «Langfristiger Horizont? Für die Kanzlerin sind das zwei Wochen.»

Ihre erfolgreichste Haltung dabei war ein strategischer Opportunismus: Sie kandidierte am Anfang als dezidierte Wirtschaftsliberale, aber als sie ihre erste Wahl fast verlor, dachte sie für immer um. Sie übernahm das Populärste ihrer Gegner – Kindergeld, Steuererleichterungen, Ehe für alle, Atomausstieg, egal was – und erdrückte damit den jeweiligen politischen Partner: Sowohl die FDP wie die SPD wurden an ihrer Seite erst blass. Und dann dünn.

Ihre Mitarbeiter streuten, dass die Chefin als Kanzlerin arbeite wie zuvor als theoretische Chemikerin. Sie rühmten ihre umfassende Neugier, die wissenschaftliche Methode, die Objektivität ihrer Analyse.

Kurz: Die Wähler wählten sie als knallharte, flexible Realistin. Und die Feuilletons veröffentlichten Essays über ihre uneitle Sachlichkeit. Und lobten sie – erst als erfreulich nüchterne Abwechslung im Mutterland des Kitsches, dann als neue deutsche Normalität, schliesslich als Kanzlerin von Cool Germany.

Lob ist ein langsam wirkendes Gift – auch bei uneitlen Menschen. Irgendwann erwischte es auch die skeptische Kanzlerin. Sie begann an ihr Image zu glauben. Und übersah, dass Kitsch in vielen Varianten möglich ist: etwa als Kitsch der Nüchternheit.

Merkels Fiktion

Politiker sind erstaunlich immun gegen den Vorwurf der Lüge. Das erklärt sich (mit Hannah Arendt) so, dass ihr Job nicht das Aussprechen von Wahrheit ist – sondern die Veränderung der Wirklichkeit. Und nichts verändert die Wirklichkeit so schnell wie eine Lüge.

Kein Wunder, bekommt ein Politiker fast nie Ärger mit seinen Anhängern, wenn er die Unwahrheit sagt: Er lügt dann nicht, er kämpft für die Sorte Wirklichkeit, die seine Wähler sehen wollen. Das Ziel der Politik ist nicht, recht zu haben, sondern recht zu bekommen.

Wie weit ein Politiker dabei gehen kann, weiss man seit Donald Trump – der selbst bei einfach nachprüfbaren Fakten lügt. Und mit jeder weiteren Lüge in der Republikanischen Partei mächtiger wird. Es ist ein erstaunlich effizienter Herrschaftsmechanismus, Tatsachen grundsätzlich als Meinungen zu behandeln – recht hat, wer stärker ist. Und es ist ein höchst effizienter Unterwerfungsmechanismus, wenn alle Parteifreunde offensichtliche Unwahrheiten als richtig verteidigen müssen – tun sie es, sind sie Komplizen. Widersprechen sie, kennt man seine Feinde.

Angela Merkel ist das Gegenteil von Donald Trump: Prahlerei, Übertreibungen, Beleidigungen sind nicht ihre Tasse Tee – die Kanzlerin hat eine obsessive Liebe zu akkuraten Informationen, Daten und vor allem Charts und Tabellen. Ihre bevorzugte politische Strategie ist: Sie verkleinert Probleme, bis sie sich auflösen.

So ist es nicht erstaunlich, läuft auch ihre bevorzugte Sorte der politischen Lüge in die Gegenrichtung – die undramatische Lüge.

Das 3-Punkte-Papier für den Amok laufenden Horst Seehofer ist fast schon ein Kleinod der Kunst, wie Merkel ernste Probleme in politisches Nichts verwandelt. Die Seehofer zugestandenen «Transitzentren» sind zum Ersten ohne die Zustimmung von Österreich komplett nutzlos. Sie sind überdies noch pure bürokratische Poesie: Da der Aufenthalt in einem Transitzentrum offiziell nicht als Betreten des Landes gilt, wird die Einreise einer realen Person «fiktive Einreise» genannt.

Die gesamte Seehofer-Merkel-Einigung ist pure Fiktion: Merkels Papier ist genauso wenig real wie Seehofers Problem; Merkels Presseerklärung, die Partei sei nun wieder vereint, ist genauso ein schwebendes Nichts wie Seehofers Behauptung, er habe sich in allen Punkten durchgesetzt.

Doch die Ergebnisse dieses Nichts sind wie durch Zauber real: Merkel bleibt Kanzlerin, der Aufstand ist vorbei, Seehofer ist ein angeschossenes Wrack.

Kohls Europavernichtungsmaschine

Merkels Misstrauen gegen Pathos und grosse Pläne, ihre Vorliebe für die bürokratische Verkleinerung von Problemen, ihre Sprache der Nüchternheit, ihre Strategie, im Zweifel nichts Grösseres passieren zu lassen, sind Tugenden im politischen Alltagsgeschäft. Sie werden Sünden, wenn das Problem gross ist, die Umstände ausserordentlich sind und die Lösung nicht durch Schritte herstellbar ist, sondern durch einen Sprung.

Merkels historischer Moment, wo sie nicht ein Problem, sondern ihre Kanzlerschaft schrumpfte, war die Finanz- und Eurokrise.

Der Euro war der Versuch ihres Vorgängers Helmut Kohl, ein europäisches Vermächtnis zu hinterlassen – und wie für alle grossen Denkmalpläne hatte Merkel dafür wenig Sympathie. Und sie lag richtig. Kohl hatte, zusammen mit den Franzosen, zwar etwas Gigantisches erschaffen: nur eben eine gigantische Höllenmaschine.

Paradoxerweise diente sie vor allem Angela Merkel. So wie auch die Hartz-IV-Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder, der einen riesigen Billiglohnsektor schuf. Denn Deutschland produzierte dadurch doppelt günstig: Erstens, weil die Löhne extrem tief lagen. Zweitens, weil in einem Exportland normalerweise die Währung härter wird. Und dadurch die Exporte teurer. Was die Exporte bremst – und durch die gestiegene Kaufkraft der Leute die Importe ankurbelt.

Der Euro jedoch blieb, wo er war.

Geschützt durch die gemeinsame Währung, produzierte Deutschland so irrsinnig fleissig billige Waren, dass es die Industrien in den anderen Euroländern plattmachte. Die deindustrialisierten Länder konzentrierten sich auf die mit Billiggeld geflutete Immobilienbranche und den Import.

Das funktionierte einige Jahre, weil die Staatsanleihen aller Länder der Eurozone als sicher galten – und die Banken kauften die Staatsanleihen der Euroländer wie wild. Und mit geliehenem Kapital. Dies deshalb: Weil der Zins auf Kapital nahe bei null war, wanderten die jährlichen Zinszahlungen der Staatsanleihen praktisch direkt in den Gewinn. Und das, weil Staatsanleihen als sicher galten, mit null Risiko.

Es war ein Riesengeschäft, das keinen Verstand brauchte – nur möglichst viel Staatsanleihen. Die deutschen und französischen Banken füllten sich bis zum Dach.

Dann brach 2008 nach der Bankenkrise in den USA das Karussell zusammen. Die erste Welle erwischte die Banken in Island, Irland, Spanien. Die zweite Welle die betreffenden Staaten und damit deren Staatsanleihen. Und damit zitterten auch praktisch alle deutschen und französischen Banken über Nacht am Rand der Pleite.

Die Europäische Zentralbank pumpte wie wild Geld in die irischen und spanischen Bankensysteme – und erlegte den Schuldnerländern brutale Rosskuren auf. Zur Disziplinierung und zum Wiedergewinnen von Vertrauen. Und gleichzeitig, um eine Panik zu verhindern. Und – ganz nebenbei – um die Papiere der deutschen und französischen Banken zu stabilisieren. Weil eine direkte Zahlung von Hunderten Milliarden an die eigenen Banken höchst unpopulär gewesen wäre.

Erst ein wenig später kam ein an sich unbedeutendes Land ins Visier des Verdachts: Griechenland. Das es mithilfe von Bilanzfälschungen durch Goldman Sachs und der damaligen Euphorie als letztes in die Eurozone geschafft hatte.

Griechenland war zwar ein wirtschaftlicher Klacks, aber ein gigantisches Klumpenrisiko für die Banken. EZB, Weltbank, IWF pumpten Gelder in das Land, die allerdings nie dort ankamen. Sie wurden zum Grossteil postwendend an die Banken der Gläubigerstaaten weitergeleitet. Halb zur Strafe, halb zur Tarnung wurden brutale Sparprogramme über das Land verhängt. Und diese wurden von Moralpredigten begleitet.

Das Problem bei der Austeritätspolitik war, dass sie für Laien komplett logisch klang, für Fachleute aber der komplette Irrsinn waren: In einer Familie oder einer Firma sind Sparprogramme in der Krise sinnvoll – bei Volkswirtschaften sind sie garantiertes Gift. Denn alles sinkt gleichzeitig: Löhne, Konsum, Investitionen, Moral, Produktivität.

Das Erstaunliche ist, dass es kein einziges positives Beispiel für das Funktionieren von Austerität gibt: Der staatliche Sparzwang durch den Goldstandard weitete die US-Börsenkrise von 1929 zu einer Weltkatastrophe aus, in Deutschland führte die strenge Spardisziplin des Sozialdemokraten Heinrich Brüning zu Hunger, Massenarbeitslosigkeit und der Wahl Hitlers (der mit Mehrausgaben die Wirtschaft wieder anspringen liess), die französische Armee brach 1940 auch deshalb so widerstandslos zusammen, weil die französische Zentralbank obsessiv sparte – noch mitten im Zusammenbruch schickte sie Telegramme, man solle das Budget nicht überschreiten.

Ebenso gibt es kein historisches Beispiel einer funktionierenden Währungsunion ohne politische Union und Ausgleichszahlungen zwischen den Regionen.

Kurz: Der Euro war in dieser Form ein Europavernichtungsprogramm.

Nur zählte das im einzigen Land nichts, das derart gross war (und von den Konstruktionsfehlern des Euro systematisch profitiert hatte), dass es noch handlungsfähig war: Deutschland.

Nie hätte Angela Merkel im Chemielabor auch nur annähernd so gepfuscht wie in der Eurokrise. Merkel beschwor die sparsame «schwäbische Hausfrau», ihr Finanzminister, der Jurist Wolfgang Schäuble, achtete auf die buchstabengetreue Durchsetzung der vollkommen willkürlichen Regeln, mit denen der Euro einst gestartet war. Und liess permanent neue dazuerfinden.

In den deutschen Zeitungen standen Schauermärchen über faule Griechen und Kolumnen von kranzbärtigen Professoren, die Strenge, Disziplin, Strafe und keinen Cent an Transferleistungen forderten.

Was Merkel nicht sagte. Und nicht tat:

1. Dass Deutschland im Euro massiv bevorteilt war – und als Billigland sinnlos drauflosproduziert hatte. Sinnlos, weil fast niemand davon profitierte: Die Nachbarländer wurden ruiniert – und die deutsche Bevölkerung sah kaum etwas von dem Boom. Kurz: dass in Deutschland die Löhne steigen müssen.

2. Dass die Nachbarn wie in jeder Währungszone Transferzahlungen brauchen. Weil sonst a) die Kunden pleitegehen und b) üble politische Folgen drohen.

3. Dass die deutschen Banken ein massives Problem haben – und nun, Teufel noch mal, finanziert werden müssen (statt das Geld über Griechenland zu waschen).

4. Dass Schuldnerstaaten zwar durchaus Reformen brauchen, aber auch einen Marshallplan.

5. Dass Griechenland bankrott ist – und man das Geld nicht wiedersehen wird. (Stattdessen verschob man die Laufzeiten auf bis 2050.)

6. Dass Sparen plus Export kein Patentrezept für eine funktionierende Weltwirtschaft ist: Denn angenommen, alle Länder erreichen einen Exportüberschuss – wer kauft dann? Der Mars?

7. Dass etwas nicht in Ordnung sein kann, wenn ein Zwerg wie Griechenland mit über 300 Milliarden Euro das teuerste Hilfsprogramm der Geschichte erhält – dabei aber mit 25 Prozent den härtesten Einbruch der Wirtschaft eines Lands in Friedenszeiten erleidet.

Nun, Angela Merkel, die nüchterne Analytikerin, sagte und tat nichts davon.

Die Spiele der Elite

Eine Erklärung bietet der einzige Spion, der je in die Nähe des merkelschen Universums kam – und es beschrieb: Yanis Varoufakis, der rebellische griechische Finanzminister.

Er beschreibt die gespenstischen Sitzungen der Eurozone. Wo Varoufakis versuchte, neue Vorschläge zur Umschuldung zu machen. Und kein Finanzminister der Eurozone sie überhaupt lesen wollte. Der deutsche Finanzminister Schäuble schon aus rechtlichen Gründen nicht, weil offiziell verteilte Vorschläge dem Parlament hätten vorgelegt werden müssen – die anderen Finanzminister nicht, weil nach den Regeln zuerst die Institutionen (EZB, Weltbank, IWF) sie sie hätten beurteilen müssen. Worum es stattdessen mitten in der Krise ging, waren zwei Dinge: Wortklaubereien im offiziellen Protokoll (etwa, ob «revidierte» Reformen oder «angepasste» Reformen) sowie für Griechenland das Unterschreiben einer Kapitulationsurkunde mit brutalen Lohn- und Rentenkürzungen, Massenentlassungen, massiver Steuererhöhung, Verkauf aller öffentlichen Einrichtungen und strenger Aufsicht der Politik durch Eurozone-Bürokraten.

Eine Urkunde, die eigentlich nur einen Zweck hatte: Schrecken unter sonstigen Schuldnern zu verbreiten. Und einen Zweck nicht: dass die Griechen die geringste Chance hatten, die Schulden zurückzuzahlen.

Dass Griechenland Pläne einbrachte, die eine wirtschaftliche Erholung und einen Stopp weiterer Schuldenaufnahme ermöglichten, dass die Berechnungsmodelle der Eurozone dilettantische Rechenfehler aufwiesen, half nichts. Auch nicht, dass einzelne Finanzminister (unter anderem Emmanuel Macron), die IWF-Ökonomen, die USA, deutsche Politiker die griechischen Pläne als sinnvoll erachteten. Sobald offiziell gesprochen wurde, war die Angst vor Deutschland und dem unerbittlich auf Regeln pochenden Finanzminister Schäuble viel zu gross.

In Varoufakis’ Buch «Die ganze Geschichte» wird eine persönlich oft gutwillige und intelligente, aber komplett gefesselte Elite beschrieben. Eine in Sitzungszimmer verbannte Elite, die das grosse bürokratische Spiel spielt: Es werden nur noch Formeln hin- und hergeschoben.

Sogar der mächtige Doktor Schäuble hatte Angst, als er (aus der Überzeugung heraus, dass die Eurozone zu gross war, um zu funktionieren) versuchte, die Griechen mit diversen Intrigen zum Austritt aus dem Euro zu bringen. Und dann von der Kanzlerin zurückgepfiffen wurde. Sie war in den Krisenjahren der einzige Mensch, der die Macht gehabt hätte, das teure, sinnlose Ritual zu durchbrechen.

Sie tat es nicht. Die Konferenz der Eurozone, ein Gremium, das nie gewählt worden war und nicht einmal eine rechtliche Form hat, bestimmte über das Schicksal von Millionen Europäern. Mit der Haltung eines Chirurgen, der stets die Beine amputiert, egal, was die Krankheit ist.

Am Ende drehte die Eurozonengruppe Griechenland das Geld für die Banken ab. Die griechische Bevölkerung sagte kurz darauf mit über 60 Prozent Nein zum Austeritätsprgramm – im Namen der Würde und trotz toter Bancomaten. Zwei Wochen später kapitulierte die linke Syriza-Regierung trotzdem.

Seitdem ist Ruhe. Das Land ist ohne Hoffnung, die Jugend wandert ab, die Zahlen werden frisiert, und die Syriza-Funktionäre sind seit der Kapitulation ein akzeptierter Teil der internationalen Konferenzelite.

Wir schaffen das!

Was wäre gewesen, wenn Angela Merkel keine bemerkenswerte, sondern eine grosse Kanzlerin gewesen wäre? Eine Frau, die nicht ausnahmslos jedes Problem kleingekocht hätte, sondern die das Grosse gross behandelte?

Was, wenn Deutschland einen Marshallplan für Europa entworfen hätte? Was, wenn Deutschland mit Frankreich eine Architektur für eine echte Bankenunion und einen in Teilen gemeinsamen europäischen Haushalt gebaut hätte?

Gut möglich, dass die Welt heute weit langweiliger wäre. Denn die Entscheidungen für oder gegen eine komplett andere Zukunft stehen auf Messers Schneide. Beim Brexit stimmten die Briten mit 52:48 für das Verlassen der EU, in den USA schlug Trump Clinton mit wenigen tausend Stimmen, in der Schweiz gewann die Masseneinwanderungsinitiative, die das Land drei Jahre lang lähmte, mit 50,3 Prozent.

Was wäre aus dem Kontinent mit einer Kanzlerin Merkel geworden, die nicht in jedem Fall prinzipiell auf Sicht gefahren wäre? Die in der Krise akzeptiert hätte, dass Deutschland die einzige übrig gebliebene Führungsmacht war? Und gehandelt hätte, statt eine Politik des Tun-als-ob durchzusetzen? Wahrscheinlich hätten sich die finanziellen Investitionen schnell rentiert – angesichts der rechtsnationalen Regierungen, des US-Handelskriegs, der Gereiztheit überall.

Nur – was wäre aus Frau Merkel geworden?

Ihre dramatischste Geste – im Herbst 2015 – war zwar ebenfalls ein Entscheid auf Sicht: Eines Abends um 20 Uhr musste sie im Auto zum Flughafen darüber nachdenken, ob sie die deutschen Grenzen für einen Flüchtlingstreck aus Ungarn öffnen würde. Man sprach von 7000 bis 8000 Flüchtlingen.

Sie fürchtete Tote, Verletzte, dazu üble Bilder – und wie Vertraute sagen: Die Frage appellierte auch an ihre einzige politische Leidenschaft: die Freiheit. So entschied sie sich um Mitternacht für die Öffnung der Grenze. (Der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer schlief gerade in seinem Waldhaus mit abgestelltem Handy – dass er nicht informiert wurde, befeuerte eine lange Feindschaft.)

Statt 8000 kamen bis zum Dezember unkontrolliert mehr als eine halbe Million Menschen ins Land. Dass diese Merkelbilder auf sich trugen, dass Merkel ihren leidenschaftlichsten Satz sagte («Wir schaffen das!») hat ihr enormen Hass eingebracht. Denn Merkel lieferte, was ihre Wähler von ihrer Regierung nie erwartet hätten: einen Kontrollverlust.

Seitdem bedrängt die AfD die CDU – eine Partei, deren Kern eine Merkel-muss-weg-Partei ist. Und die alles versammelt, was Merkel verabscheut. Radikalismus, geschlossene Grenzen, Lautstärke, wilde Behauptungen, Sehnsucht nach autoritären Herren und Regimen, schlechtes Benehmen. (Zu fast allen ihren Statements im Bundestag könnte man fragen: «Was sagt denn Ihre Mutter dazu, dass Sie so reden?»)

Die Reaktion von Merkel war die, die sie immer bei neuen Kräften anwandte: Sie übernahm ein wenig von deren Programm. Längst ist der Herbst 2015 kein Thema mehr für sie. Und die Grenzen um Europa werden auch durch ihre Arbeit systematisch geschlossen.

Kitsch der Nüchternheit vs. Kitsch der Härte

Keine Frage: Es liegen Welten zwischen den Ideen der Angela Merkel und denen ihrer rechtsnationalen Feinde. Eigentlich sogar: eine ganze Zivilisation.

Trotzdem bleibt: Angela Merkels Regierungsstil trägt ebenso Züge der illiberalen Demokratie. Zwar nicht in der autoritären Variante, aber in der milderen technokratischen.

Dass sie es geschafft hat, durch kluge, skrupellos opportunistische Politik praktisch alle herkömmlichen Konkurrenzparteien zu neutralisieren – das geht mehr auf das Konto der anderen Parteien. Und auch auf das Konto der wirtschaftlichen Umstände: Dadurch, dass die Eurokonstruktion Deutschland massiv bevorteilte, war ihre Politik der breit abgestützten Ruhe ein Erfolgsmodell.

Das Problem ist nur, dass das deutsche Exportweltmeistermodell ein kurzfristiges war: Weil die gesamte Konstruktion notwendigerweise früher oder später auf massive Unruhe bei den Nachbarländern hinauslief.

Ebenso ein Problem ist Merkels Verzicht auf eine klare, nicht bürokratische Rede: Als unbestrittene Regierungschefin hätte sie die Pflicht, ihre Entscheidungen zu erklären. Die Hauptbotschaft ihrer kompetenten Langeweile ist: Ich schaffe das.

Und definitiv meilenweit weg vom Liberalen sind der Aufbau und die Nutzung von und das Sichverstecken hinter bürokratischen Monstern wie der Eurozonen-Konferenz, die widersinnige Programme abspulen. Ohne Strategie. Ohne auch nur halbwegs demokratisch legitimierten Verantwortlichen. Und ohne jede Chance auf Kontrolle oder auch nur Einsicht für die Millionen Europäer, deren Schicksal in diesen Gremien entschieden wird.

Diese Sorte Geheimpolitik ist auch deshalb verhängnisvoll, weil in einer komplexen Welt multilaterale Monster nicht zu vermeiden sind. Die EU, bei all ihrer absurden Schwerfälligkeit, ist eine auf lange Sicht erstaunlich erfolgreiche Wurstelmaschine. Nur braucht sie wie alle Institutionen Vertrauen – weil jede Institution eine Abgabe von Souveränität bedeutet.

Wenig hat dieses Vertrauen so beschädigt wie die nackte Interessenpolitik der Gläubiger in der Eurokrise – in der Zeit, als im Chaos nur eine einzige Person hätte handeln können: Angela Merkel.

Das Problem Merkels ist, dass sie jedes Problem mit der gleichen Methode angeht – das macht aus ihrer breit verankerten Interessenpolitik zuweilen blinde Machtpolitik, aus ihrer Nüchternheit zuweilen Kitsch: unpolitisch und einschläfernd wie im Biedermeier.

Dieser prallt nun überall in Europa auf den lauten Kitsch der Härte.

Eigentlich ist der Aufstieg von offensichtlichen Rüpeln nicht unverständlich. Es ist kein Wunder, dass sich die Wähler in einer Welt der Verträge und Abhängigkeiten nach dem grossen Befreiungsschlag sehnen. Und in jedem Fremden eine Konkurrentin wittern. Und hoffen, dass einem Brutalität die Souveränität zurückgibt.

Auch mit der Kritik an der Elite haben die politischen Rüpel einen Punkt. Immer dann, wenn diese sich nicht wie eine Elite verhält.

Das Erschreckende daran ist, dass keine Umsicht, nicht einmal der geringste Spass, beim Zerstören dabei ist: Putin, Trump, Orban, aber auch kleinere Fusssoldaten wie Gauland haben keinerlei sichtbares Vergnügen, wenn sie Konventionen, Institutionen, Verträge oder ungeschriebene Regeln brechen. Das ist politökonomisch verständlich, denn sie brauchen keine präzisen Analysen, Ideen oder Lösungen. Sie müssen nur möglichst weitherum Gereiztheit verbreiten. Und das passiert am effizientesten durch Gereiztheit.

Nur, sobald sie an der Macht sind, sieht man, dass die verkörperten Vertreter des Volkes zur Elite statt der Elite werden wollen. Flüchtlinge sind nur am Anfang der Gegner. Dann folgt, wie in der österreichischen Regierung von Kurz mit der rechtsnationalen FPÖ, der Griff nach der Presse. Dann, wie in Polen, der Griff nach den Gerichten. Und schliesslich, wie in Ungarn, kommt noch die Wirtschaft dazu, die unter dem Stamm verteilt wird.

Dagegen sind Merkels diffuses Wir, ihr Verzicht auf Pathos, ihre unpolitische Politik, ihr Raubtierinstinkt gegen Raubtiere, ihr Regieren auf Sicht eine Erholung. Sie ist im Moment – und das war das Erschreckende beim Erschrecken über das mögliche Ende ihrer Kanzlerschaft – tatsächlich alternativlos.

Dass die Kanzlerin Angela am Ende das wurde, was sie vorher nur behauptete, ist das finsterste Zeichen für das Scheitern ihrer Politik.

Weil das Fehlen von Alternativen das Ende der Politik ist.

PS: Zur Beruhigung für alle Freunde geschlossener Grenzen: Die Zahlen der Einwanderung nach Europa nehmen seit Jahren steil ab. Nein, nicht wegen der verstärkten Kontrollen. Sondern weil Europa für ehrgeizige Leute, die eine Zukunft suchen, nicht mehr erste Wahl ist.

Debatte: Kann Angela Merkel Europa vor den Populisten retten?

Was denken Sie? Ist Merkel stark genug? Wie sollte sich ein konstruktiver Politiker, eine wirkungsvolle Politikerin heute positionieren? Wie geht man damit um, dass die Welt einerseits durch tausend Verträge, Interessen, Absicherungen gebaut ist, andererseits durch die Sehnsucht nach souveräner Autorität bedroht? Diskutieren Sie heute zwischen 9 und 14 Uhr mit Autor Constantin Seibt (mit einer mittellangen Abwesenheitspause während der Redaktionssitzung von 10.30 bis 12 Uhr). Hier gehts zur Debatte.

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